Nr. 172
12 Conclusiones: De legis non furtum facies impletione et testamentorum legatione
Wittenberg, [1520, Ende]

Einleitung
Bearbeitet von Ulrich Bubenheimer

1. Überlieferung

Frühdrucke:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
⁌Concluſiones duodecim de legis ‖ nō furtum facies/impletione et teſtamentoꝛum le⸗‖gatione altarium/ et miſſarum fundatione.
in:
Luther, Martin; Karlstadt, Andreas Bodenstein von; Melanchthon, Philipp u. a.
Inſignium theologoꝛū ‖ Domini Martini Luthe⸗‖ri/domini Andꝛee Caroloſtadij/ ‖ Philippi Melanthonis et ‖ aliorū/ cōcluſiōes ‖ varie/ꝓ diui‖ne gratie ‖ defenſione ac cōmendatione: contra ſcola‖sticos  pelagianos:diſputate ‖ in preclara academia ‖ Vvittenbergenſi. ‖ ✠ ‖ Lege lector  afficieris/verſa facie ‖ catalogum inuenies. ‖ [TE]
[Leiden]: [Jan Seversz], [1520/21], fol. C3r–v.
4°, 12 Bl., A 4–B 4. Pag.: 2 (A1v)–24 (C4v) – TE.
Editionsvorlage:
Biblioteca valdese, Torre Pellice, A.III.12.64.
Weitere Exemplare: Bodleian Library, Oxford, Tr. Luth. 39 (195). — Det Kongelige Bibliotek, Kopenhagen, 24,35.
Bibliographische Nachweise:

[B:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Concluſiones duodecim de Legis non fur⸗‖tum facies,impletione & teſtamentorum lega⸗‖tione altatium, & miſſarum fundatione.
in:
Luther, Martin; Karlstadt, Andreas Bodenstein von; Melanchthon, Philipp u. a.
INSIGNIVM THEOLOGORVM ‖ Domini MartiniLutheri, dominiAndree ‖ Baroloſtadij , Philippi melan‖thonis & aliorum ‖ conclu⸗‖ſiones varię, pro diuinæ gratiæ defenſione ‖ ac commendatione,contra ſco‖laſticos & pelagianos ‖ diſputate ‖ in præ⸗‖clara academia. ‖ Vvittembergenſi. ‖ Lege leor & afficieris verſa facie catalogum ‖ inuenies.
[Paris]: [Pierre Vidoué], [1521?], fol. D4r–v.
4°, 18 Bl., A 4–C 4, D 6.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, M: Li 5530 Slg. Hardt (38, 662)Einziges bekanntes Exemplar; Provenienz: Heino Gottschalk, Abt des Benediktinerklosters Oldenstadt bei Uelzen2, mit dessen handschriftlichen Korrekturen3.
Bibliographische Nachweise:

Edition:

2. Inhalt und Entstehung

Die vorliegende Thesenreihe ist erstmals in der ersten gedruckten Sammlung Wittenberger Thesenreihen überliefert. Die Sammlung bietet zunächst elf Thesenreihen, als deren Verfasser bereits im vorangestellten Inhaltsverzeichnis Luther (7), Karlstadt (3) und Melanchthon (1) genannt sind. Darauf folgen sechs Thesenreihen unter der Sammelüberschrift »Quorundam aliorum doctorum conclusiones« (»Thesen gewisser anderer Doktoren«). Jedoch konnte der Herausgeber der Sammlung nur zu den beiden letzten Thesenreihen die Namen ihrer Verfasser in abgekürzter Form bieten: »M[agister] J[ohannes] D[ölsch] Viltkerchen[sis]«4 und »G[eorgius] E[lnerius] D[e] S[taffelstein]«5. Beide waren Glieder der theologischen Diskussionsgemeinschaft an der Wittenberger Universität6. Karlstadt hat den gedruckten Teil seines Augustinkommentars mit einem Brief an Georg Elner abgeschlossen, der ihm bei der Korrektur des Werkes zur Seite stand7. Elner wurde auch die Confutatio (fol. 2r) zugeignet.

Der unbekannte Herausgeber der Leidener Thesensammlung hat am Anfang der sechs Thesenreihen »anderer Doktoren« zunächst drei das Gesetz Gottes betreffende Thesenreihen thematisch zusammengestellt. Der ersten, die wir hier edieren, hat er die Überschrift gegeben: »Zwölf Thesen über die Erfüllung des Gesetzes ›Du sollst nicht stehlen‹, über testamentarische Vermächtnisse, Stiftung von Altären und Messen«. Dem Herausgeber hat diese Thesenreihe besonders zugesagt, denn er hat im Inhaltsverzeichnis, in dem die von ihm stammenden Überschriften der im Druck enthaltenen Thesenreihen verzeichnet sind8, nur vorliegender Thesenreihe eine eigene Wertung hinzugefügt: »Pulchre conclusiones de impletione legis […]«.

Die Thesenreihe beginnt mit der Feststellung, dass die buchstäbliche Befolgung des Verbotes »Du sollst nicht stehlen« nicht vor Gott, sondern nur vor den Menschen gerecht mache (Th. 1), denn es gebe viele Menschen, die Diebe seien, ohne sich jemals fremdes Gut angeeignet zu haben (Th. 2). In diesem Sinn hätten das Verbot des Diebstahls wie auch andere göttliche Gesetze dem Menschen Unerfüllbares vorgeschrieben (Th. 3). Jenes Verbot werde nämlich richtig verstanden in Verbindung mit der (Goldenen) Regel »Was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, solches müsst auch ihr ihnen tun.« (Th. 4). Diese Regel werde nicht befolgt, wenn einem in materieller Not befindlichen Bruder erst »in äußerster Not«, d. h. in Todesgefahr, und nicht umgehend geholfen werde (Th. 6). Jene Form des Diebstahls – Aufschieben der Hilfe für den Bruder – begehen auch diejenigen, die erst auf dem Sterbebett Memorien oder Altäre stiften, die von Gott nicht geboten sind, statt »den lebenden heiligen Armen« mit ihrem Vermögen zu Hilfe zu kommen (Th. 8). Wenn es besser wäre, weltlichen Besitz erst über ein Testament für fromme Zwecke statt bei Lebzeiten an die Armen zu verteilen, dann dürfe man Augustin nicht dafür loben, dass er kein Testament gemacht habe (Th. 9). Gegen das richtig verstandene Diebstahlsverbot verstoßen auch die Pfründenjäger, die so viele geistliche Lehen anhäufen, dass man davon bis zu zehn oder mehr Notleidende versorgen könnte (Th. 10). Schließlich trifft entsprechender Tadel auch diejenigen, die Geld für Würfelspiel verschwenden statt dieses den Armen zu geben (Th. 11), denn jedes von Gier motivierte Spiel sei gegen die Liebe (Th. 12).

Einige Inhalte dieser Thesenreihe (Th. 1 und 2) stehen in auffallender Abhängigkeit von Kapitel 8 der Augustinschrift De spiritu et littera9 sowie von Karlstadts Auslegung dieses Kapitels in seinem Augustinkommentar10. Insbesondere aus diesem Grund legt es sich nahe, die Thesenreihe Karlstadt zuzuschreiben. Zu dem von Augustin aus Paulus (Röm 2,21) zitierten Vorwurf an die Juden: »Der du predigst, man dürfe nicht stehlen, (doch) selbst stiehlst.«11 bemerkte Karlstadt am Rand seines Vorlesungsdrucks: »Der ist gegenüber Gott wegen Diebstahls schuldig geworden, der keinen äußeren Diebstahl beging.«12 Dabei wird Diebstahl sowohl im Augustinkommentar13 als auch in Th. 2 unserer Thesenreihe im Anschluss an das römische Recht14 definiert als Nutzung fremden Gutes gegen den Willen von dessen Besitzer. Auch die Eingangsthese, dass die buchstäbliche Erfüllung des Diebstahlgebotes nur »vor den Menschen«, nicht »vor Gott« gerecht mache (Th. 1) greift auf Augustins Ausführungen zurück15.

Für Karlstadt als Verfasser spricht schließlich auch die von ihm seit den 151 Conclusiones wiederholt betonte und aus Augustin entwickelte Aussage, dass die göttlichen Gesetze dem Menschen »Unmögliches« auferlegten16, da die menschliche Natur diese nicht erfüllen könne.

Über Karlstadts Augustinkommentar hinaus gehen die Anwendung der in Th. 1–3 formulierten Grundsätze über die Erfüllung des Diebstahlverbots auf konkrete Praktiken der Armenfürsorge jener Zeit, mit denen er zugleich kirchliche Praktiken wie testamentarische Stiftungen (Memorien und Altäre), die dem Abhalten von Messen dienten, sowie die Pfründenhäufung als Missstände angreift. Die durch Abschaffung dieser Missstände frei werdenden finanziellen Mittel sollten der Armenfürsorge zugewandt werden. Implizit vertritt Karlstadt hier bereits einen Anspruch der Armen auf eine den Zustand »äußerster Not« prophylaktisch verhindernde reguläre Fürsorge, deren Verweigerung Karlstadt als »Diebstahl« im Sinne eines geistlichen, über den Buchstaben hinaus gehenden Verständnisses des Gebotes »Du sollst nicht stehlen« definiert. Eine solche geistliche Auslegung biblischer Gebote im Interesse der Gestaltung eines christlichen Gemeinwesens ist ein für Karlstadt typischer und zentraler Aspekt seiner Schrifthermeneutik. Die in der Thesenreihe vorgetragenen Ansätze für eine Armenordnung sollte Karlstadt im Januar/Februar 1522 im zweiten Teil seiner Schrift Vom Abtun der Bilder und dass keine Bettler unter den Christen sein sollen17 zu einem umfassenderen Konzept der Sozialfürsorge ausweiten.

Es bleibt die Frage zu beantworten, warum der Herausgeber der Thesensammlung vorliegender Reihe das Lob »pulchre conclusiones« beigegeben hat. Vermutlich war es die in jener Zeit wohl Aufsehen erregende Anwendung des Diebstahlsverbots auf die genannten testamentarischen Stiftungen für fromme Zwecke. Denn dieses Thema hat er in die Überschrift aufgenommen, während er die Kritik an Pfründenhäufung und an Würfelspiel, die als solche nichts Neues war, nicht heraushob.

Die in der vorliegenden Thesenreihe enthaltene Kritik an kirchlichen Praktiken jener Zeit spricht gegen eine frühe Datierung in das Jahr 1518, in dem Karlstadt in seiner Vorlesung über Augustins De spiritu et littera das 8. Kapitel kommentierte. Denn damals übte Karlstadt derartige Kritik zumindest öffentlich noch nicht. Die Thesenreihe dürfte ein bislang als solches nicht erkanntes Dokument aus der Wittenberger theologischen Diskussion sein, die die erste Wittenberger Armenordnung, die »Ordnung des gemeinen Beutels«18, vorbereitete19. Diese Ordnung wird von der gegenwärtigen Forschung auf Ende 1520 oder Anfang 1521 datiert20. Wie sehr die vorliegende Thesenreihe mit der einschlägigen internen Wittenberger Diskussion zusammenhängt, zeigt der Umstand, dass Karlstadts auf praktische Reformen zielende Hauptforderungen, Abschaffung von Messstiftungen sowie der Pfründenhäufung, sich auch in Luthers Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation (abgeschlossen Juli 152021) finden22, in der Luther im Kontext der Forderung nach Abschaffung des Bettelwesens auch Vorschläge für eine städtische Armenordnung machte23. Karlstadts genannte Forderungen dürften von Luther abhängig sein. In diesem Licht wird vorliegende Thesenreihe in die Zeit zwischen August 1520 und Dezember 1520 eingeordnet.


1Zu weiteren bibliographischen Daten s. KGK I.1, Nr. 58, S. 487f.
2Zu Gottschalk s. KGK I.1, Nr. 26, S. 366 und Nr. 58, S. 489.
3Zu weiteren bibliographische Daten s. KGK I.1, Nr. 58, S. 489.
4Überschrift der Thesenreihe: »Questio theologica cum quatuor conclusionibus de sacramentis noue legis«. Insignium theologorum, fol. C4r–v (= Pag. 23f.).
5Die Auflösung der Abkürzung dieses Namens verdanke ich Herrn Dr. Henning Bühmann, Universität Göttingen. Überschrift der Thesenreihe: »De divini nominis imploratione«. Weitere Thesenreihen sind von Elner nicht bekannt. Elner war nicht Doktor, sondern baccalaureus formatus der Theologie.
6Zu Dölschs Anteil vgl. Kruse, Universitätstheologie, insbesondere 94–96 und 319–323.
7Dabei bezieht sich Karlstadt sowohl auf die von ihm als auch die vom Drucker zu verantwortenden Fehler. Augustinkommentar, KGK I.2, Nr. 64, S. 723, Z. 11–27. Zu Elner s. Bünger/Wentz, Brandenburg, 134f.
8Insignium theologorum, fol. A2v (Pag. 2).
9Karlstadt bezieht sich in den Thesen auf Aug. spir. et litt. 8, 13 (CSEL 60, 164,17–165,24).
10KGK I.2, Nr. 64, S. 640, Z. 1–S. 642, Z. 17.
11Aug. spir. et litt. 8, 13 (CSEL 60, 164,25f.).
12KGK I.2, Nr. 64, S. 640,Z. 9–11 am Rand.
13KGK I.2, Nr. 64, S. 641, Z. 24f.
15Aug. spir. et litt. 8, 13 (CSEL 60, 165,21–24). In seinem Kommentar verwendet Karlstadt die Unterscheidung zwischen »forum hominum« und »tribunal Christi« (KGK I.2, Nr. 64, S. 641,25f.).
16Dazu s. die Einleitung zur Zirkulardisputation über lex factorum und lex fidei, KGK II, Nr. 113, S. 139–141.
18WA 59, 63–65. Strohm/Klein, Ordnung Europas 2, 12f.; 15–17.
19Vgl. Kruse, Universitätstheologie, 273–277. Kruse nimmt einen »Entscheidungs- und Diskussionsprozeß, der dem Erlaß der ›Beutelordnung‹ vorausging«, an, vermerkt jedoch einschränkend einen Mangel an Quellen (Kruse, Universitätstheologie, 274).
22In Art. 22 über Messstiftungen: WA 6, 451,20–26 und 452,19 u. 26. Vgl. Kaufmann, Adel, 391–396.
23In Art. 21: WA 6, 450,22–451,19. Vgl. Kaufmann, Adel, 384–391.

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