1. Überlieferung
Frühdrucke:
Welche bucher Bibliſch ſeint. ‖ Diſſes buchlin lernet unter⸗‖ſcheyd zwueſchen Bibliſchen buchern vnd ‖ vnbibliſchen/ darynnen viel geyrret haben/‖ vnd noch yrren/ Dartzu weyſzet das buch⸗‖lin/ welche bucher/ in der Biblien/ orſtlich ‖ ſeint zuleſzen ‖ Andꝛes Bodenſtein von Ca⸗‖rolſtadt Doctoꝛ. ‖ Vuittembergk. ‖
Wittenberg: [Melchior Lotter d. J.], 1520.
4°, 12 Bl., A 4‒C 4 (C4v leer).
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, H: Yv 2186.8° Helmst, Digitalisat.Weitere Exemplare: BSB München, 4 Exeg. 90, Digitalisat — SUB Göttingen, 8 H E ECCL 378/5 RARA.
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 46.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 351.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 27A.
- VD 16 B 6259.
WElche bcher ‖ heilig un̄ Bibliſch ſeind. ‖ ‖ Diſz bůchlin leret under/‖ſcheid zwüſchen Bibliſchen bůchern vnd vnbib‖liſchen/ darinnen vil geirret haben/ vnd ‖ noch irren/ Darzů weiſet das bůch⸗‖lin welche bůcher in der Biblien ‖ erſtlich ſeind zůleſen. ‖ Andꝛes Bodenſtein von ‖ Carolſtat/ Doctoꝛ. ‖ [TE]
[Basel]: [Adam Petri], 1521.
4°, 12 Bl., A 4‒C 4 (C4v leer). — TE.
Editionsvorlage:
BSB München, Res/4 Asc. 283, Digitalisat.Weitere Exemplare: ÖNB Wien, 12.J.54, Digitalisat
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 48.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 939.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 27B.
- VD 16 B 6260.
Titelbordüre aus vier unzusammenhängenden Leisten mit Blumen, Blättern und Früchten.1
Weliche biecher Bibliſchſeind ‖ Diſes Büchlin lernet vnder‖ſchaid zwüſchen Bibliſchen buͤchern vnd ‖ vnbibliſchen/ darinnen vil geirꝛet ha-‖ben/ vnd noch jrꝛen. Darzů weißet ‖ das buͤchlin/ welche buͤcher/ in ‖ der biblien/ ernſtlich ſe-‖❧ind zůleßen.☙ ‖ Andreas bodenſtein Von Ca⸗‖rolſtat Doctoꝛ. ‖ Wuittemberg. ❦ ǁ [TE]
[Augsburg]: [Melchior Ramminger], 1521 oder 1522.
4°, 11 Bl., A 4‒C 4 (C4r–v leer). — TE.
Editionsvorlage:
ÖNB Wien, 20.Dd.357, Digitalisat.Weitere Exemplare: BSB München, 4 Exeg. 154, Digitalisat — UB Münster, COLL. ERH. 315 (unvollständig, nur Bogen A), Digitalisat — StB Reutlingen, 704v (Fragment, Pressvariante) — RFB Wittenberg, LC 688,20 (mit hsl. Notizien von der Hand des Basilius Monner)
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 47.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1552.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 27C.
- VD 16 B 6258.
Titelbordüre aus Architekturmotiven mit Blumen und muschelartigen Ornamenten.2
Die Schrift ist in drei Ausgaben überliefert. Die erste erschien im Herbst 1520 bei Melchior Lotter dem Jüngeren in Wittenberg und wurde vermutlich im darauffolgenden Jahr bei Adam Petri3 in Basel nachgedruckt.4 Diese ersten beiden Ausgaben stimmen – abgesehen von kleinen sprachlichen Abweichungen5 – überein. Eine dritte Ausgabe folgte bei Melchior Ramminger in Augsburg6 und weist kleine sprachliche Abweichungen auf.7 Sie enthielt auf fol. C3v eine zusätzliche »Beschlussrede«, welche einige Abschnitte aus der Schrift Berichtung dyesser red von Sommer 1521 in Platz sparendem Satz nachdruckt,8 und wurde deshalb zwischen diesem terminus post quem und 1522 herausgegeben.9
Literatur:
- Barge, Karlstadt 1, 236‒238.
- Keßler, Andreas Bodenstein.
- Brecht, Kanon.
2. Inhalt und Entstehung
Die hier edierte Schrift erschien im Herbst 1520, einige Wochen nach dem Traktat De canonicis scripturis, von dem sie eine Art Zusammenfassung10 bietet, allerdings angepasst an das Publikum, an das sie sich richtet, und an den veränderten historischen Kontext. Am 10. Oktober traf die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine11 Papst Leos X. in Wittenberg ein.12 Gerüchte hatten sich jedoch schon in den vorherigen Wochen verbreitet: Johannes Eck hatte nicht nur direkt an der Abfassung der Bannandrohungsbulle mitgewirkt,13 sondern auch die Namen von Lutheranhängern – darunter auch den Namen Karlstadts – im September 1520 an die Bulle notariell einfügen lassen.14 Diese Ereignisse beschleunigten bei Karlstadt die Radikalisierung der schon in De canonicis scripturis formulierten Kritik an der römischen Kirche, wie die rasch nacheinander erschienenen Bedingung (KGK 165), Tugend Gelassenheit (KGK 166), Päpstliche Heiligkeit (KGK 167) und Appellation (KGK 168) zwischen Ende September und Oktober 1520 deutlich belegen.15 Die Auswirkungen dieser Ereignisse sind ebenso in der kurz darauf herausgegebenen Schrift Welche Bücher biblisch zu bemerken, die Karlstadts Bruch mit Rom auf prägnante Weise bezeugt: Der Traktat weist eine klare rhetorische Zäsur zwischen dem ersten umfangreicheren Teil, in dem der Kanon frei von nahezu allen hochpolemischen Vertiefungen von De Canonicis scripturis präsentiert wird, und dem zweiten, der am Ende unter der Überschrift Notabilia eingefügt ist und einen scharfen Angriff auf die päpstliche Kirche bildet.
Welche Bücher biblisch greift die Prämissen der lateinischen längeren Fassung kohärent auf, wiederholt sie aber nicht, sondern entwickelt sie weiter. Die ersten beiden Punkte von De canonicis scripturis und die darin formulierten theoretischen und kirchenjuristischen Prämissen zur Kritik an der altgläubigen theologischen Tradition, den Bettelorden und allen Verteidigern des päpstlichen Primats fallen weg,16 da sie möglicherweise nicht für die Leser – ausgebildete, jedoch theologisch nicht unbedingt profilierte Laien – geeignet waren. Der am 4. November datierte Widmungsbrief an den Joachimsthaler Bergmeister Wolfgang Stürtz17 ist in dieser Hinsicht bedeutungsvoll und erklärt, worauf der Traktat zielt: Alle der christlichen Wahrheit zugeneigten Leser sollen lernen, welche Bücher als biblisch und göttlich – und damit als kanonisch – zu betrachten sind und welche dagegen nicht. Dementsprechend will Karlstadt auch erklären, wie und wann die unterschiedlichen biblischen Bücher verwendet werden sollten, denn ihrem ungleichen Autoritätsgrad entsprechend eignen sie sich eher für den Kampf gegen Häretiker oder gegen die einfältigen Franziskaner.18
Dies scheint Karlstadt besonders wichtig, denn wenn alle Christen die Heilige Schrift sowohl lesen als auch verstehen dürfen und sollen, auch um andere Christen zu belehren, muss ihnen eine theologisch abgesicherte Einleitung zu den kanonischen Büchern und deren Verwendung garantiert werden. Demzufolge bekräftigt Karlstadt in diesem deutschen Traktat seine schon im Februar 1520 in den Verba Dei formulierte Anregung, die Bibel auch den Laien in die Hand zu geben,19 und versucht zielgerichteter als in De canonicis scripturis, dieses Prinzip in die Praxis umzusetzen, indem er den Lesern konkrete, klare und knapp formulierte Hinweise zur Kanonizität der Bücher, zu ihrer Verwendung und zu ihrer Lektüre bietet.20
Ähnlich wie in De canonicis scripturis werden die Bücher des Alten Testaments in drei Kategorien eingeteilt. Die ausführliche und komplexe Besprechung der einzelnen Fälle, auch in Bezug auf die Übereinstimmung bzw. Differenz zwischen Augustinus und Hieronymus, ist jedoch in Welche Bücher biblisch sehr vereinfacht. Nur die schwierige Frage nach den Apokryphen wird gesondert thematisiert, jedoch kürzer als in der lateinischen Fassung: Karlstadt wolle nicht Augustinus, der irrtümlicherweise viele unbiblische Bücher guthieß, sondern Hieronymus folgen und halte deshalb – wie im Hebräischen Kanon – allein 22 Bücher für kanonisch.21 Als Apokryphen werden dagegen das Gebet Manasse,22 die letzten zwei Bücher Esdras, Tobias, Judith, Weisheit, Ecclesiasticus, die zwei Bücher der Makkabäer, Baruch, die letzten zwei Kapitel und ein Teil des dritten Kapitels des Buches Daniels bezeichnet.23
Manche dieser Apokryphen haben die Kirchenväter zitiert und werden in vielen Gemeinden gelesen und gesungen, bekennt Karlstadt. Dies muss den christlichen Leser nicht überraschen oder verletzen, da in diesen Büchern viele Stellen mit anderen biblischen Texten übereinstimmen und sie deshalb nicht bedenkenlos abgelehnt werden können, auch wenn niemand dazu gezwungen ist, sie zu akzeptieren. Die Schriftautorität ist auch in Welche Bücher biblisch nur durch den Kanon definiert und wirkt aufgrund der inhaltlichen Ähnlichkeit mit demselben über den Kanon hinaus. Die Kirchenväter oder die Verwendung in der Kirchengemeinde machen die Apokryphen deshalb nicht kanonisch, da alle »menschen red und sententz« unvergleichbar geringer als die Heilige Schrift, d. h. der Kanon sind.24
In einem weiteren Paragraphen werden die Apokryphen, ähnlich wie in der lateinischen Fassung, zwischen Hagiographen und völlig Apokryphen unterteilt. Vor allem die erste Gruppe darf man nicht leichtfertig verneinen, da sie dem Inhalt anderer kanonischer Bücher unter vielen Gesichtspunkten entspricht, dennoch sollte sie weder in der theologischen Auseinandersetzung gegen hartnäckige Häretiker noch zur christlichen Ausbildung der Jugend eingesetzt werden.25 Damit greift Karlstadt Themen, die er in De canonicis scripturis erörtert hatte, nochmals auf; gleichzeitig lässt er die damaligen Auseinandersetzungen außerhalb und innerhalb Wittenbergs – und vor allem mit Luther – dieses Mal unerwähnt, damit die praktischen, pastoralen Ratschläge im Vordergrund stehen.
Dies gilt ebenso für die darauffolgende Aufgliederung des Neuen Testaments, erneut in drei Kategorien. Im niedrigsten, dennoch kanonischen Rang füge er den Jakobusbrief ein.26Viel ausführlicher erörtert Karlstadt auch hier die pädagogischen Anregungen seines Traktats, indem er seinen Lesern einen christuszentrierten und praxisorientierten hermeneutischen Schlüssel bietet: Christen sollen in der Schrift den Sohn Gottes suchen und finden, denn wer »Christum und sein wort vor augen« hat, der kann die ganze Schrift verstehen und sogar »alle finsternusz erleuchten«, d. h. alle dunklen und problematischen biblischen Stellen – wie z. B. die Apokalypse – richtig auslegen. Zu diesem Zweck ist es Karlstadt zufolge angebracht, »solche schrifften [zu] lesen/ die Christum mit seinem leyden/ mit seiner kraft/ mit seiner guttickeit/ mit seiner heylickeit abmalen«, sodass man Christus nachahmt und nur seiner Lehre folgt, nicht menschlichen Worten, unabhängig davon, ob sie von einem Engel, einem Theologen oder dem Papst selbst ausgesprochen sind.27 Noch konkreter empfiehlt Karlstadt, morgens eine Passage aus dem Neuen Testament – z. B. aus dem Matthäusevangelium – und abends eine aus dem Alten Testament – z. B. aus dem Deuteronomium – zu lesen oder sich vorlesen zu lassen,28 sodass man den Zusammenhang zwischen Gesetz und Evangelium wahrnimmt.29
Die Schrift war höchstwahrscheinlich bereits abgeschlossen, als Karlstadt noch einen zusätzlichen, rhetorisch völlig abgetrennten Absatz mit »etlich notabilia« einfügte. Zu diesen sechs Bemerkungen zählt, dass der Papst und allgemeine Konzilen den biblischen Schriften nachgeordnet seien. Diese könnten durch ein in der Bibel besser fundiertes Argument sogar von einem Bauern korrigiert werden. Die Kirche sei ebenfalls nach der Heiligen Schrift zu richten, nicht umgekehrt. Folglich solle die Kirche nur der Bibel glauben. In den biblischen Büchern sei »der Christlich glaub abgemalt und auszgetruckt«.30 Schließlich seien die kanonischen Bücher aus diesem Grund »form/ massen/ und regeln des rechten glaubens«. Diese sechs »notabilia«, die kohärent den ersten Teil von De canonicis scripturis aufgreifen31, erlauben Karlstadt, die Unvereinbarkeit zwischen der Heiligen Schrift und den päpstlichen Gesetzen sowie Dekreten anzuprangern. Karlstadt zieht diesmal aber drastische Schlüsse aus diesen Prämissen und erklärt nachdrücklich Leo X. zum Ketzer und seine Dekrete und Bullen zu »hellischen« Dokumenten.32
Durch die Veröffentlichung der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine radikalisierte sich die Kritik Karlstadts am Papsttum und führte zum endgültigen Bruch mit Rom, der sich in Welche Bücher biblisch niederschlug. Dies markiert einen Wendepunkt in seinem Denkhorizont. Dennoch besteht weiterhin eine begriffliche und argumentative Kontinuität nicht nur mit der lateinischen Fassung von De canonicis scripturis, sondern auch mit den 1518 verfassten Thesen gegen Johannes Eck und Johannes Tetzel. Schon in den Apologeticae conclusiones hatte Karlstadt im Anschluß an das Decretum Gratiani behauptet, Häretiker sei jeder, der die Bibel um irdischer Vorteile oder zur Verteidigung menschlicher Meinung, d. h. eines Irrtums, anders verstehe, als es der Heilige Geist verlange.33 Häretische Lehren schaden nicht nur denjenigen, die sie vertreten, sondern auch dem Volk, das durch sie getäuscht ist.34 Diese Thesen diskutiert De canonicis scripturis erneut auch aufgrund kirchenjuristischer Argumente.35 Der letzte Paragraph von Welche Bücher biblisch führt sie schließlich bis zu extremen Konsequenzen, indem der Papst, Leo X., unter die falschen Propheten gezählt wird. Parallel zu dieser pars destruens definiert Karlstadt die Lektüre der Heiligen Schrift nicht nur als Recht sondern sogar als Verpflichtung für alle Christen (auch für einfache Laien), wie er in der kurz davor erschienenen Päpstliche Heiligkeit ausführlicher aufgezeigt hatte.36