1. Überlieferung
Frühdrucke:
d'er' wag zu ‖ Christo
[Wittenberg]: [Johannes Rhau-Grunenberg], 1519.
Holzschnitt von Lucas Cranach d. Ä. Blattgröße (405 x 298 mm), Bildgröße (405 x 280 mm). Die ursprüngliche Blattgröße wurde bis an die untere und die seitlichen Einfassungslinien des Bildes beschnitten. 30 Textfelder mit deutschem Text in der oberen Bildhälfte, 23 Textfelder mit deutschem Text in der unteren Bildhälfte; das Textfeld auf der vorderen Wagenseite des unteren Wagens ist leer.
Editionsvorlage:
DHM Berlin – Graphische Sammlung, Inv. Nr. Gr. 53/1.Bibliographische Nachweise:
- Katalog Cranach (Gotha), 112 Nr. 11b.
Dreizeiliges Incipit oberhalb des Bildfeldes: »¶ Will Gott. Sʒo wuͤrt vortewtſchte erklerūg.beder wagen.mit yren anhengigen ſpruchen.kurtʒlich gedruckt außgen .Auß welcher.yeglicher wol ermeen mag.was yedenn Chriſtglaubigen zu wiʒen.not iſt.Dan an ʒweyfel.welche dieße wagen. ‖ mit ſampt eyngeleibtenſchrifften betrachten.werden.erſynnen und bſchliʒen. das reeden.des oberſten wagen.Chriſtlicher tzucht erschießlich. vnd widderumb. wortlin des vnderſten. vndienlich vnd ſchedlich. eynen außgeʒogen.Das ich alles.durch hey-‖lige ſchrifften vñ lerern bekrefftigen magk. Derhalben geluſtet ymants ſchrifften obermelt anʒufechten.der kum fruſchlich.mit Chriſtlichem ſwerd das iſt gottis wort.ſonſt mugte ich auch ſchelden. vnnutʒenwie wol mir der weeg widder vñ nicht helen.«
Auf diesem Exemplar ist der Abdruck der oberen Einfassungslinie vom Holzschnitt deutlicher zu erkennen als auf den beiden B Exemplaren; im Gesicht des Gottvaters sind Stirn und Haaransatz sichtbar.
d'er' wag zu ‖ Christo
[Wittenberg]: [Johannes Rhau-Grunenberg], 1519.
Holzschnitt von Lucas Cranach d. Ä. Blattgröße (442 x 364 mm); Bildgröße (Einfassungslinie. unten: 406 mm; Efl. oben 405 mm; Efl. links: 284 mm; Efl. rechts: 282 mm); die drei Überschrifttextzeilen: 405 mm x 15 mm. 30 Textfelder mit deutschem Text in der oberen Bildhälfte, 23 Textfelder in der unteren Bildhälfte, davon eines ohne Text (vordere Wagenseite). Zwei horizontale und zwei vertikalen Knickspuren (oberer Längsrand 1. Textzeile: »[…]anhengige|n«; »[…]yede|nn«). Keine Angaben zur Rückseite. Das ehemals gefaltete, jetzt auf eine Unterlage aufgeklebte Blatt ist an den Faltstellen leicht beschädigt (kleine Löcher). Die Reproduktion von Max Geisberg, die den meisten Wiedergaben in der Literatur zugrunde liegt, wurde retouschiert; die beschädigten Buchstaben der Hamburger Vorlage sind aber stellenweise noch zu erkennen. Mit identischen Faltspuren auch die (verkleinerten) Wiedergaben in: Katalog Folgen (Hamburg), 192 Nr.65; Katalog Luther (Nürnberg), 244 Nr. 308; Piltz, Bildsatiren, Nr.10.
Editionsvorlage:
ZB der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz Berlin, M2 2017/386.Weitere Exemplare: Kunsthalle Hamburg – Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 12794 (Abbildung in Geisberg, Einblattholzschnitt, Mappe, XII, Nr. 13)
Bibliographische Nachweise:
- Geisberg, Einblattholzschnitt, Mappe, XII, Nr. 13.
- Geisberg/Schmidt, Bilder-Katalog, 112 Nr. 612.
- Geisberg/Strauss, Woodcut 2, 579.
- Hollstein, Engravings 6, 71, Nr. 95.
- Meuche/Neumeister, Flugblätter, 113f.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 11.
- USTC 752666.
- Katalog Cranach (Gotha), 112 Nr. 11a.
Dreizeiliges Incipit oberhalb des Bildfeldes: »¶ Will Gott. Sʒo wuͤrt vortewtſchte erklerūg.beder wagen. mit yren anhengigen ſpruchen.kurtʒlich gedruckt außgen .Auß welcher.yeglicher wol ermeen mag.was yedenn Christglaubigen zu wiʒen.not ist.Dan an ʒweyfel.welche dieße wagen. ‖ mitſampt eyngeleibten ſchrifften betrachten.werden.erſynnen und bſchliʒen. das reeden.des oberſten wagen.Christlicher tʒucht erſchießlich. vnd widderumb. wortlin des vnderſten. vndienlich vnd ſchedlich. eynen außgeʒogen.Das ich alles.durch hey-‖lige ſchrifften vñ lerern bekrefftigen magk. Derhalben geluſtet ymants ſchrifften obermelt anʒufechten.der kum fruſchlich.mit Christlichem ſwerd das iſt gottis wort.ſonſt mugte ich auch ſchelden.vnnutʒen(wie wol mir der weeg widder) vñ nicht helen.«
Meuche und Neumeister1 identifizierten als Drucker Johannes Rhau-Grunenberg in Wittenberg. Ihre Zuweisung geht auf eine damalige Expertise von Helmut Claus (Gotha) zurück, der eine diesbezügliche Anfrage des Editors freundlicherweise am 6. März 2018 bestätigte.
Anfangs war wohl nur der Druck eines lateinischen Flugblatts geplant. Der vom Holzstock in Abstimmung auf die Papierbogengröße außerhalb der Einfassungslinien freigelassene Raum wurde dabei fixiert. Die spätere volkssprachliche Übertragung benötigte einen Hinweis auf die in Kürze erscheinende Erläuterungsschrift zum Bildblatt.2 Um den deutschen Text unterzubringen, musste der ursprünglich festgelegte Platz über der oberen Einfassungslinie expandiert werden. Sie wurde heruntergesetzt, und so erklären sich die Verluste im direkt darunter angrenzenden obersten Bildstreifen: in der Mitte des oberen Holzschnittrandes die beschnittene Szene des von zwei Putten im Wolkenkranz flankierten Gottvaters, links das obere Ende des Kreuzquerbalkens bzw. rechts die Sternchen über dem Helm des Bodensteinwappens.3
Die beiden Exemplare des Druckes B sind identisch, differieren aber von A in einigen Textdetails.4 Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Verbesserungen am stehenden Satz während der Drucklegung zwecks Erhöhung der Auflage. Die für Flugblätter hohe Zahl von bisher drei bekannten, erhaltenen Exemplaren spricht für eine hohe Auflagenhöhe.
Editionen:
- Bubenheimer, Interpretation, 3. Umschlagseite (Textwiedergabe in modernem Deutsch).
- Rabenau, Typoskript, [6–13].
- Thümmel, Cranachs Wagen, 73–88.
- Katalog Cranach (Gotha), 336, T 11.
Literatur:
- Zschelletzschky, Vorgefecht.
- Bubenheimer, Interpretation.
- Mülhaupt, Fuhrwagen.
- Bubenheimer, Andreas Rudolff Bodenstein, 18–28.
- Rabenau, Typoskript.
- Oelke, Konfessionalisierung, 223–231.
- Hasse, Tauler, 110–113.
- Kruse, Universitätstheologie, 195–200.
- Thümmel, Cranachs Wagen.
- Todt, Himmel- und Höllenwagen.
- Roper/Spinks, Visual Propaganda.
2. Inhalt und Entstehung
In einem zwischen 1510 und 1514 entstandenen großformatigen Bildflugblatt mit der Überschrift »Ein kurtz andechtigs himmelisch Leitterlein angegeben von dem heiligen Bonaventura […]«5 hatte Lucas Cranach d. Ä. himmlisches Heil und höllische Pein in vertikalem Kontrast einander entgegengestellt.6 Einige in den Holzschnitt integrierte Textfelder (von Engeln, aber auch von teuflischen Dämonen gehalten) fordern Menschen, die sich in der irdischen Zwischenebene befinden, einerseits zu untadeligem, anderseits zu lüsternem Leben auf. Über den unten im Höllenfeuer von teuflischen Figuren gequälten Personen gibt ein die gesamte Bildbreite einehmendes Spruchband deren zu spät gewonnene Einsicht wieder: »Wir haben an unsern leben nicht woͤllen dy hymlische leitter stigen/ darumb wir gefallen in die Hell mussen bei dem teuffel ewig bleiben.«7 Das Werk belegt die vorreformatorische Herstellung großformatiger volksprachlicher Erbauungsbildblätter in der Cranachwerkstatt. Zeitgenossen waren mit kontrastierenden Bildmotiven8 und darin eingebundenen »sprechenden« Textfeldern vertraut.
In Ausführung eines von Karlstadt konzipierten9 Bildprogramms hat Lukas Cranach d. Ä. bis Ende Januar / Anfang Februar 1519 den Holzschnittentwurf für das großformatige Wagen-Bildblatt hergestellt. Neu – gegenüber der einige Jahre vorher entworfenen Himmelsleiter – ist die aus Karlstadts und Cranachs Zusammenarbeit hervorgegangene Umsetzung der Spannung zwischen himmlischem Heil und höllischer Pein von einer vertikalen Kontrastierung in eine horizontal-gegenläufige Dynamik.10
Im Brief vom 20. März 1519 an Georg Spalatin – dem eine Sendung lateinischer Currus-Exemplare beigegeben war – informierte KarlstadtSpalatin darüber, dass die Drucklegung der volksprachlichen Fassung (vulgaris currus) nocht nicht begonnen werden konnte.11 Als Grund dafür gab er an, dass der im Bildholzstock für die Drucktypeneinpassung ausgespaarte Platz12 geringer war, als für die volkssprachlichen Texte benötigt wurde.13 Einige, die von diesem Problem wüssten, rieten Karlstadt, eine andere Lösung zu suchen statt die Sprüche14 zu kürzen.15 Daraufhin scheint er entschieden zu haben, die Sprüche in einer Flugschrift zu zitieren und zu erläutern und sie für die Bildblattfassung so zu kürzen, dass sie in die vorhandenen Textfelder passten.16 Bei diesem Plan war abzusehen, dass der Bildblattdruck schneller fertig sein würde als die Erläuterungsschrift dazu. Auf diese Verzögerung machte Karlstadt das Publikum in den Überschriftzeilen zum Bildflugblatt aufmerksam.17
Am 6. Mai 1519 schickte Karlstadt drei Exemplare des Wagenbildblatts an Spalatin.18 Der begleitende Brieftext enthält keinen Hinweis dazu, ob es lateinische oder volksprachliche Fassungen waren. Zu diesem Zeitpunkt könnten es aber deutsche Wagen-Fassungen gewesen sein, da der Drucker über einen Monat Zeit gehabt hatte die Mitte März in Angriff genommene Drucklegung des currus vulgaris fertigzustellen. Am 17. Mai19 schickte Karlstadt ein erstes Exemplar der das Bildblatt erläuternden AuslegungWagen an Spalatin. Die Spanne von circa zehn Tagen zwischen Veröffentlichung des volkssprachlichen Bildblatts und der es erläuternden Flugschrift hätte damit der Ankündigung in den Überschriftzeilen des Wagen-Flugblatts entsprochen. Der Beginn einer Verbreitung von Wagen-Flugblättern mit deutschen Textinhalten ließe sich somit frühestens auf Anfang Mai 1519 datieren.
Der im Querformat bedruckte Bogen (442 mm x 364 mm) ist in zwei etwa gleich hohe, horizontal übereinanderliegende Bildhälften unterteilt.20 In der oberen fährt ein von einem Gespann mit acht trabenden Pferden gezogener offener Wagen21 nach links in Richtung auf den seitlich hinter dem Kreuz stehenden Christus zu.22 In der unteren Bildhälfte fährt ein von einem Gespann mit sieben galoppierenden Pferden gezogener offener Wagen23 in entgegengesetzter Richtung auf einen weit geöffneten Höllenschlund zu. Im oberen Wagen sitzt ein hagerer, langbärtiger Laie mit vor der Brust sich berührenden Händen.24 Über der hochgezogenen Rückwand seines Wagens ist in der oberen rechten Bildecke freischwebend ein Wappenschild abgebildet.25 Auf der vorderen, mit einer geschmückten Halbrundung abgeschlossenen Wagenbrüstung ist ein an seinen Rändern verziertes Kreuz aufgesetzt. Im unteren Wagen steht ein Mönch von gedrungener und korpulenter Gestalt mit im Redegestus nach beiden Seiten ausgebreiteten Armen.26 Hinter ihm auf dem Wagen kauert rücklings eine zottig-bärtige Zwittergestalt mit Klauen und einem kleinen Horn auf dem Kopf.27
Am oberen Wagen versucht ein Dämon das linke Vorderrad zu bremsen; am unteren Wagen neben dem rechten Vorderrad liegt ein Dämon auf dem Rücken, der in seiner Hand eine Schmierbüchse auf Achsenhöhe hält. Sowohl in der oberen wie in der unteren Bildhälfte ist der Weg, auf dem die Wagen voranrollen, mit kleinen und mittelgroßen Steinen übersäht. Im Hintergrund beider Bildhälften ist eine bergige Landschaft mit Gebäudegruppen angedeutet; am bewegten Himmel sind Wolken erkennbar. Die acht Pferde des oberen Gespanns bewegen sich im Trab voran. Auf dem linken Pferd des zweitvordersten Pferdepaars reitet eine mit Nimbus versehene Bischofsfigur mit episkopaler Mitra. Auf dem linken Pferd des direkt vor den oberen Wagen gespannten Pferdepaars sitzt eine ebenso mit Nimbus gekrönte bärtige, barfüßige männliche Figur.28 Beide schwingen in ihrer Rechten eine Peitsche. Mittig am oberen Rand der oberen Bildhälfte ist Gott-Vater, flankiert von zwei Putten, im Wolkenkranz abgebildet; genau unter ihm hat im Gespann ein Pferd die Zügel losgerissen und seinen Kopf nach oben gerichtet.29 Die sieben Pferde des unteren Gespanns preschen im Galopp voran; auf dem linken Pferd des direkt vor den unteren Wagen eingespannten Pferdepaars reitet ein männliche Figur im Gelehrtenhabit30; der Sattel auf dem Pferd neben ihr ist leer.31 Auf dem vordersten Pferd des unteren Wagengespanns sitzt ein barfüßiger Reiter mit Messer im Gürtel, der beidhändig seine lange Treiberstange in den vor ihm aufgerissenen Höllenrachen stößt. Darin sitzen vorne zwischen Flammen drei menschliche Figuren32, hinter ihnen kauernd und stehend drei kräftige dämonische Gestalten. Am unteren Bildrand der unteren Bildhälfte sind zwei weitere Dämonen zu sehen und direkt vor dem Unterkiefer des Höllenrachens eine vierbeinige dämonische Tierfigur mit langem Schwanz.33
Sowohl die obere wie die untere Bildhälfte sind mit einer Fülle von Textfeldern versehen.34 Zwei von der Karlstadt verwendete zeitgenössische Reimsprüche fremden Ursprungs35 legen nahe, dass auch er bemüht war, seine Botschaft einer damals gebräuchlichen Form volkstümlicher Formulierung religiöser Inhalte anzugleichen.36
In KarlstadtsWagen-Parabel37 nimmt das in der oberen Bildhälfte zweimal dargestellte Kreuz als Bildmotiv und entsprechend auch theologisch eine zentrale Stellung ein. In komprimierter Form gibt er hier visuell eine erstmals in seiner Defensio ausgeführte Kreuzessymbolik und -theologie wieder.38 In Gottes himmlischer Gegenwart fährt das obere, straff gezügelte Pferdegespann einen bußbereiten, sich dem Kreuz anvertrauenden Menschen hin zum Heil in Christus. Neben dem Kreuz stehend, lädt der Auferstandene die Sünder zu sich ein und verheißt ihnen Frieden. Eng damit verbunden ist die Erkenntnis eigener Sündhaftigkeit im Licht der als Gesetz Gottes verstandenen Heiligen Schrift sowie die Absage an heilswirksame Leistungen menschlicher Willenskraft. In antithetischer Weise stellt Karlstadt gnadentheologische Akzente biblischer und altkirchlicher Theologie einer von ihm in der unteren Bildhälfte satirisch vereinfacht dargebotenen scholastischen Heilslehre entgegen. Im oberen Bildteil verwendet er neben paulinischer und augustinischer Gnadentheologie explizit auch den von der deutschen Mystik geprägten Begriff der »Gelassenheit«.39 In seiner Rechten hält Christus die Aufforderung »Gelass Willen und dich«. Diese Verbindung von Gelassenheit und Christuskreuz steht in einer mystischen Tradition, die sich ikonographisch schon in Werken Heinrich Seuses abgebildet findet.40
In seiner Auslegung zur volkssprachlichen Fassung des Bildblatts erläutert Karlstadt überwiegend Sprüche der oberen, als Visualisierung wahrhafter Bußfrömmigkeit konzipierten Bildhälfte. Dabei geht er in drei Schritten vor: Zuerst erläutert er zum Umfeld des Kreuzes gehörige Textfelder, dann die dem oberen Wagen beigegebenen und zuletzt Textfelder zwischen Wagen und Kreuz. Mit dieser Bündelung ebnet er den Rezipienten einen Verständniszugang zur Fülle der über das gesamte Bild verstreuten Texte.41
Die Edition der Texte wird deshalb wie folgt gebündelt: I. Obere Bildhälfte: A) Texte zum Kreuz, B) Texte zum Wagen, C) Texte zum Pferdegespann zwischen Wagen und Kreuz. II. Untere Bildhälfte: D) Bei Erläuterung der oberen Bildhälfte tangierte Texte, E) Am Ende der Auslegung Wagen besprochene Texte, F) In der Auslegung Wagen nicht kommentierte Texte.