Nr. 235
34 Conclusiones: De natura spirituali et corporali
[[Wittenberg]], 1522, 28. November

Einleitung
Bearbeitet von Stefania Salvadori

1. Überlieferung

Handschrift:

[a:]SB-PK Berlin, Ms. theol. lat. oct. 91, fol. 67v–68v (zeitgenössische Abschrift unbekannter Hand)

Die Thesenreihe ist in der handschriftlichen Thesensammlung aus dem Besitz des Breslauer Reformators Johannes Hess überliefert.1

Edition:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Die hier edierten Thesen wurden von Gottschalk Grop/Crop2 am 28. November 1522 zur Lizenziatenpromotion unter dem Vorsitz Karlstadts disputiert,3 der im Wintersemester 1522/23 das Amt des Dekans der theologischen Fakultät innehatte.4 Grop hatte bereits am 17. Oktober 1521 Thesen aus den 138 Articuli (KGK IV, Nr. 199) für die Promotion zum Baccalaureus biblicus disputiert. Am 3. Februar 1523 wurde er zusammen mit Johannes Westermann zum Doktor der Theologie promoviert.5 Die hier edierten Thesen entwickeln Einblicke und Ansätze, die bereits in früheren Schriften ausgearbeitet wurden, die die postlapsarische menschliche Natur dem durch Gottes Gnade erneuerten geistlichen Menschen klar entgegensetzten.6 Zugleich klären die Thesen diesen Gegensatz im Sinne einer mystisch geprägten Beschreibung der religiösen Erfahrung, die in den Schriften des folgenden Frühjahrs 1523, Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes und Was gesagt ist: Sich gelassen (KGK VI), ihre vollständige Ausformulierung finden wird.

Die ersten sechs Thesen beschreiben die doppelte Natur des Menschen: die leibliche und die geistliche (corporalis und spiritualis). Die erste bezeichne das fleischliche, verdorbene und sündige Leben. Die zweite sei dagegen durch das direkte Wirken der göttlichen Gnade gekennzeichnet, die einen Prozess der täglichen und ständigen Erneuerung in Gang setze (Thesen 1–3). Der Gegensatz zwischen diesen beiden Naturen bestehe darin, dass mit fortschreitender Erneuerung des inneren, spirituellen Menschen seine äußere, fleischliche Natur zunehmend abgetötet und zum endgültigen Niedergang geführt werde (Thesen 4 f.). Wo Gott regiert, könne der verdorbene, postlapsarische Mensch nicht überleben (These 6). Dieser Gegensatz bildet sich in den folgenden vier Thesen in einer Gegenüberstellung zweier Genealogien ab: Der physische Mensch entstamme mit all seinen Eigenschaften und Fähigkeiten aus der durch die Sünde Adams geprägten postlapsarischen Natur. Der geistige Mensch sei hingegen durch die unveränderliche Macht und den Willen Gottes geschaffen und konstituiert (Thesen 7–10). Dadurch ist es in Karlstadts Augen dem leiblichen Menschen unmöglich, das Wesen Gottes zu verstehen und die Werke des Vaters in sein Herz eindringen zu lassen (Thesen 11 u. 13), wie es nur geistigen Menschen gelinge (Thesen 12 u. 14).

Die nächsten vier Thesen befassen sich mit dem Willen Gottes. Diesen zu verstehen bleibe der menschlichen Vernunft verborgen, denn der Vater bereite denen, die ihn lieben, andere Gaben als denen, die sich von ihm abgewandt haben (These 15). Selbst wenn er beiden die gleichen Gaben bereiten würde, bekämen diese Gaben in Abhängigkeit vom Empfänger eine andere Bedeutung, wie es das Kreuz Christi zeige, das bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Wirkungen auslöse (Thesen 16 f.). Gott bereite jedoch denen, die ihn lieben, außerordentliche Gaben (These 18). Die Thesen 19–23 beruhen auf Jes 10,21 f. und analog auf Röm 9,27 f. Über die Bösen werde Gottes Gerechtigkeit und Strafe unerbittlich hereinbrechen; ihnen stehe die Minderheit der zum Heil Bestimmten gegenüber.7 Obgleich Christus und damit die göttliche Wahrheit allen Menschen angeboten werde und sie erleuchte, wie die Sonne über alle Dinge strahlt,8 lehnten einige die Wahrheit ab, wie sie auch die Sonnenstrahlen verwerfen. Zwar ist Gott Herr über alle Dinge, aber nur wenige bekehren sich wirklich zu ihm und werden auf diese Weise gerechtfertigt, d. h. geheiligt. In diesen Thesen tauchen Anspielungen auf die Prädestinationslehre auf, die eine Kontinuität zu früheren Schriften aufweisen. Bereits seit 1518 vertrat Karlstadt die göttliche Vorherbestimmung,9 richtete sie aber auf seine Aufforderung zur Aufgabe des eigenen Willens und zur Gelassenheit aus.10 Auch in den von Grop disputierten Thesen ist nur eine Minderheit durch das Eingreifen der göttlichen Gnade zu Bekehrung und Heil bestimmt, doch führt dies nicht zu weiteren Überlegungen über das Wesen und die Wirkung der Vorherbestimmung Gottes.11 Vor dem Hintergrund der damaligen Wittenberger theologischen Debatte12 deutete Karlstadt auch hier die Prädestinationslehre als ein für die menschliche Vernunft unergründliches Geheimnis, das jedoch die Ansprüche des menschlichen Willens vernichte und dadurch die wahren Christen zur uneingeschränkten Hingabe an den Willen Gottes und mithin zur Gelassenheit führe.13

Der letzte Thesenblock befasst sich schließlich mit dem Verhältnis zwischen dem geistlichen Menschen und der göttlichen Wahrheit. Während die himmlischen Pläne für den irdischen Menschen unbegreiflich seien, dringe und wirke die Kraft des göttlichen Willens in die Herzen derer, die ihn lieben (Thesen 24 f.). Die dadurch entstehende Bekehrung und die geistliche Regeneration erfolge jedoch nicht plötzlich, als ob man eine vollständige und vollkommene Erkenntnis der göttlichen Wahrheit in einem Augenblick erlangen könne, sondern sei vielmehr ein gradueller und langfristiger Prozess (Thesen 26–29). Die geistliche Weisheit – nicht mit der menschlichen Gelehrsamkeit zu verwechseln – ermögliche es, alles zu beurteilen, auch die Tiefen der Prädestinationslehre (Thesen 30 f.). Dennoch ziele der Prozess der inneren Erneuerung nicht auf eine vollkommene Erkenntnis ab, sondern erwecke im geistlichen Menschen eine Sehnsucht nach Liebe,14 eine Bewunderung, die ihn mit tiefem Trost erfülle und ihn dazu antreibe, Christus stets und um jeden Preis zu folgen (Thesen 32–34).


1Zur Handschriftenbeschreibung siehe KGK I.2, Nr. 58, S. 485–487 und KGK III, Nr. 113.
2Zu Grop siehe KGK IV, Nr. 199, S. 433 Anm. 4.
4Vgl. Liber Decanorum, 27: »Anno domini MDXXII decanatum agente Andreae Carolostadio […]«. Unter dem Dekanat von Johannes Dölsch – WiSe 1521/1522 – wurde als letztes Johannes Briesmann am 21. Januar 1522 zum magister promoviert sowie Justus Jonas Anfang Februar 1522 in den Lehrkörper der Fakultät aufgenommen. Wann genau Karlstadt sein Amt als Dekan antrat, lässt sich aus dem Liber Decanorum nicht genau erheben. Zwischen dem 3. Mai und 18. Oktober hatten sich zahlreiche Studenten während des Universitätsrektorats von Nikolaus Amsdorf immatrikuliert (vgl. AAV, 111–114), niemand wurde aber an der theologischen Fakultät promoviert. Erst mit dem Rektorat von Johannes Schwertfeger im WiSe 1522/1523 (AAV, 114–117) sind Promotionen an der theologischen Fakultät unter dem Dekanat Karlstadts belegt (Liber Decanorum 27 f.).
6Siehe z. B. Auslegung Wagen (KGK II, Nr. 124), Tugend Gelassenheit (KGK III, Nr. 166), die 27 Conclusiones de votis (KGK IV, Nr. 179) und die 8 Conclusiones de votis (KGK IV, Nr. 180) von Mai 1521 sowie Reich Gottes (KGK IV, Nr. 191).
7Eine zeitgenössische und ähnliche Auslegung von Röm 9,27 f. und damit auch von Jes 10,21 f. findet sich in Melanchthon, Annotationes (1522), fol. H4r–v. Zur durch Luther veranlassten Veröffentlichung – der die Vorlesungen Melanchthons über den Römerbrief (1520/21) und über beide Korintherbriefe (1521/22) zugrunde lagen – siehe die Vorrede Luthers von 29. Juli 1522 ( 1, 473–477 Nr. 230 = WA 10.2, 305–310). Melanchthons Auslegung dieser Bibelstellen steht im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Exkurs über die Prädestinationslehre; vgl. Melanchthon, Annotationes (1522), fol. H1r–H3v.
9Vgl. z. B. den Thesenblock zur Prädestination in den Apologeticae conclusiones, Th. 111–133, KGK I.1, Nr. 85, S. 508–510.
10Siehe ähnlich in Karlstadts Loci tres (KGK IV, Nr. 194), wo die Prädestinationslehre aufs Engste mit dem Verständnis von Rechtfertigung und Gelassenheit zusammenhängt. Vgl. auch Hasse, Tauler, 122–128.
11Siehe nochmals Loci tres, wo die »scientia praedestinationis« keine Erwählungsgewissheit bedeutet, sondern nur die Aufgabe des Eigenwillens und die Betrachtung und Hingabe an den Willen Gottes, KGK IV, Nr. 194, S. 372, Z. 5–S. 382, Z. 14.
12Das Verhältnis zwischen menschlichem Willen und göttlicher Prädestination stand in jenen Monaten auch im Mittelpunkt von Melanchthons theologischer Arbeit, wie nicht nur seine Kommentare zum Römerbrief und zu den Korintherbriefen (s. o. KGK 235 (Anmerkung)), sondern auch die Änderungen bezüglich dieser Themen in der zweiten bearbeiteten Fassung seiner Loci communes von 1522 zeigen; vgl. Matz, Willenslehre Melanchthons, 80–84.
13S. u. die These 33, KGK 235 (Textstelle).

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