1. Überlieferung
Handschrift:
Vormals LHA Dresden, Loc 10327. Autograph mit Siegelspuren. Brief weist unten in der Mitte die ältere Blattzählung »25« auf.
Editionen:
- Seidemann, Müntzer, 129f. Beilage Nr. 22.
- MBrW, 46 Nr. 43.
- TMBW.L, Tafel 39 (Faksimile).
- MSB, 393 Nr. 43.
- TMA 2, 187–191 Nr. 61.
Literatur:
- Barge, Karlstadt 2, 15f.
- Bräuer, Briefwechsel, 193–198.
2. Entstehung und Inhalt
Das vorliegende Schreiben zählt zu den wenigen schriftlichen Zeugnissen, mit denen sich ein persönlicher Kontakt zwischen Müntzer und Karlstadt nachweisen lässt – insgesamt sind lediglich drei Schreiben ihrer Korrespondenz überliefert, die sich allesamt im Nachlass Müntzers befanden1; die Gegenüberlieferung auf Karlstadts Seite muss als verloren gelten. Über Art und Intensität ihres Kontakts lässt sich vor dem Hintergrund der Quellenlage daher kaum etwas sagen, genauso wenig, wann und wo sie sich kennen gelernt haben.2 Es spricht allerdings einiges dafür, dass der Kontakt zwar durchaus freundschaftlich, doch eher sporadisch und auch zunehmend distanziert gewesen ist.
Gleich zu Anfang seines Schreibens bringt Müntzer seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass Karlstadt ihm entgegen seines Versprechens nicht geschrieben und er daher keinerlei Kenntnis von seinen Lebensumständen habe. In diesem Zusammenhang weist er auch auf Karlstadts bestehende Botenverbindung nach Orlamünde hin.3Müntzer verband mit seinem Schreiben jedoch auch einen konkreten Anlass: Karlstadt sollte den Briefüberbringer Nikolaus [Rucker]4 in Bezug auf die Armen in Allstedt (»causa pauperum nostrorum«) beraten. Den Nonnen – gemeint ist hier das Zisterzienserinnenkloster Naundorf in der Nähe von Allstedt – seien die Abgaben entzogen worden, um sie dem dortigen Armenwesen zuzuführen. Gegen dieses Vorgehen hatte die Äbtissin Sophie von Schafstedt beim Kurfürsten Einspruch eingelegt und die Abgaben zurückgefordert.5 Auf diese Problematik geht Müntzer an dieser Stelle jedoch nicht ein, sondern verweist stattdessen auf das persönliche Gespräch mit Rucker. Möglicherweise – so Müntzer mit Blick auf Karlstadts juristische Ausbildung und praktische Erfahrung in Bezug auf die Neuordnung des Wittenberger Armenwesens – wolle Gott Karlstadt als Prozessbevollmächtigten (»procurator«), damit er sühne, was er im prunkvollen Aufzug für den Antichrist begangen habe (»pompactio fastu Antichristi«).6 In seinem Postskriptum lässt Müntzer noch Karlstadts Frau, Anna von Mochau, grüßen mit dem Hinweis, er lebe (weiterhin) in der alten Strenge gegenüber Gott (»Ego in prisca erga Deum versor severitate«).7
Zum Zeitpunkt seines Schreibens vermutete MüntzerKarlstadt noch auf seinem bäuerlichen Landsitz in Wörlitz ca. 15 km südwestlich von Wittenberg, wie aus der Anrede »Suo charissimo fratri Andree Carolostadio in Worlitz agricole« hervorgeht. Wohl in der zweiten Jahreshälfte 1522 hatte Karlstadt im Zusammenhang mit seiner persönlichen Abkehr vom altkirchlichen Gelehrtendasein und der damit einhergehenden Entwicklung hin zum »neuen Lai«8 ein Haus auf dem Land erworben, welches er Müntzer bei seinem Besuch in Wittenberg hatte zeigen wollen – so Karlstadt in seinem Brief vom 21. Dezember 1522.9 Ob dieses Vorhaben jemals in die Tat umgesetzt wurde, ist jedoch unklar. Der persönliche Gruß an lässt jedoch vermuten, dass es zumindest ein kurzes persönliches Treffen möglicherweise in Wittenberg gegeben hat.10Müntzers Bote, Nikolaus Rucker, traf Karlstadt im Juli 1523 offenbar jedoch weder in Wörlitz noch in Wittenberg an und kehrte daher unverrichteter Dinge nach Allstedt zurück.11Müntzer hatte also anscheinend noch keine Kenntnis von der Übersiedelung Karlstadts nach Orlamünde, die dieser spätestens seit Mai 1523 anstrebte und im Laufe des Sommers auch vollzog.12 Dies legt nahe, dass Karlstadt sich wohl seit ihrem vermutlichen Aufeinandertreffen in Wittenberg nicht bei Müntzer gemeldet hatte – über die Gründe hierfür kann jedoch nur spekuliert werden.13 Ob Müntzer sich seinerseits vor Juli 1523 schriftlich an Karlstadt gewandt hatte, ist ebenfalls unklar, auch wenn er davon auszugehen scheint, dass Karlstadt über seine persönliche Entwicklung und die Übernahme der Pfarrei in Allstedt informiert war.14