Nr. 234
Martin Luther, Andreas Karlstadt und weitere Universitätsdozenten an Kurfürst Friedrich III. von Sachsen
Wittenberg, 1522, 2. November

Einleitung
Bearbeitet von Alejandro Zorzin

1. Überlieferung

Handschrift:

[a:]LATh-HStA Weimar, Reg. O, Nr. 312, fol. 15r–16r;

18v (Ausfertigung; Text und Adresse von Schreiberhand, wohl vom Universitätsnotar Nikolaus Sybeth; alle Unterschriften eigenhändig, Karlstadts Unterschrift an vierter Stelle).

Der Ausfertigung samt Unterschriften auf fol. 15r–v folgt fol. 16r ein beigelegter Zettel. Die Briefadressierung auf fol. 18v wurde im Weimarer Konvolut nach der kfstl. Antwort eingeheftet und hat deshalb eine höhere Seitenzahl als die Briefinhaltsseiten. Unter der Briefadresse ein Dorsalvermerk von unbekannter Hand: »Licenciat Heinrich Stackmann ∣ in der Ertzney belangend«.

Editionen:

Literatur:

Beilage: Einträge in das Dekanatsbuch der Theologischen Fakultät (1522/23, Wintersemester)

Handschrift:

[a:]ULB Halle, Yo 12, fol. 34v
Editionen:

2. Entstehung und Inhalt

Die Petition einer Gruppe von Universitätsdozenten der Wittenberger Universität an den Kurfürsten ist datiert auf Sonntag nach dem Allerheiligenfest,1 den 2. November (Commemoratio animarum). Am Wittenberger Allerheiligenstift fand zwischen dem 31. Oktober und 3. November die alljährliche Feiertagszeit mit Reliquienausstellung statt.

Als terminus ante quem für den Empfang der Petition seitens des Kurfürsten steht der 5. November 1522 fest, an dem dieser den Vorschlag der Dozenten annahm und Heinrich Stackmann2 als Nachfolger für den ausscheidenden Stephan Wild3 bestätigte.4 Luther – dessen Unterschrift an erster Stelle der Unterzeichnendenliste steht5 – und Melanchthon scheinen die zügige Abfassung dieses Gesuchs aktiv vorangetrieben zu haben.6 In der Unterschriftenliste fehlt die vom Propst des Allerheiligenstifts, Justus Jonas, der nachweislich von Wittenberg abwesend war,7 und die von Johannes Bugenhagen. Universitätsrektor war Johannes Schwertfeger8; Karlstadt war im Wintersemester 1522/23 Dekan der theologischen Fakultät.9

Die in der Beilage edierten fünf autographen Einträge von Karlstadts Hand aus dem Dekanatsbuch der Theologischen Fakultät Wittenberg10 im Zeitraum 29. Oktober 1522 bis 3. Februar 1523 gehören in die Zeit kurz vor und nach dem von der Dozentengruppe unterzeichneten Brief an den Kurfürsten. Es handelt sich: 1. um die Aufnahme des Nikolaus Coci11 in die Matrikel bei gleichzeitiger Promotion zum Baccalaureus biblicus am Mittwoch, den 29. Oktober 1522; 2. um die Lizentiatspromotion des Johannes Westermann12 am Donnerstag, den 30. Oktober 1522; 3. um die Lizentiatspromotion des Gottschalk Crop13 am Freitag, den 28. November 1522; 4. um den Nachtrag der Lizentiatspromotion des Nikolaus Coci am Dienstag, den 18. November 1522; 5. um die Promotionen von Johannes Westermann und Gottschalk Crop zu Doktoren der Theologie am Dienstag, den 3. Februar 1523.

Diese Einträge geben Einsicht in Karlstadts Verwendung des Dekanatsbuches als Dokument, in dem er Spannungen und Divergenzen festhält, die sich im akademischen Raum und innerhalb der Fakultät abzeichneten. Während die ersten Notizen – neben dem üblichen Promotionsablauf – Vertretungsfragen und eine Uneinigkeit über die Zahlung von Gebühren anzeigen, ist der fünfte Eintrag der letzte, der von Karlstadt im Dekanatsbuch überhaupt vorgenommen wurde. Er ist zugleich Ausdruck einer theologischen und intellektuellen Entwicklung, die die Verleihung und das Führen akademischer Grade in Frage stellt.14 Karlstadt entschied sich, diese akademischen Riten nicht länger mitzutragen. Der erläuternde Kommentar Luthers zu Karlstadts Weigerung, fürderhin Promotionen vorzunehmen, gibt dessen in mündlicher Diskussion gegebene biblische Begründung der Entscheidung wieder und schließt sie als Blasphemie aus dem Wertekanon der Wittenberger Theologie aus. Der Eintrag fällt chronologisch zusammen mit der Sacharja-Vorlesung als seiner letzten akademischen Lehrtätigkeit15 und dem Verfassen der Schrift Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes als erster Arbeit, in der sich Karlstadt als Laientheologe inszeniert.16 Im Frühjahr 1523 schrieb Karlstadt den Traktat Was gesagt ist: Sich gelassen17 nieder, dessen längster Abschnitt »Hohe Schulen« überschrieben ist. Hier legt Karlstadt entscheidende Gründe gegen das Ehrprinzip der Promotionen und deren Gebührenzahlungen an Hochschulen nieder.


11522 fiel Allerheiligen (Omnium sanctorum) auf Sonnabend, den 1. November 1522.
2Zu ihm ausführlich WA.B 2, 612 Anm. 1 Nr. 544.
3Zu ihm Müller, Wittenberger Bewegung, 353–358 und KGK IV, Nr. 207, S. 694 Anm. 47.
4Vgl. die Antwort des Kurfürsten an die Dozenten, WA.B 2, 614 f. Nr. 547, hier 615,6–10: »Dieweyl jr dan jn solchem Euerm schreiben antzeigt, das benannter Licentiat geschigkt undd vleissig sey, Auch Doctor Steffans stat, wu derselbe abkeme, mit der lection unnd annderm zuverwesen genugsam, So lassen wir uns gefallen, das derselb von Euch dartzu angenomen unnd verordent werde […].«
5Zu erwarten wäre an erster Stelle die Unterschrift des Rektors, da es sich um ein Schriftstück des Rektorats handelt.
6Für Stackmann verwendet sich Melanchthon am 1./2. November in einem gesonderten Brief an Spalatin ( 1, 493 Nr. 238). Luther tat dasselbe in einem Brief an Spalatin vom 3. November 1522 (WA.B 2, 613 f. Nr. 546).
7Zu ihm vgl. MBW 12, 367 f. Als Propst oblag Jonas am Sonnabend, den 1. November der Gottesdienst zu Allerheiligen in der Wittenberger Stiftskirche. Seine Abwesenheit wird bestätigt durch Einträge Karlstadts im Dekanatsbuch der Theologischen Fakultät zur Promotion des Johannes Westermann am Freitag, den 31. Oktober: »D. feldkirchius praesedit in nomine prepositi [= Justus Jonas].« (KGK 234 (Textstelle)). Am 18. November war Jonas wieder in Wittenberg, wo er für Johannes Dölsch (aus Feldkirch) die Leitung einer Promotion übernahm; »praesidente D. preposito, pro feltkirchio (KGK 234 (Textstelle)). Vgl. auch Liber Decanorum, 27 f.
8Johann Schwertfeger (um 1488–10.5.1524); SoSe 1521 Promotion zum Doktor der Rechte, seit Juni 1521 Professor an der Wittenberger Juristischen Fakultät, trat am 8. April 1522 in den Senat der Universität ein; im WiSe 1522/23 ihr Rektor. Vgl. UUW 1, 118 Nr. 123; Friedensburg, Geschichte, 141 f.
10Siehe Beilage; vgl. Liber Decanorum (Faks.), fol. 34v; Liber Decanorum, 27.
11Von Nicolaus Koch (Coci), dem zum Studium in Wittenberg weilenden Augustinermönch, ist ein auf Montag, den 3. November 1522 datierter Brief an seinen Ordensgeneral Gabriele della Volta in Rom erhalten; vgl. Schneider, Zwei Briefe Schneider, Zwei Briefe, 13. Darin schreibt ihm Koch: »[…] nunc Wittenberge moram facio. Verum ubi in eam, que hic revixit, evangelicam introspexi doctrinam, nos videlicet non debere vocari magistri super terram [Mt 23,8], eas ambitiones seu potius abusus e mente fere extirpavi.« Diese Überzeugung bekräftigte Karlstadt später in einem Vermerk zu seinem letzten Promotionseintrag im Dekanatsbuch (3. Februar 1523); vgl. KGK 234 (Textstelle). Vgl. auch Liber Decanorum, 28; Liber Decanorum (Faks.), fol. 34v.
13Zu Gottschalk Grop (Crop, Kropp) vgl. Bünger/Wentz, Brandenburg, 498 und KGK IV, Nr. 199, S. 434 Anm. 4.
14Vgl. hierzu Karlstadts (eigenhändigen und unterstrichenen) Dekanatsbucheintrag am Ende seines Sommer-Dekanats 1521: »placeret iuramenta esse sublata, quia iuramentis nemo melior, ∣ plures fiant deteriores. Qui deum non reveretur. is nequaquam ∣ iusiurandum reverebitur. ergo faccesat.« (KGK IV, Nr. 199, S. 441; Liber Decanorum (Faks.), fol. 33r; Liber Decanorum, 26). Am 3. November 1522 hatte Nicolaus Koch seinem Ordensgeneral Gabriele della Volta in Rom berichtet, dass es in Wittenberg als unevangelisch gelte, sich als Magister auf Erden zu bezeichnen. S. o. KGK 234 (Anmerkung). Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass die Thematik der akademischen Promotionen und Verleihung von Titeln schon im Herbst 1522 als unevangelisch hinterfragt wurde.
15Wird ediert in KGK VI.
16Wird ediert in KGK VI.
17Die Widmung ist auf den 20. April 1523 datiert, der Druck erfolgte aber erst im Mai oder Juni des Jahres außerhalb Wittenbergs. Die Schrift wird in KGK VI ediert.

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