Nr. 245
Thomas Müntzer an Andreas Karlstadt
[Allstedt] , 1523, 29. Juli

Einleitung
Bearbeitet von Stefanie Fraedrich-Nowag

1. Überlieferung

Handschrift:

[a:]Rossijskaja Gosudarstvennaja Biblioteka Moskva, Fonds 218, Nr. 390, fol. 24r–v

Vormals LHA Dresden, Loc 10327. Autograph mit Siegelspuren. Brief weist unten in der Mitte die ältere Blattzählung »25« auf.

Editionen:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Das vorliegende Schreiben zählt zu den wenigen schriftlichen Zeugnissen, mit denen sich ein persönlicher Kontakt zwischen Müntzer und Karlstadt nachweisen lässt – insgesamt sind lediglich drei Schreiben ihrer Korrespondenz überliefert, die sich allesamt im Nachlass Müntzers befanden1; die Gegenüberlieferung auf Karlstadts Seite muss als verloren gelten. Über Art und Intensität ihres Kontakts lässt sich vor dem Hintergrund der Quellenlage daher kaum etwas sagen, genauso wenig, wann und wo sie sich kennen gelernt haben.2 Es spricht allerdings einiges dafür, dass der Kontakt zwar durchaus freundschaftlich, doch eher sporadisch und auch zunehmend distanziert gewesen ist.

Gleich zu Anfang seines Schreibens bringt Müntzer seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass Karlstadt ihm entgegen seines Versprechens nicht geschrieben und er daher keinerlei Kenntnis von seinen Lebensumständen habe. In diesem Zusammenhang weist er auch auf Karlstadts bestehende Botenverbindung nach Orlamünde hin.3Müntzer verband mit seinem Schreiben jedoch auch einen konkreten Anlass: Karlstadt sollte den Briefüberbringer Nikolaus [Rucker]4 in Bezug auf die Armen in Allstedt (»causa pauperum nostrorum«) beraten. Den Nonnen – gemeint ist hier das Zisterzienserinnenkloster Naundorf in der Nähe von Allstedt – seien die Abgaben entzogen worden, um sie dem dortigen Armenwesen zuzuführen. Gegen dieses Vorgehen hatte die Äbtissin Sophie von Schafstedt beim Kurfürsten Einspruch eingelegt und die Abgaben zurückgefordert.5 Auf diese Problematik geht Müntzer an dieser Stelle jedoch nicht ein, sondern verweist stattdessen auf das persönliche Gespräch mit Rucker. Möglicherweise – so Müntzer mit Blick auf Karlstadts juristische Ausbildung und praktische Erfahrung in Bezug auf die Neuordnung des Wittenberger Armenwesens – wolle Gott Karlstadt als Prozessbevollmächtigten (»procurator«), damit er sühne, was er im prunkvollen Aufzug für den Antichrist begangen habe (»pompactio fastu Antichristi«).6 In seinem Postskriptum lässt Müntzer noch Karlstadts Frau, Anna von Mochau, grüßen mit dem Hinweis, er lebe (weiterhin) in der alten Strenge gegenüber Gott (»Ego in prisca erga Deum versor severitate«).7

Zum Zeitpunkt seines Schreibens vermutete MüntzerKarlstadt noch auf seinem bäuerlichen Landsitz in Wörlitz ca. 15 km südwestlich von Wittenberg, wie aus der Anrede »Suo charissimo fratri Andree Carolostadio in Worlitz agricole« hervorgeht. Wohl in der zweiten Jahreshälfte 1522 hatte Karlstadt im Zusammenhang mit seiner persönlichen Abkehr vom altkirchlichen Gelehrtendasein und der damit einhergehenden Entwicklung hin zum »neuen Lai«8 ein Haus auf dem Land erworben, welches er Müntzer bei seinem Besuch in Wittenberg hatte zeigen wollen – so Karlstadt in seinem Brief vom 21. Dezember 1522.9 Ob dieses Vorhaben jemals in die Tat umgesetzt wurde, ist jedoch unklar. Der persönliche Gruß an lässt jedoch vermuten, dass es zumindest ein kurzes persönliches Treffen möglicherweise in Wittenberg gegeben hat.10Müntzers Bote, Nikolaus Rucker, traf Karlstadt im Juli 1523 offenbar jedoch weder in Wörlitz noch in Wittenberg an und kehrte daher unverrichteter Dinge nach Allstedt zurück.11Müntzer hatte also anscheinend noch keine Kenntnis von der Übersiedelung Karlstadts nach Orlamünde, die dieser spätestens seit Mai 1523 anstrebte und im Laufe des Sommers auch vollzog.12 Dies legt nahe, dass Karlstadt sich wohl seit ihrem vermutlichen Aufeinandertreffen in Wittenberg nicht bei Müntzer gemeldet hatte – über die Gründe hierfür kann jedoch nur spekuliert werden.13 Ob Müntzer sich seinerseits vor Juli 1523 schriftlich an Karlstadt gewandt hatte, ist ebenfalls unklar, auch wenn er davon auszugehen scheint, dass Karlstadt über seine persönliche Entwicklung und die Übernahme der Pfarrei in Allstedt informiert war.14


1Vgl. KGK 237; KGK 245 sowie ein Brief Karlstadts an Müntzer vom 19. Julli 1524 (wird in KGK VII ediert). Zum Briefwechsel zwischen Müntzer und Karlstadt insgesamt siehe Bräuer, Briefwechsel. Dieser zählt auch den Sendbrief der Orlamünder an die Allstedter (TMA 2, 292–296 Nr. 87, wird in KGK VII ediert) hinzu.
2Müntzer und Karlstadt kannten sich höchstwahrscheinlich seit Müntzers erstem Aufenthalt in Wittenberg 1517/18; vgl. Bräuer/Vogler, Müntzer, 63–67. Zu Müntzers Aufenthalt in Wittenberg siehe Bubenheimer, Müntzer, 145–153.
3Müntzer unterhielt seit seinem Aufenthalt in Orlamünde Kontakte dorthin, namentlich zum dortigen Konventor Konrad Glitzsch; vgl. Bubenheimer, Müntzer, 175–186. Die Erwähnung dieser Botenverbindung könnte eine Aufforderung darstellen, auch auf diesem Weg mit Müntzer in Kontakt zu treten, da Karlstadt ja schon qua Amt Kontakte nach Orlamünde unterhielt. Dieser Hinweis ist jedoch unabhängig von seiner Übersiedelung dorthin zu sehen, von der Müntzer ebenso wenig Kenntnis hatte wie von der Tatsache, dass Glitzsch die Pfarrei zu diesem Zeitpunkt längst verlassen hatte; vgl. KGK 242.
4Unter den Anhängern Müntzers in Allstedt befand sich ein gewisser Nikolaus Rucker; zu ihm siehe KGK KGK (Anmerkung).
5Tatsächlich war das Kloster 1524 mit dieser Eingabe erfolgreich und erreichte schließlich, dass der Abgabenentzug rückgängig gemacht werden musste; vgl. Bräuer/Vogler, Müntzer, 203f. Siehe auch TMA 2, 512 Anhang 4. Zur Geschichte des Klosters siehe Mitzschke, Nachweisungen.
6Hierbei bezieht sich Müntzer wahrscheinlich auf die bisherige Verstrickung Karlstadts in das altkirchliche Pfründensystem, das diesem selbst ein »Ärgernis« war; vgl. KGK 242. Zur Interpretation dieser Formulierung siehe KGK KGK (Anmerkung).
7Die Interpretation, diese Äußerung sei dahingehend zu verstehen, dass Müntzer zu diesem Zeitpunkt noch nicht verheiratet war, ist unsicher. Hierzu siehe Bräuer, Briefwechsel, 197f.; TMA 2, 190f. Anm. 16.
8Hierzu siehe KGK 239 sowie Zorzin, Gelassenheit, 230f.
9Vgl. KGK 237: »Deducam te in novum meum hospitum, quod in rure comparavi.« Dass sich der hier erwähnte Landsitz in Wörlitz befand, geht erst aus dem vorliegenden Schreiben hervor, siehe die von Müntzer verwendete Anrede KGK 245 (Textstelle).
10Vgl. Bräuer, Briefwechsel, 194. Bräuer/Vogler, Müntzer und TMA 2, 150 Nr. 53 datieren dieses Treffen zuletzt auf den 21./22. Dezember 1523. Tatsächlich könnte es aber auch später stattgefunden haben, der üblicherweise für diese Vermutung herangezogene Brief Karlstadts vom 21. Dezember 1522 (KGK 237) lässt nicht zwingend auf ein Treffen direkt am nächsten Tag schließen, da er keinerlei Hinweis auf den Aufenthaltsort Müntzers zu diesem Zeitpunkt enthält und lediglich den Wunsch Karlstadts nach einem baldigen Treffen in Wittenberg zum Ausdruck bringt. Ebenso wenig gibt dieser Brief Anlass zu der Vermutung, dass MüntzerKarlstadt in seinem vorhergehenden, heute verschollenen Brief (KGK 236) um Vermittlung einer Stelle gebeten und dieser ihm die Stelle als Kaplan in Glaucha bei Halle vermittelt habe. Die Tatsache, dass Müntzer bereits am 24. Dezember 1522 in Glaucha das Abendmahl in beiderlei Gestalt spendete, lässt diese Theorie eher unwahrscheinlich erscheinen und legt die Vermutung nahe, dass Müntzer diese Stelle bereits früher – ggf. schon Anfang Dezember 1522 – angetreten hat; so bspw. Elliger, Müntzer, 242f. Vor diesem Hintergrund ist der verschollene Brief Müntzers weder zwingend auf den 20. Dezember 1522 zu datieren noch muss er sich zu diesem Zeitpunkt zwingend in der Nähe von Wittenberg aufgehalten haben. Müntzer hätte sich daher auch erst nach Weihnachten zu Karlstadt begeben können.
11Dies zumindest legt die Tatsache nahe, dass sich der vorliegende Brief im Nachlass Müntzers befand.
12Über den genauen Zeitpunkt seiner Übersiedelung nach Orlamünde lässt sich keine gesicherte Aussage treffen; wahrscheinlich pendelte er noch geraume Zeit zwischen Wörlitz, Wittenberg und Orlamünde. Vgl. Einleitung zu KGK 243.
13Elliger, Müntzer, 367 vermutet, »daß Karlstadt seine ängstliche Scheu vor einem Briefwechsel mit ihm [Müntzer] noch immer nicht überwunden« hatte, die er im schlechten Ruf Müntzers in Wittenberg vermutete, vgl. auch Elliger, Müntzer, 242. Diese Argumentation ist nicht ganz von der Hand zu weisen, sah sich Karlstadt zu diesem Zeitpunkt doch bereits einer weitgehenden Isolation in Wittenberg ausgesetzt und betrieb daher seine Übersiedelung nach Orlamünde.
14Über den Weggang Müntzers aus Glaucha und die Übernahme der Pfarrei in Allstedt hätte Karlstadt über seinen Onkel, Nikolaus Demuth, bzw. über in Wittenberg kursierende Nachrichten informiert sein können. Der Brief Müntzers an Luther vom 9. Juli 1523, in dem er auch Karlstadt grüßen lässt, ist ebenfalls bereits mit »parochus Allstedtensis« unterzeichnet; vgl. TMA 2, 160–172 Nr. 58; WA 3, 104–107 Nr. 630. Müntzer suchte nach der Übernahme der Pfarrstelle in Allstedt anscheinend zunächst erneut den Anschluss an die Wittenberger Reformatoren, sein Versuch war jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Bereits am 3. August 1523 äußerte sich Luther nach dem Besuch des Allstedter Schössers Zeiß gegenüber Spalatin kritisch zu Müntzer; vgl. WA.B 3, 119–121 Nr. 641.

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