Einleitung in die Kritische Gesamtausgabe Karlstadts (KGK), Teil VI

von Thomas Kaufmann

Dieser sechste Band unserer Karlstadt-Ausgabe umfasst die Schriften, Briefe und sonstigen Texte des Jahres 1523, in dem der Ablösungsprozess vom Wittenberg Luthers fortschritt, die Konfliktthemen zunahmen und die Ansätze einer dann in Orlamünde erstrebten Reformation in der Trägerschaft der politischen und kirchlichen Gemeinde deutlich hervortraten. Mit Karlstadts Selbstlaisierung als »Bruder Andres« traten volksprachliche Texte dominierend in den Vordergrund. Der strukturelle Wandel seines literarischen Handelns manifestierte sich auch darin, dass sein akademisches Schrifttum nunmehr bis in die Baseler Zeit unterbrochen ist und Korrespondenzen in der Überlieferung weitgehend ausfallen.

Die Sacharja-Vorlesung (KGK 238), die sich in einem Fragment Stephan Roths in Zwickau erhalten hat, dokumentiert das Ende der ca. eineinhalb Jahrzehnte währenden Lehrtätigkeit Karlstadts an der Leucorea. Vermutlich handelt es sich um die lediglich das erste Kapitel des Sacharjabuches umfassende Nachbearbeitung einer studentischen Mitschrift. Der erhaltene Teil der Vorlesung führt in die prophetischen Visionen, die zum Wiederaufbau Jerusalems geführt hätten, ein. Auch die Bedrückung und Rettung Israels habe der Prophet geschaut. Gott tröstet durch Verheißungen, die Glauben begründen. Daraufhin schildert Karlstadt gemäß der Loci-Methode thematische Schwerpunkte des Sacharjabuches, ohne freilich den Duktus des biblischen Buches zu ignorieren. Die wichtigsten Loci, die er in einer summarischen Übersicht vorstellt, sind das Gebet, die Kirche, Priester und Auserwählte, Eide, Engel, Fasten, Werke und Opfergaben, die Macht Gottes, das Reich Gottes, Antichristen und böse Priester, Betrübnisse und Adams Joch. Nach der Einleitung folgt Karlstadts Kommentar zu Sach 1, in dem bekannte Motive seiner Theologie anklingen: die Bekehrung des Menschen allein durch Gott; die enge Verbindung der Erweckung des Glaubens mit dem Hass gegen die sündhafte menschliche Natur. Die Macht der Sünde sei schwerlich zu überschätzen. Der letzte erhaltene Abschnitt der Vorlesung behandelt den ersten Locus: das Gebet. Das Gebet folgt aus dem Glauben und vermittelt zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Willen. Wahr sei allein ein an den Verheißungen Gottes orientiertes Gebet.

Mit der stark mystisch gefärbten Schrift Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes (KGK 239) stellte sich Karlstadt explizit als »eyn neuer ley« vor sein Lesepublikum. Die erschlossenen Druckorte Köln und Augsburg künden von Karlstadts Schwierigkeiten, typographische Infrastruktur zu nutzen, aber wohl auch von den Netzwerkverbindungen seines Schwagers Gerhard Westerburg. Das Kernthema der Schrift, das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Willen und die Rolle der Heiligen Schrift in Hinblick auf die göttliche Willenskundgabe, hat Karlstadt seit 1519 beschäftigt. Auch das Thema der Verzweiflung an den eigenen Kräften und des gelassenen Vertrauens auf Gott trieb ihn seit längerem um. Die deutlich hervortretenden mystischen Motive und Sprachformen koinzidieren in dieser Schrift mit Karlstadts neuem Selbstverständnis als Laie. Diese Selbstinszenierung bekundete seinen Bruch mit dem seine bisherige Existenz tiefgreifend prägenden akademischen Habitus und die Hinwendung zu einer seines Erachtens unverstellten laikalen simplicitas, die näher zu Gott sei.

Bereits im Februar 1523 hatte Karlstadt mit einem spektakulären Eintrag im Dekanatsbuch das Ende seiner Mitwirkung an Promotionen erklärt. Als »neuer Laie« vollzog er nun einen lebensgeschichtlichen Umbruch. Bereits Ende 1522 hatte er einen Landsitz in Wörlitz bei Wittenberg gekauft, wo er sich immer häufiger aufhielt; ab dem Spätsommer versuchte er dann in Orlamünde als einfacher Bauer zu leben. Die nun in ihren lebensreformerischen Konsequenzen hervortretenden Ansätze der Karlstadtschen Theologie bildeten die Grundlage für die forcierten Auseinandersetzungen mit Luther, zu denen es im Folgejahr 1524 kommen sollte. Die ins Zentrum des theologischen Interesses gerückte, dezidiert antiakademisch und antiintellektualistisch verstandene »Gelassenheit« sprach in mystischer Terminologie die uneingeschränkte liebende Hingabe an Gott und die geistliche Vereinigung mit ihm an. Die für jeden Christen geltende exklusive Schülerschaft gegenüber Gott schließe jede menschliche Meisterschaft aus. Lehrmeister sei allein der göttliche Geist, der in die Herzen der Gläubigen eingehe. Selbstverleugnung, Gelassenheit, Einfältigkeit ermöglichen es den Christen, sich vom Willen Gottes und seinem Geist leiten zu lassen. Neben den Nachwirkungen der Taulerlektüre ist Karlstadts Rezeption der einst von Luther edierten Theologia Deutsch evident. Christus wollte nicht seinen eigenen, sondern den Willen des Vaters erfüllen; darin ist er das Vorbild vollkommener Gottesliebe. Die von Gott selbst gewirkte Hingabe an seinen Willen eröffnet den Weg der inneren Wiedergeburt des sich selbst hassenden Sünders. Freilich stellt dies einen unabschließbaren Prozess dar; die Schwachheit des Fleisches verhindert jede Vollkommenheit, regt aber zum fortgesetzten Kampf um die Abtötung des Selbst und um Gelassenheit an. Gottes Willen denkt Karlstadt zugleich als einfältig und mannigfach, wirkend und zulassend; die Spannung in Gottes Willen selbst löst Karlstadt teleologisch durch die Hoffnung auf den Sieg des Guten auf.

Mit Was gesagt ist: Sich gelassen (KGK 241) antwortete Karlstadt auf eine verschollene Anfrage eines Lesers aus dem Laienstand, der um eine Erläuterung der Begriffe »gelassen« und »Gelassenheit« bat. Diese Anfrage wird Karlstadt im Frühjahr 1523 erreicht haben. Auch im Falle des mutmaßlichen Augsburger Erst- und des gleichfalls in der schwäbischen Metropole produzierten Zweitdrucks von Was gesagt ist: Sich gelassen aus dem Frühjahr 1523 zeigen sich die erschwerten Publikationsbedingungen, unter denen der erneut als »neuer Laie« auftretende Wittenberger Dissident stand. Die Schrift entstand wohl noch in Wittenberg, vor Karlstadts definitivem Wechsel nach Orlamünde. Das abermals aufgegriffene theologische Zentralthema »Gelassenheit« entfaltet Karlstadt im Anschluss an die einschlägige mystische Literatur (Tauler; Theologia Deutsch). Detaillierter als in seinen früheren Texten geht es dem diesbezüglich von einem Leser befragten Karlstadt aber nun darum, die existentiellen Konsequenzen der »Gelassenheit« auch für sich selbst, sein Verhältnis zur Universität Wittenberg und zur reformatorischen Praxis zu explizieren. Die Schrift ist entsprechend ihrem Anlass mit dialogischen Elementen durchzogen. »Gelassenheit« führt in die Schule Gottes und indiziert den Grad der Einigung mit dem Willen des Herrn. »Gelassenheit« impliziert Preisgabe des individuellen Selbst und Verlassenheit von geschöpflichen Entitäten aller Art. Bemerkenswert ausführlich denkt Karlstadt in dieser Schrift über die Wortbedeutung und Genese der »Gelassenheit« nach. Als biblischen Beleg für »Gelassenheit« erkennt Karlstadt dem 1. Gebot eine Schlüsselrolle zu. Buße, Kampf gegen die eigene Sünde, befördert die Disposition für »Gelassenheit«. Die Sündenvergebung durch Christus erfolgt nur in Bezug auf einen durch die Buße »gelassenen« Sünder. In dichotomischer Veranschaulichung konfrontiert er sündige Ungelassenheit und durch Gottesliebe bestimmte Gelassenheit; erstere verbindet er in spezifischer Weise mit der von ihm abgelegten akademischen Existenz. Anhand von Beispielen aus dem Handwerk illustriert Karlstadt in dieser Schrift, was es bedeutet, ein Schüler oder Lehrling Christi zu sein. Die innere Offenbarung in der Seele des Glaubenden sollte durch das äußere Autoritätszeugnis der Schrift bestätigt werden. Die Einswerdung mit Gott vollzieht sich unter Preisgabe der individuellen Merkmale der Seele und des Selbst (Ichheit). Christus als Inbegriff des neuen Lebens ist das Vorbild der Selbstüberwindung schlechthin. In Zuspitzung auf das Universitätssystem, aber auch am Beispiel zwischenmenschlicher Liebe zeigt Karlstadt auf, wie stark ehrsüchtige, von Gott trennende Selbstliebe den Alltag des Menschen beherrscht. Die Vaterunser-Bitte, nicht in Versuchung geführt zu werden, deutet er im Sinne des Wunsches, von dem Tun des Bösen bewahrt zu werden.

In einer erst im Herbst 1524 gedruckten Schrift mit dem Titel Von den zwei höchsten Geboten der Liebe (KGK 247), der eine im Oktober 1523 gehaltene Predigt zugrunde lag, schritt Karlstadt auf seiner laientheologischen Deutungslinie voran. Sie war einem Joachimstaler Bürger gewidmet; offenbar erwiesen sich die Beziehungen in die westböhmische Bergbaumetropole noch immer als vital. Erneut rückte Karlstadt mystische Gedankenfiguren ins Zentrum seiner der Auslegung des Predigttextes Mt 22,37--40 dienenden Argumentation. Wie in Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes (KGK 239) und Was gesagt ist: Sich gelassen (KGK 241) ging es ihm um die Erkenntnis Gottes und um die als Gelassenheit gedeutete Übereinstimmung mit seinem Willen. In Von den zwei höchsten Geboten der Liebe (KGK 247) betonte er allerdings stärker als bisher, dass der Mensch fähig sei, Gott wohlgefällige Werke zu tun. Als erstes und höchstes Werk galt ihm die glaubensreiche Liebe bzw. der liebreiche Glaube, die wahre Erkenntnis Gottes in Liebe. Aus diesem Werk ergebe sich die Befolgung der göttlichen Gebote. Aus der Liebe Gottes fließe die Liebe des Nächsten. Der Gottesliebe entspreche die voluntative Vereinigung mit ihm, die von dem Orlamünder Prediger als in die Seele des Menschen gesenkte Liebe bestimmt wird. Ganzheitliche Erkenntnis Gottes durch die ungeteilte Seele erfordere die vollständige Hingabe an seinen Willen und die völlige Abkehr von jeder geschöpflichen Wirklichkeit. Dies zu erreichen diene die Nachfolge Christi, die Karlstadt als prozessuales Wachstum beschreibt, in dem Selbst- und Nächstenliebe verbunden seien.

Karlstadts Etablierung als Pfarrer in Orlamünde war kompliziert und umstritten. In einer Eingabe wandte er sich an den für das Gebiet zuständigen Herzog Johann von Sachsen mit der Bitte (Mai 1522; KGK 242), ihm die Pfarrstelle als Pfarrer oder Konventor (auch vicarius perpetuus) zu übertragen. Sie war dem Archidiakonat Karlstadts zugehörig. Er argumentierte so, dass er eine angemessene Besoldung erhoffte, die den Ausstieg aus dem Pfründensystem, in das er bisher verstrickt sei und dem er entkommen wolle, ermögliche. Der bisherige Inhaber dieser Stelle hatte sie, wie der Orlamünder Rat den Herzog wissen ließ (KGK 242, Beilage 1), in einem desolaten Zustand hinterlassen. Deshalb unterstützte der Rat Karlstadts Bitte, zunächst ein bis zwei Jahre, also interimistisch, dort tätig werden zu können. Diese gemeinsame Initiative Karlstadts und des Orlamünder Rats umging den eigentlichen Entscheidungsweg (Universität; Allerheiligenstift; Kurfürst) und wurde von Herzog Johann seinem Bruder überwiesen. Kurfürst Friedrich schien grundsätzlich bereit zu sein, der Bitte aus Orlamünde zu entsprechen, ob er eine Stellungnahme von Allerheiligenstift und Universität Wittenberg in dieser Sache einforderte, ist nicht bekannt (KGK 242 und KGK 243). Daraus ergibt sich, dass die Position, in der Karlstadt die Pfarrei übernahm – als Archidiakon, also Pfarrer, oder Konventor – rechtlich ungeklärt blieb; dies begründete einen Teil der Konflikte des Folgejahres.

In den Juli 1523, wohl in die Zeit des definitiven Wechsels nach Orlamünde, datiert offenbar eine erneut in Wittenberg abgefasste Schrift, die sich der Bedeutung Marias widmet: Selig ohne Fürbitte Marias (KGK 244). Beginnend mit einem Nürnberger Druck erreichte sie 1524 insgesamt vier Ausgaben. Anlass der Schrift war die Predigt eines altgläubigen Priesters, der die Interzession Marias verfochten und deshalb von einem Predigthörer aus dem Laienstand öffentlich kritisiert worden war. Der Predigtstörer war daraufhin verhaftet worden. Zeit und Ort des Vorgangs, aber auch seine Faktizität, sind unklar. Möglicherweise war Karlstadt um eine gutachterliche Stellungnahme gebeten worden, die zunächst handschriftlich kursierte und erst später im Druck erschien. Karlstadts Kritik an Marias Mittlerschaft fügt sich in eine seit 1522 nicht zuletzt durch Luther in Gang gekommene Kontroverse um die religiöse Rolle der Gottesmutter. Karlstadt bestreitet Marias Mittlerschaft als unbiblisch, aber auch weil sie die Bedeutung Christi mindere oder zerstöre. Eine Anrufung Marias diene nicht der Seligkeit, sondern widerspreche der göttlichen Heilsordnung. Im zweiten Teil seiner Schrift rechtfertigt Karlstadt den Predigtstörer, der sich auf die Bibel berufen habe; von der Heiligen Schrift her sei ein solches Verhalten gerechtfertigt. Insofern könne eine Predigtstörung durch einen die Schrift auslegenden Laien als geradezu vorbildlich gelten. Selig ohne Fürbitte Marias dokumentiert laienemanzipatorische Vorstellungen, die Karlstadt in seiner Orlamünder Pfarrtätigkeit umsetzte. In einem Erfurter Nachdruck dieser Schrift wurde ein Passus von einer Predigt Luthers eingefügt, der – anders als Karlstadt – auf die Rolle der weltlichen Obrigkeiten bei der Einsetzung evangelischer Prediger abhob.

Ein aus dem Juli 1523 erhaltener Brief Thomas Müntzers an Karlstadt (KGK 245) spricht für eine nicht übermäßig intensive, nicht unkritische Beziehung zwischen beiden. Offenbar sah Müntzer zum damaligen Zeitpunkt in Karlstadt – wohl wegen der Wittenberger Kirchenordnung von 1522 – einen kundigen Reformer der Armenversorgung. Hinsichtlich der Priesterehe fühlte sich der damals noch zölibatär lebende Müntzer den Wittenbergern überlegen; offenbar hielt er Karlstadt auch seine Pfründen vor.

Einen gewissen Eindruck der theologischen und pastoralen Tätigkeit Karlstadts vermittelt der Sermon von Engeln und Teufeln (KGK 246), dessen Erstdruck 1524 in Straßburg erschien, aber wohl bereits im September 1523 in Orlamünde gehalten worden war. Karlstadt versucht in dieser Schrift die Angelologie allein auf biblischer Grundlage zu reformulieren und Engel als Visionen und Auditionen zu internalisieren. In Bezug auf die Vorstellung von Teufeln geht es ihm darum, gleichfalls auf biblischer Grundlage zu versachlichen und den Gedanken an sie von Angstmomenten zu befreien. Die göttliche Inanspruchnahme von Engeln als Trägern der Verkündigung ist ein zentraler Aspekt seines Sermons. Die scholastischen Theorien zur Physik der Engelleiber als traditioneller Teil der Angelologie, auch die Frage nach der Beschaffenheit als Seelen reflektiert er im Spiegel biblischer Befunde. Teufel als gefallene Engel gab es schon vor aller Zeit. Ein apokalyptisch konnotierter, mythologischer Kampf der Engel um die Verheißung Christi wird von Karlstadt als innerseelischer Vorgang im Menschen gedeutet. Teufelsfurcht fördere den Götzendienst der Menschen in Kulthandlungen, Bilderverehrung, Wallfahrten etc. Allein Gotteserkenntnis aufgrund der Offenbarung im Seelengrund vertreibe die Angst vor dem Teufel. Gute Engel nehmen den Menschen die Furcht vor sich und begegnen in Visionen und Auditionen; sie legen aber auch biblische Worte im Glaubenden aus. Im Kern sind Engel also innere Stimmen der Offenbarung und Auslegung des göttlichen Wortes und der Berufungsgewissheit. Eine kultische Verehrung von Engeln lehnt Karlstadt ab. Die Laien, an die er sich wendet, sollen befähigt werden, angstfrei mit Engeln und Teufeln umzugehen. Insofern fügt sich auch diese Schrift in den Zusammenhang seiner auch in den anderen mystisch grundierten Texten der Orlamünder Zeit erkennbaren Bemühung um Laienemanzipation ein.

Mit der Niederlassung des Erfurter Buchdruckers Johann Michael alias Michel Buchführer in Jena setzte gegen Jahresende 1523 eine neuerliche Phase intensivierter Publizistik Karlstadts ein. Er eröffnete sie mit einer stärker »autobiographisch« akzentuierten Schrift mit dem Titel Ursachen seines Stillschweigens und von rechter Berufung (KGK 248). Karlstadt nennt in der Schrift vor allem Unsicherheiten über seine Berufung, die ihn zu schweigen veranlasst hätten. Dass die Konflikte mit Luther seine Zugriffsmöglichkeiten auf Druckerpressen erheblich eingeschränkt haben dürften, thematisiert er nicht. Die Identifikation der »Brüder«, die Karlstadt seiner eigenen Angabe zufolge zu publizieren veranlassten, ist nicht ganz leicht. Die innere Berufung, die Karlstadt für sich beanspruchte, impliziert auch, dass er sich angesichts der rechtlichen Unklarheiten bezüglich seines Orlamünder Amtes zu legitimieren versucht. Außerdem führt er den Unmut über die Drucker als Grund seines Stillschweigens an. In der Tat waren alle Schriften des Jahres 1523 an Orten erschienen, die seine Mitwirkung am Druckprozess, etwa durch Korrekturlesen, verhindert hatten. Für die Prävalenz der inneren vor der äußeren Berufung nahm Karlstadt den Apostel Paulus in Anspruch. Durch das Gebet sei die Berufung erkennbar. Die mit der Läuterung der Seele im Fegefeuer verglichene Selbstprüfung Karlstadts wird als entscheidendes Motiv seines Stillschweigens identifiziert. Ihm lag offenbar daran, seiner Orlamünder und einer verstreuten Lesergemeinde Kriterien der wahren Berufung zu lehren, die Berufenen in einen Zustand der Gelassenheit und des vollständigen Gottesgehorsams zu versetzen und gegenüber Anfechtungen, wie sie Karlstadt selbst nicht zuletzt durch Luther zuteilwurden, immun und unabhängig zu machen. Karlstadts Berufungskonzeption galt im Grundsatz für jeden Christen und war im Kern gegen die Wittenberger Theologie des geistlichen Amtes gerichtet.

Die letzte Veröffentlichung, die im Übergang des Jahres 1523/24 als zweiter Druck Buchführers in Jena erschien, präludiert die dann dominierende Thematik des Schicksalsjahres 1524. Mit der Schrift Von dem Priestertum und Opfer Christi (KGK 249) legte Karlstadt erneut einen umfänglichen Beitrag zur Abendmahlsfrage vor. Hinsichtlich der Orlamünder Mahlpraxis besitzt es die größte Wahrscheinlichkeit, dass er sich an der Wittenberger Stadtordnung vom Januar 1522 und am Leitbild der einsetzungsgemäßen Schlichtheit orientierte. Dabei behandelte Karlstadt in der Schrift keine Fragen der praktischen Abendmahlsgestaltung. Im Zentrum stand vielmehr die seit Luthers Abendmahlsschriften des Jahres 1520 zentrale Opferthematik. Neben Impulsen Luthers verarbeitete Karlstadt vermutlich auch solche aus dem berühmten 18. Artikel von Zwinglis Auslegung seiner Schlussreden von 1523. Insbesondere die Orientierung am Wiedergedächtnis des Kreuzestodes als Zentrum des Abendmahlsgeschehens nahm Karlstadt als Anregung des Züricher Reformators auf. Dabei kam der Betonung der Einmaligkeit des Opfers Christi im Sinne des Hebräerbriefs eine entscheidende Rolle zu. Karlstadt knüpfte hier auch an die Hebräerbriefparaphrase des Erasmus von Rotterdam an. Anders als Zwingli, Erasmus durchaus ähnlich, zielte Karlstadt aber darauf ab, die noetischen Momente des Gedächtnisses in den Vordergrund zu rücken. Die Verwurzelung des Karlstadtschen Denkens in der mystischen Tradition wird auch in dieser Schrift, vor allem durch Anklänge an Tauler und die Theologia Deutsch, deutlich. Karlstadts Absage an die Lehre und Praxis des Messopfers gründet sich auf biblisch-christologische Argumente. Im Zentrum steht die Exklusivität des Kreuzesopfers des sündlosen Gottessohnes, das jedes kultische Opfer obsolet mache. Christi Hingabe begründe Vergebung der Sünden und Versöhnung mit dem Vater. Die aneignende Erinnerung an bzw. die Erkenntnis, dass Christus sich für uns dahingegeben habe, bildet für Karlstadt das Zentrum des Abendmahlsritus. Die Lehre vom Messopfer impliziere, dass Christi Kreuzesopfer nicht genugsam sei; das aber widerspreche dem Schriftzeugnis. Die erinnernde Danksagung bildet den eigentlichen Inhalt einer schriftkonformen Abendmahlspraxis. Der Christus opfernde Messpriester töte Christus erneut – wie die Häscher und Pharisäer. Doch Karlstadt identifiziert auch die Laien, vor allem aus Adel und höherem Bürgertum, als Mitverantwortliche, da sie Messen stifteten. Die Abschaffung der Messpfründen und eine angemessene Besoldung verarmter Priester sei anzustreben. Auch den Gebrauch des Wortes »Messe« weist Karlstadt entschieden zurück. Damit präludiert er eine dann 1524 explizit geführte Auseinandersetzung mit Luther, die in die tiefgreifende, die »Einheit« der reformatorischen Bewegung auflösende Kontroverse um das Abendmahl einmünden wird.

Vor dem Hintergrund des vorangegangenen Schrifttums Karlstadts zeigt sich der zäsurierende Charakter seines literarischen Handelns im Jahr 1523 deutlich: volksprachliche Texte dominieren; akademische Text- und Argumentationsformen verlieren ihre Bedeutung; der Bezug auf laikale Rezipienten bildet den Fokus seiner Publizistik; die bisher eher subkutan wahrnehmbaren mystischen Vorstellungen rücken ins Zentrum einer gegenüber Luther und den Wittenbergern immer eigenständigeren Theologie. Im erzwungenen Rückgang der publizistischen Produktivität, den Karlstadt öffentlich selbst thematisiert (KGK 247), kündigt sich ein an der Jahreswende 1523/24 immer akuter werdender Mitteilungs- und Aktionsdrang an, der in den kommenden Monaten des Jahres 1524 schließlich zur Eskalation des Konfliktes mit Luther und Wittenberg führen wird.


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