1. Überlieferung
Handschrift:
Das hier edierte Manuskript ist Teil einer dreibändigen Sammlung von Autographen Johannes Bugenhagens.1
Edition:
- Gummelt, Handschrift, 60–66.
Literatur:
- Gummelt, Handschrift, 56–60.
2. Entstehung und Inhalt
Johannes Bugenhagen traf nach seinem Weggang aus Treptow a. d. Rega, wo er als Rektor der Stadtschule tätig war, Ende März 1521 in Wittenberg ein und wurde am 29. April 1521 immatrikuliert.2 Bereits im Spätsommer und Herbst desselben Jahres begann er, eine Vorlesung über den Psalter zu halten. Es handelte sich um ein Privatkolleg, das in Melanchthons Haus, wo Bugenhagen beherbergt war, stattfand und sich hauptsächlich an Studenten aus Pommern richtete.3 Zur gleichen Zeit, zwischen Ende 1521 und Anfang 1522, begann Bugenhagen wahrscheinlich auch, das Buch der Weisheit zu erläutern.4 Im Jahr 1522 fügte er seiner Arbeit über die Psalmen eine Vorlesung über das Buch Hiob hinzu, die wahrscheinlich im Herbst desselben Jahres abgeschlossen wurde. Eine Vorlesung über das Jesajabuch, die um November 1522 begann und bis März 1524 dauerte, und über die Paulusbriefe,5 die ebenfalls zu Beginn des Wintersemesters 1522/1523 begann, folgten.
Die Vorlesungen Bugenhagens – mit Ausnahme derjenigen über Hiob – werden auch von Spalatin erwähnt, der in seinen Annalen für 1522 auch Melanchthons Vorlesung über das Johannesevangelium, die etwa im März 1522 begann und bis zum folgenden Jahr fortgesetzt wurde,6 und Karlstadts Vorlesung über Jeremia verzeichnet.7 Die Datierung letzterer bleibt offen. Sie ist jedoch nach der Vorlesung über das Buch Deuteronomium, die wahrscheinlich im Wintersemester 1521/22 stattfand,8 und vor der Vorlesung über Sacharja im Frühjahr 1523 einzuordnen.9 Ob der Jeremiakommentar bereits im Frühjahr 1522, im Anschluss an die Deuteronomiumsvorlesung und vor der anzunehmenden Reise in die Gebiete der Grafen von Schlick im September des Jahres, begonnen wurde, wie eine gewisse thematische Nähe zum Sermon vom Fegefeuer (KGK 233) vermuten lässt,10 oder ob er in das Sommersemester zu datieren ist und bis in den folgenden Herbst, in dem Karlstadt als Dekan fungierte,11 fortgeführt wurde, bleibt fraglich. Weder Spalatins Hinweis in seinen Annalen12 noch Bugenhagens Besuch dieser Vorlesung Karlstadts13 und jenen Melanchthons14 liefern klare Belege, um die Zweifel in Hinsicht auf die Datierung des hier edierten Vorlesungstexts endgültig auszuräumen.15
Bevor die Auslegung zum ersten Kapitel beginnt, fasst Bugenhagen in wenigen Zeilen die von Karlstadt dem Jeremiabuch beigemessene Bedeutung zusammen. Die Verheißung von Wohltaten, aber auch die Androhung von Strafen seien dort anschaulich zu finden. Die Verheißung in Jer 18,8 kündige an, dass Gott bereit sei, seine Gewalt gegen die Sünder zu mildern, wenn sie sich bekehren. Diese Verheißung schließe jedoch eine Strafe für bereits begangene Sünden nicht aus, wie Jeremias Aufforderung, sich dem Joch Nebukadnezars zu unterwerfen (Jer 21), zeige.
Die Erläuterungen zum ersten Kapitel beschreiben zunächst den Propheten als denjenigen, den Gott heiligt (Jer 1,5), d. h. – in Analogie zu Gal 1,15 und Röm 1,1 – aus der Menge absondert, erwählt und in seinen Dienst stellt. Gott lege seine Worte in den Mund des Propheten (Jer 1,9), stütze ihn und setze ihn als dominus und episcopus über alle Völker ein. Die Aufgabe des Propheten sei in Jer 1,10 beschrieben: Er töte und strafe wie das Gesetz und pflanze und erneuere wie das Evangelium.
In den darauffolgenden Versen finden sich Worterläuterungen, die der Auslegung der Bibelstellen dienen, indem sie deren Tropen aufdecken und so eine korrekte Interpretation ermöglichen. Das zentrale Thema in Jer 1,10–16 bilden in Karlstadts Augen die Rolle der Bösen, die von ihnen vorangetriebene Verfolgung der Propheten und ihre Gewalt. Dadurch – wie z. B. durch die Eroberung Jerusalems durch die Assyrer (Jes 10,5) – bestrafe Gott selbst die Sünden und die Untreue der Seinen. Sein Volk habe ihn verlassen, da es fremden Göttern geopfert hatte.16 Die schlimmste Sünde der Gläubigen bestehe in dieser Entfremdung, sodass Bilder aus den Kirchen und von den Altären entfernt werden müssten, um zu verhindern, dass die Schwachen nochmals irren.17 Der verborgene Sinn von Jer 1,17 wird ebenfalls enthüllt: Mit der Aufforderung, die Lenden zu umgürten, teile Gott dem Propheten mit, dass man gegen alle Begierden und postlapsarischen Wünsche sowie gegen die Versuchung, sich Verdienste anzumaßen, ankämpfen müsse. Dieser Kampf gegen die eigenen Begierden und den eigenen Willen kennzeichnet letztlich das Fegefeuer des menschlichen irdischen Lebens.18 Am Ende seines Kommentars zu Jer 1 betont Karlstadt nochmals: Alles, was der Prophet tut, sei das Werk Gottes, durch das er gestärkt wird, um seine Aufgabe auch unter schrecklichsten Umständen zu erfüllen. Zur Einführung in die Auslegung des zweiten Kapitels thematisiert Karlstadt erneut die zentrale Bedeutung des Glaubens als vollkommenes Vertrauen auf Gott und seine Allmacht. In diesem Sinne scheint Jeremia selbst gesündigt zu haben: Er zeigte geringes Vertrauen in die Berufung des Vaters, indem er als mögliches Hindernis anführte, er sei nur ein Kind (Jer 1,6), als ob göttliches Wirken durch das Alter oder andere menschliche Bedingungen begrenzt oder beeinflusst werden könnte. Es sei zwar notwendig, sich zu einem Kind zu machen, aber nur, um sich noch mehr dem göttlichen Willen anzuvertrauen, damit, je mehr Christus in uns auferstehe, der alte Adam umso schneller untergehe. Nach weiteren semantischen Erklärungen zu Jer 2,1–3 folgt ein langer Abschnitt über die Auserwählten, die von Gott »in utero suo aeterno« gezeugt würden.19 Diese göttliche Empfängnis der Auserwählten bestätigten viele andere Bibelstellen, aus denen Karlstadt zudem eine Differenzierung der Gott innewohnenden väterlichen Zuneigung ableitet: erstens die fröhliche Erinnerung an seine Kinder, zweitens ihre sorgfältige Behütung, drittens ihre gestatio, d. h. das Großziehen und die Unterstützung seiner Kinder, viertens das Eintreten für sie, fünftens die Sorge für ihre Kleidung und Nahrung, sechstens ihre Erziehung und letztlich das Opfern seines Sohnes für die Erlösung aller Kinder Gottes.
Bugenhagens letzte Notizen enthalten weitere semantische Klärungen zu den Versen Jer 2,3–6 und, nach einem Exkurs über die Wüstenwanderung der Israeliten gemäß 2. Mose 15–19, den Kommentar zu Jer 2,7–18, der noch einmal auf die Verkündigung des göttlichen Wortes eingeht. Mit Verweis auf Jer 2,8 und die gotteslästerliche Anbetung Baals kritisiert Karlstadt Schriftgelehrte und Priester, die die himmlische Lehre vernachlässigten. Das Wort Gottes bleibe ein Geschenk, das sich niemand aneignen könne, deshalb sei eine rein menschliche Schriftgelehrsamkeit nutzlos, da nur das Gesetz, nicht aber Gott, durch sie erkannt werden könne. Das Wort des Vaters sei wie Wasser, das reinige und wiederherstelle; die falschen Propheten haben es jedoch in zerbrochenen Zisternen gesammelt, die götzendienerische Kulte symbolisieren (Jer 2,13). Sie werden dafür getötet werden (Jer 2,14–18).