1. Überlieferung
Handschrift:
zeitgenössische Abschrift des Vitus Bild in Karlstadt, Verba Dei (1520) s. KGK 145
Im gesamten Exemplar Verzierungen, Unterstreichungen und Randnotizen (mit roter Tinte). Auf den ursprünglich unbedruckten Seiten G4r–v von derselben Hand in schwarzer (und teilweise roter) Tinte Eintragung eines lateinischen Textes.
Bei Sichtung verschiedener Druckexemplare von Karlstadts Verba Dei entdeckte Dr. Harald Bollbuck (Ende März 2019) die Übereinstimmung vom Text der Eintragung am Ende des Druckes mit Inhalten des bisher nur fragmentarisch erhaltenen Currus-Bildblattes. Schreiber der Randnotizen und des anderthalb Seiten langen Textes am Ende des Druckes ist der Benediktinermönch Vitus Bild (1481–1529)1. Am Ende der Verba Dei (fol. G3v), zwischen der letzten Textzeile und dem die übrige Seite schmückenden sächsisch-kurfürstlichen Wappenholzschnitt2, notierte Vitus Bild mit roter Tinte: »τέλοσ 28 dies septembris 1520 | α·φ·κ«3. Ab dem 23. Februar 1520 lagen Karlstadts Verba Dei gedruckt vor. Somit könnte Bild den Text des Currus-Bildblattes erst ab Ende Februar 1520 auf die beiden leeren Seiten am Ende des Druckes geschrieben haben.
Seine Abschrift beginnt Vitus Bild im oberen Bereich des lat. Bildblattes mit den bei Christus und dem Kreuz stehenden Texten (vgl. Abb. 3#). Darauf folgen – entgegen der Marschrichtung des oberen Pferdegespanns – die Textfelder zwischen Kreuz und Wagen und diejenigen im Umfeld des oberen Wagens; als letztes kopiert er das langgezogene Textfeld am unteren Rand der oberen Bildzone. In der darauf folgenden Abschrift des unteren Bereichs fängt Vitus Bild mit der langen Aussage der altgläubigen Theologen an – im großen, mittig platziertenTextfeld direkt unter der den oberen vom unteren Teil des Currus trennenden Linie. Daraufhin kopiert er die Textfelder im Bereich des unteren Wagens, anschließend in Leserichtung die das Pferdegespann begleitenden Texte und zuletzt diejenigen im Höllenschlund. Mit seiner Kopie bietet Vitus Bild ein Beispiel zeitgenössischer Fähigkeit, eine Bild-Text Kombination solch hoher Dichte zu erschließen und im Ergebnis festzuhalten.
Frühdruck:
Lex Dei. | currus ad | Chr̃m
[Wittenberg]: [Johann Rhau-Grunenberg], [1519].
Holzschnitt von Lucas Cranach d. Ä. (nicht signiert) mit Typendruckfeldern; erhalten in zwei Fragmenten (zusammen: 320 x 267 mm).
Editionsvorlage:
RFB Wittenberg, Inv. Nr. D I 01.Bibliographische Nachweise:
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 11.
Beide Fragmente (vgl. Abb. 1#) wurden an einer sie trennenden (vertikal mittigen) Faltspur zusammengefügt und aufgeklebt.4 Die fragmentarisch erhaltene lateinische Version wurde erstmals 1983 durch Konrad von Rabenau bekannt gemacht. Auf dem rechtsseitigen, großen Fragment ist die Höhe der Bilddarstellung am rechten Außenbildrand bis ca. 18 mm unterhalb der (fehlenden) oberen Holzschnitt-Einfassungslinie erhalten. Sehr wahrscheinlich waren dem Currus-Bildblatt über der oberen Einfassungslinie keine Überschriftzeilen beigegeben, wie es für die spätere volksprachliche Fassung der Fall ist.5 Deshalb wurde in der Edition als Incipit für die lateinische wie die deutsche Fassung die auf der Vorderseite des jeweils oberen Wagens befindliche Aufschrift gewählt.
Im Currus-Fragment sind von der oberen Bildhälfte nur der Wagen mit dem bußbereiten Sünder und das direkt vor diesen Wagen gespannte Pferdepaar erhalten, von der unteren Bildhälfte ein Großteil der Sprüche zwischen Wagen und Höllenrachen und dieser selbst. Von den 30 Textfeldern der oberen Bildhälfte sind im lateinischen Currus-Fragment neun vollständig und ein weiteres zu 80% erhalten; von drei weiteren sind noch Ausschnitte sichtbar. Von den 23 Textfeldern der unteren Bildhälfte sind elf ganz und ein weiteres zur Hälfte erhalten. Die visuelle Darstellung und die Bildmotive auf den beiden erhaltenen Fragmenten der lateinischen Erstfassung des Werkes stimmen mit der der volkssprachlichen Exemplare überein (KGK 120). Für beide Fassungen wurde derselbe Holzschnitt verwendet.
Editionen:
- Rabenau, Typoskript, [1–5].
- Thümmel, Cranachs Wagen, 88–93.
Literatur:
- Katalog Reformationszeit (Berlin), Nr. E 51, 356.
- Rabenau, Typoskript, [1] u. [15f.].
- Hasse, Tauler, 100–103.
- Roper/Spinks, Visual Propaganda, 260 u. 269.
2. Inhalt und Entstehung
Karlstadts im Herbst 1518 gefasster Plan, die Kritiker Wittenbergs unter den Leipziger Theologen anzugreifen6 ohne sie beim Namen zu nennen – jedoch so, dass sie sich in der Veröffentlichung wiedererkennen würden – teilte er Spalatin im Brief vom 20. Oktober 1518 mit.7 In der unteren Bildhälfte des Currus hat Karlstadt fiktive scholastische Textzitate im Stil der Dunkelmännerbriefe mit ironisch verfremdeten Autorennamen versehen, die zum Teil auf Leipziger Dozenten anzuspielen scheinen.8
Zur bildhaften Umsetzung seiner theologischen Ansichten bot ihm Augustin – nach Karlstadts Mitteilung9 – das Wagenmotiv an. In de spiritu et littera erwähnt Augustin, dass Gottes Gesetz für den Sünder wie ein Hilfsmittel, wie ein Gefährt (vehiculum)10 sei.
Auf mögliche visuelle Inspirationsquellen machte 1843 erstmals Seidemann11 aufmerksam, der darin eine Nachahmung des Motivs des 1517 erschienenen Hymelwag – Hellwag12 des Johann von Leonrodt vermutete. 1973 wies Zschelletzschky13 für die »ikonografische Tradition des Wagenmotivs« zusätzlich hin auf Wolf Trauts Illustration zu Jakob LochersCurrus sacrae theologiae triumphalis (1506)14, auf den 1518 veröffentlichten Triumphus Capnionis15 sowie auf das Titelblatt von Sebastian BrantsNarrenschiff (1494)16, wo Schiff- und Wagenmotiv übereinander angeordnet sind und in entgegengesetzte Richtungen fahren.17
Johannes Eck hatte 1512, als er Predigten des Johann Geiler von Kaysersberg18 in deutscher Überarbeitung drucken ließ, in Verbindung damit ein illustriertes Bildblatt mit umseitig dazugehörender Auslegung anfertigen lassen.19 In Ecks auf der Rückseite des Flugblatts platzierter »Ußlegung diser Figur« heißt es: »[…] der segelbaum ist das Crütz cristi/ und der herr cristus daran/ on den wir nit faren moͤgen. etc. An disen segelbaum müssen wir anspannen den segel unsers fryen willen. Aber nit in yetlichen wind/ als die narrecheten schiflüt. Aber tzu einem guten wind/ der da dry syn: natürlich frumkeit/ neigung zu guͤtem/ gut gewonheit/ und die gnad gottes/ die treiben den segel redlich […]«.20
Interessant ist im Zusammenhang mit dem von Karlstadts hinsichtlich Heilserlangung auf das Kreuz Christi fokussierten Currus-Bildblatt auch das großformatige Frömmigkeitsbild vom Schiff der heiligen Ursula (um 1513).21 Im Fokus dieses Hans Suess von Kulmbach zugeschriebenen Holzschnittes steht das Kreuz des leidenden Christus als Mastbaum des Schiffes. Die lateinischen Spruchbänder links und rechts des Kreuzes enthalten zwei Strophen des Kirchenhymnus »O crux ave spes unica«.22
Auf Beispiele einer Verwendung des Wagen-Bildmotives im näheren zeitlichen Vorfeld des auch von Cranach und Karlstadt in ihrem Entwurf integrierten Sujets wurde in der Fachliteratur oft und wiederholend hingewiesen.23 Zu erwähnen wäre noch ein diesbezüglich bisher nicht wahrgenommener Holzschnitt auf der Titelrückseite eines 1514 in Nürnberg gedruckten, anonymen Frömmigkeitstraktats in der Volksprache.24 Auffallend ist, dass sowohl die Illustration (Abb. 2#) wie einzelne Passagen im sich mit dem Gegenüber von menschlichem und göttlichen Willen beschäftigenden Text eine gewisse visuelle und zuweilen auch inhaltliche Nähe mit KarlstadtsWagen-Bildflugblatt25 aufweisen.
Das zentrale Thema wahrer Buße und Rechtfertigung des Sünders fasste Karlstadt zur Jahreswende 1518/1519 knapp in seiner Epitome zusammen.26 Auch wenn diese lateinische Flugschrift keine direkten Bezüge zu dem etwa zeitgleich entstandenen Currus-Bildblatt enthält, ist in der oberen Hälfte des Werkes, ein reuiger Sünder, im Wagen sitzend, dargestellt, dessen Anfechtungen, Todesängste und Erlösung die Epitome beschreibt.27Karlstadts Vorhaben, zusammen mit Lucas Cranach d. Ä.28 ein großformatiges Bildblatt zu gestalten, zeigt, dass er parallel zur Epitome Kernaspekte seiner Buß- und Gnadentheologie, mit polemisch-satirischer Zuspitzung gegen deren Kritiker, einem breiteren Publikum bekannt machen wollte.29 In der um die Jahreswende 1518/1519 sich ausweitenden Wittenberger Publizistik handelt es sich beim Currus-Bildflugblatt um den ersten Versuch, Bild und Wort gezielt zu diesem Zweck zu verbinden.30
Ein erster Hinweis auf das Currus-Bildblatt findet sich in Karlstadts Brief an Spalatin vom 14. Januar 1519. Darin schreibt er, dass wegen Hindernissen bei Lucas Cranach d. Ä. der Currus noch nicht in die Werkstatt eingegangen sei.31 Am 24. Februar 1519 – nachdem Georg Spalatin sowohl Karlstadt wie Luther mit Vorwürfen bezüglich ihrer Papstkritik konfrontierte – erinnert KarlstadtSpalatin daran, dass auf dessen Anweisung hin auf dem Currus eine Mönchskappe (cucullus) abgeändert wurde.32 Demnach dürfte in dieser letzten Februarwoche die Anfertigung des Bildholzstocks des Currus abgeschlossen gewesen sein. Am 20. März 1519 schickte Karlstadt gedruckte Exemplare des mit lateinischen Texten versehenen Bildblatts an Spalatin, damit dieser es ausgewählten Empfängern zukommen lassen sollte.33 Mitte März 1519 wird also die Drucklegung des lateinischen Currus-Bildblatts fertig gewesen und dasselbe in Umlauf gekommen sein.
Der im Querformat bedruckte Bogen ist in zwei gleich große, horizontal übereinanderliegende Bildhälften unterteilt. In der oberen fährt ein von einem Gespann mit acht Pferden gezogener offener Wagen nach links in Richtung auf den hinter dem Kreuz stehenden Christus zu. In der unteren Bildhälfte fährt ein von einem Gespann mit sieben Pferden gezogener offener Wagen in entgegengesetzter Richtung auf einen weit geöffneten Höllenrachen zu. Im oberen Wagen sitzt eine hagere, langbärtige Person mit vor der Brust gehaltenen, sich berührenden Händen; über der hochgezogenen Rückwand ihres Wagens ist in der oberen rechten Bildecke freischwebend ein Wappenschild abgebildet. Auf der vorderen mit einer geschmückten Halbrundung abgeschlossenen Wagenbrüstung ist ein an seinen Rändern verziertes Kreuz aufgesetzt. Im unteren Wagen steht ein Kleriker von gedrungener und korpulenter Gestalt mit nach beiden Seiten im Redegestus ausgebreiteten Armen34; hinter ihm auf dem Wagen kauert rücklings eine zottig-bärtige Zwittergestalt mit Klauen und einem kleinen Horn auf dem Kopf. Am oberen Wagen versucht ein Dämon mit seinen Klauen das linke Vorderrad zu bremsen; am unteren Wagen neben dem rechten Vorderrad liegt ein Dämon auf dem Rücken, der in seiner Hand eine Schmierbüchse auf Radachsenhöhe hält. Sowohl in der oberen wie in der unteren Bildhälfte ist der Weg, auf dem die Wagen voranrollen, mit kleinen und mittelgroßen Steinen übersät. Im Hintergrund beider Bildhälften ist eine bergige Landschaft mit vereinzelten Häusergruppen angedeutet. Am bewegten Himmel sind Wolken erkennbar. Die acht Pferde des oberen Gespanns bewegen sich im Trab voran; auf dem linken Pferd des zweitvordersten Pferdepaars reitet eine mit Nimbus versehene Bischofsfigur mit episkopaler Mitra. Auf dem linken Pferd des direkt vor den oberen Wagen gespannten Pferdepaars sitzt eine ebenso mit Nimbus gekrönte bärtige, barfüßige männliche Figur. Beide schwingen in ihrer Rechten eine Peitsche. Mittig am oberen Rand der oberen Bildhälfte ist Gottvater, flankiert von zwei Putten, im Wolkenkranz abgebildet; genau unter ihm hat im Gespann ein Pferd die Zügel losgerissen35 und seinen Kopf nach oben gerichtet. Die sieben Pferde des unteren Gespanns preschen im Galopp voran; auf dem linken Pferd des direkt vor den unteren Wagen eingespannten Pferdepaars reitet eine männliche Figur im Gelehrtenhabit; der Sattel auf dem Pferd neben ihr ist leer. Auf dem vordersten Pferd des unteren Wagengespanns sitzt ein barfüßiger Reiter mit Messer im Gürtel; beidhändig stößt er seine lange Treiberstange in den vor ihm aufgerissenen Höllenrachen. Darin sitzen zwischen Flammen vorne drei männliche Figuren, hinter ihnen kauern und stehen drei kräftige, dämonische Gestalten. Am unteren Bildrand der unteren Bildhälfte sind Dämonenantlitze abgebildet und direkt vor dem Unterkiefer des Höllenrachen eine vierbeinige, dämonische Tierfigur mit langem Schwanz. Sowohl die obere wie auch die untere Bildhälfte sind mit einer Fülle von Textfeldern übersät.
Die beiden in entgegengesetzte Richtung fahrenden, unterschiedliche Ziele ansteuernden Wagen wurden mit in das Bildfeld integrierten, lateinischen Texten konzipiert und veröffentlicht. In seiner Entstehungsphase richtete sich das Wagenbildblatt, wennschon in verdeckter Weise, primär gegen Silvester Prierias und einige Leipziger Scholastiker; gegen sie »stichelt« und richtet Karlstadt seine satirische Bild- und Textpolemik in der unteren Bildhälfte.36 Der gesamten visuellen Konzeption und lateinischen Currus Textfassung kommt somit eine Priorität gegenüber der späteren volkssprachlichen Fassung zu. Deshalb sollte diese erste, lateinische Currus-Fassung von der sich erst ab Februar 1519 deutlicher konturierenden Vorphase der Disputation mit Johannes Eck in Leipzig und der zweiten später entstandenen, volkssprachlichen Wagen-Textfassung37 etwas abgesetzt werden.