1. Überlieferung
Frühdrucke:
Uon manigfeltigkeit ∥ des eynfeltıgen ey∥nigen willen ∥ gottes· ∥ was ſundt ſey· ∥ Andꝛes Bodenſteyn ∥ von Carolſtat ∥ eyn newer ∥ Ley· ∥ Anno·M·D.xxiiȷ· ∥ [TE] ∥ [Am Ende:] ❧ Gedꝛuckt ym jair Tauſent Funffhundert ∥ vnd dꝛyvndtzwentzick am freytag ∥ nach Gregoꝛij. ∥ ☙
[Köln]: [Arnd von Aich], 1523.
4°, 36 Bl., A4–I4 (fol. A1v und I4r–v leer) -- TE.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, A: 146.9 Theol.(19).Weitere Exemplare: UB Heidelberg, Salem 83,7 RES. — [A1] BSB München, 4 Mor. 92. — [A1] HAB Wolfenbüttel, A: 135 Theol. (21) (auf fol. I3v–I4v langer hsl. Text). — [A1] HAB Wolfenbüttel, 146.12 Theol.(16).
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 B 6251.
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 102.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 53A.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1960.
Uon manigfeltigkait des ∥ ainfeltigen ainigen willen ∥ Gottes. ∥ Was ſünd ſey. ∥ Andreas Bodenſtain von ∥ Carolſtat/ ain newer Lay. ∥ Anno.M.D.XIIII. ∥ [TE]
[Augsburg]: [Silvan Otmar], 1524.
4°, 34 Bl., A4--G4, H6 (fol. A1v und H6r–v leer) -- TE.
Editionsvorlage:
BSB München, 4° Mor. 93.Weitere Exemplare: BSB München, 4 Exeg.152m. — ÖNB Wien, 35.F.48.
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 B 6252.
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 103.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 53B.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1961.
Die hier edierte Schrift ist in zwei Ausgaben überliefert. Die erste, die laut Angabe im Kolophon im März 1523 erschien, umfasst zwei Pressvarianten, die im Wesentlichen identisch sind, bis auf die fehlerhafte Bogensignatur »Iiii« auf fol. I2r in A, die A1 in »Iii« korrigiert. Diese Ausgabe zeigt in all ihren Exemplaren eine Vertauschung von fol. A3v und A4r, die deshalb in falscher Reihenfolge gedruckt worden sind.1 Über diesen Kolumnenfehler, der auf das Vertauschen der Druckstöcke zurückgehen dürfte, beklagt sich Karlstadt in seiner Schrift Ursachen seines Stillschweigens und von rechter Berufung (1524).2 Ausgabe A ist höchstwahrscheinlich in Köln in der Werkstatt von Arnd von Aich3 erschienen und trägt eine Titeleinfassung.4 Es ist unklar, wer den Druck veranlasst hat, allerdings lässt sich eine Beteiligung Gerhard Westerburgs vermuten, dessen 1523 ebenfalls in Köln erschienene Traktate die in KarlstadtsSermon vom Fegefeuer (KGK V, Nr. 233) vertretenen Auffassungen verbreiten sollten.5 In Köln waren jedoch noch weitere Anhänger Karlstadts tätig, u.a. Nicolaus Symmens aus Weida,6 der sich in einer 1524 ebenfalls bei Arnd von Aich herausgegebenen Schrift, wie Karlstadt in der hier edierten Schrift, auf dem Titelblatt als »neuer Laie« bezeichnete.7
Eine zweite Druckausgabe erschien, wie auf dem Titelblatt angegeben, 1524, höchstwahrscheinlich bei Silvan Otmar in Augsburg, der bereits Von den Empfängern des Sakraments (KGK IV, Nr. 183) gedruckt hatte.8 Gegenüber der Kölner Ausgabe weist sie keine wesentliche Abweichung in der Textwiedergabe auf, korrigiert aber den Kolumnenfehler auf fol. A3v und A4r. Die beiden Ausgaben weisen allgemeine sprachliche Unterschiede auf, beispielsweise dort, wo A die phonetische Form »ei« verwendet, gibt B »ai« an; wo A die Buchstabenkombinationen »gkich« bzw. »uß« vorweist, verwendet B »gklich« bzw. »auß«. Schließlich ergeben sich leichte Unterschiede bei der Verbkonjugation, beispielsweise »ihr solt« in A und »ihr solten« in B.
Edition:
- Furcha, Essential Carlstadt, 185–228.
Literatur:
- Jäger, Carlstadt, 311–325.
- Barge, Karlstadt 2, 21–36.
- Kriechbaum, Grundzüge, 68–73; 84–89.
- Sider, Karlstadt, 213–215.
- Hasse, Tauler, 126–129.
- Looß, Bild, 281–286.
- Zecherle, Rezeption, 223–265.
2. Entstehung und Inhalt
Die Schrift Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes markiert eine neue Phase, aber keinen Bruch in Karlstadts Theologie und Leben. Sie greift Themen und Argumente auf, die in den vorherigen Jahren bereits ausführlich umrissen worden waren: das bereits in der Leipziger Disputation9 diskutierte Verhältnis zwischen dem menschlichen Willen (der zwangsläufig zur Sünde führt) und dem göttlichen Willen (als einziger Quelle des Heils); der in den Schriften zum Kanon10 herausgestellte Vorrang der Heiligen Schrift als unmittelbarer Ausdruck des göttlichen Willens, der allen Gläubigen, auch den ungebildeten, zugänglich sei;11 vor allem aber die ab 1520 mit Tugend Gelassenheit (KGK III, Nr. 166) entwickelte Darstellung des Prozesses von der Erkenntnis der eigenen Sünde. Dieser Verlauf führt durch völlige Verzweiflung an den eigenen natürlichen Kräften bis hin zur Gelassenheit und zum Vertrauen auf Gott, um das Heil zu empfangen. Alle diese Motive werden in der hier edierten Schrift thematisiert und neu formuliert, wobei die mystischen Töne noch deutlicher hervortreten und mit einem neuen Selbstverständnis des Autors verbunden werden. Zum ersten Mal definiert sich Karlstadt auf dem Titelblatt als »neuer Laie« und signalisiert damit nicht nur seinen endgültigen Bruch mit dem traditionellen Modell des akademischen Berufstheologen, sondern auch – auf einer tieferen Ebene – die Konkretisierung seines neuen Verständnisses des Christen als Laien.12
Eine Diskussion über die angebliche Überlegenheit der akademischen Gelehrsamkeit im religiösen Bereich hatte sich wohl 1522 in Wittenberg entzündet,13 es ist aber nicht auszuschließen, dass Karlstadt schon 1520 über den Verzicht auf Titulaturen nachzudenken begann, auch wenn er dies in seinen Schriften nicht explizit ausführte.14 Am Ende eines vermutlich langwierigen Prozesses steht der von Karlstadt selbst im Dekanatsbuch festgehaltene Beschluss anlässlich der unter seinem Vorsitz gehaltenen Disputation vom 3. Februar 1523, auf die vorgesehene Besoldung zu verzichten und vor allem fürderhin keine weitere Promotion vorzunehmen.15 Unmittelbar unter diesem Eintrag kommentierte der anwesende Luther handschriftlich im Dekanatsbuch, er habe aus Karlstadts»gottes-lästerlichem Mund gottlose Worte« gehört: Dieser behaupte, wissend sündhaft gehandelt zu haben, weil er für 2 Gulden promovierte, auch wenn nach Mt 23,8 niemand auf Erden Vater oder Meister (Magister) genannt werden dürfe, da es nur einen Meister und Vater im Himmel gebe.16 Dieses Ereignis sowie die etwas spätere, auf dem Titelblatt der hier edierten Schrift festgehaltene Selbstbezeichnung Karlstadts als »neuer Laie« entstanden im Rahmen eines breiteren Verständnisses des christlichen Laienstandes.17
An die Laien hatte sich Karlstadt ab 1520 mit seinen Schriften verstärkt gewandt,18 um sie zu ermahnen, dass die Heilige Schrift sie in Glaubensfragen gelehrter machen könne als jeden Papst und Theologen.19 Dies begründete er durch die prinzipielle Gleichheit aller Gläubigen vor Gott, unabhängig von Geschlecht, Vermögen oder Bildung (Gal 3,28).20 Dass alle Christen – egal ob Päpste oder Bauern – unter sich gleich seien und sich als Schwestern und Brüder betrachten sollten,21 bilde die Voraussetzung zur Verwirklichung eines echten Priestertums aller Getauften.22 Diese Argumentation war bereits in den Jahren 1521/22 der Ausgangspunkt für seine scharfe Kritik am Klerus und den monastischen Orden, an deren Abkehr von der Lehre Christi, der Gier nach Geld und der Erpressung und Korrumpierung der einfachen Gläubigen.23 Auf ähnliche Weise setzt Karlstadt nun dem Modell des Berufstheologen, der sich aufgrund seiner Ausbildung dem einfachen Gläubigen überlegen fühle und dafür auch bezahlt werde, das Modell des christlichen Laien, der durch die Heilige Schrift einen direkten Zugang zur göttlichen Wahrheit habe und sich durch eigene Handarbeit ernähre, entgegen.24 Die im Februar 1523 offiziell geäußerte Entscheidung, niemanden mehr zu promovieren und auf die dazugehörige Besoldung zu verzichten,25 die Selbstbezeichnung als »neuer Laie« in der hier edierten Schrift,26 der Kauf eines Landsitzes in Wörlitz vor Ende 152227 und der Beginn seiner Tätigkeit in Orlamünde im Sommer 1523, um dort als einfacher Bauer zu leben,28 sind vor dem Hintergrund dieser auf das Konzept der Gelassenheit konzentrierten Neuorientierung seiner Theologie zu interpretieren,29 an der sich eine direkte Auseinandersetzung mit Luther entzünden und die mit den Schriften von 1524 ihren vollen Abschluss finden sollte.30
Dieses Laienmodell als privilegierte Lebensform für den Christen im Allgemeinen und im Besonderen für diejenigen, die zur Verkündigung des Wortes berufen sind,31 ist gleichzeitig durch ein verstärktes Hervortreten mystischer Züge gekennzeichnet. Auch die auf dem Titelblatt der Schrift Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes signalisierte Ablehnung von und Kritik an akademischen Titeln steht in engem Zusammenhang mit der hier ebenso entfalteten Lehre der Gelassenheit, der uneingeschränkten Liebe zu dem Vater und der geistlichen Vereinigung mit Gott.32Das hatte Karlstadt bereits 1522 in seiner Predigt am Michaelistag (KGK V, Nr. 232) angedeutet, wo er die »Schule Gottes« darstellte, die Christen an Stelle von weltlichen Akademien besuchen sollten: Da die Wahrheit Gottes kein menschliches Werk, sondern ein himmlisches Geschenk sei, könne sie nur in der »Schule Gottes« ermittelt werden, zu der jeder freien Zugang habe. Dort seien alle Christen »Schüler Gottes«, wie Kinder vom Vater belehrt; dort schreibe Gott – der Schulmeister – die göttliche Wahrheit und Lehre Christi durch den Heiligen Geist – den Lehrmeister – in die Herzen der Gläubigen (Jer 31,33); die Laien, die vertrauensvoll diese »göttliche Schule« besuchten, seien gelehrter als Theologen und Doktoren.33
Karlstadts Verständnis der Theologie bzw. der göttlichen Wahrheit, die in der »Schule Gottes« vermittelt werde, trägt deutlich anti-intellektualistische Merkmale. Die göttliche Wahrheit bestehe nicht aus Begriffen und Syllogismen, die die natürliche Vernunft analysieren und durchschauen können, sondern konfiguriere sich als eine existenzielle Erfahrung, die den Gläubigen in seiner Gesamtheit erfasse und sein Wesen durch geistlichen Tod und Auferstehung radikal verändere. Die Christen und auch die Prediger selbst zeichnen sich folglich nicht durch ihre Gelehrsamkeit und Weisheit aus, sondern durch ihre Einfältigkeit als Folge der Selbstverleugnung und durch ihre Gelassenheit, die es ihnen ermöglichen, sich vom Willen Gottes erfüllen und leiten zu lassen.34 Vor dem Hintergrund dieses mystischen Gedankengangs ist die eindeutige, wenn auch nicht explizite Rezeption der Theologia Deutsch in der hier edierten Schrift konsequent.35 Dieses anonyme Traktat, das 1518 von Luther ediert und 1520 neu herausgegeben wurde,36 war Karlstadt vermutlich schon vor 1523 bekannt und angesichts seiner bereits durch Tauler tiefgreifend beeinflussten Theologie leicht in Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes zu integrieren.37 Sie trägt zur noch deutlicheren Formulierung des von Karlstadt entwickelten mystischen Weges bei, ein Weg durch Verzweiflung, Abtötung des Eigenwillens, geistlichen Tod des alten Adams bis zur Gelassenheit, zur Wiedergeburt in und mit Christus und zur vollkommenen Vereinigung mit Gott.38
Obwohl die mystischen Themen in der hier edierten Schrift deutlicher hervortreten, gibt es auch eine klare Kontinuitätslinie zu den früheren Werken,39 nicht zuletzt zur Leipziger Disputation. Damals ging es darum, die Unmöglichkeit des menschlichen Willens, nicht zu sündigen, nachzuweisen und die augustinische Gnadentheologie zu vertreten. Etwas anders ist die Perspektive im Traktat Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes, dessen Abfassung aufgrund der chronologischen und thematischen Nähe zu den Schriften von 1522 und insbesondere zu den 34 Conclusiones de natura spirituali et corporali (KGK V, Nr. 235) sowie zu einer auch von Karlstadt als Opponent mitdisputierten Wittenberger Thesenreihe zum Ursprung des Bösen und der Sünde in der Allmacht Gottes vom Anfang 1522 oder 1523 (Ob Gott Ursache sei des teuflischen Falls, KGK VII) im Frühjahr 1523 vermutet werden kann.
In den ersten Kapiteln des Buches greift Karlstadt die Definition der Sünde aus der Theologia Deutsch auf. Sünde sei nichts anderes als ein Wille, der dem göttlichen Willen widerspreche oder von ihm abweiche.40 Der menschliche Wille müsse sein postlapsarisches Wesen abtöten und sich daher dem göttlichen Willen angleichen, um Zugang zum Heil zu erhalten. Denn nur wer will, was Gott will, oder wer loslässt, was Gott loslässt, könne sich als Freund – und nicht mehr als Knecht – Christi und des Vaters, der ihn gesandt hat, bezeichnen. Christus selbst sei gekommen, um den Willen des Vaters zu erfüllen, nicht seinen eigenen, und biete damit den Christen das beste Vorbild.
Die vollkommene Übereinstimmung zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Willen sei jedoch kein Werk, das sich von selbst ergibt. Der Vater und mit ihm Christus reinigen und regieren den (menschlichen) Willen desjenigen, der ihnen folgt. Wer dagegen davon überzeugt sei, seinen Willen aus eigener Kraft aufrechterhalten zu können, erreiche nie etwas, das Gott gefällt. Er sündige immer, auch wenn er ununterbrochen bete oder fromme Werke vollbringe und sei immer noch zur Verdammnis verurteilt, weil die äußeren Werke seine innere Abkehr von Gott nicht tilgen. Gott ist Liebe; ihn zu lieben bedeute – so Karlstadt – in ihm zu bleiben, sich seinem Willen unterzuordnen, d.h. den menschlichen Willen absterben zu lassen, um, wie der Samen, Frucht zu bringen (Joh 12,24).41
Diese Lehre begründet Karlstadt unmittelbar danach biblisch, um seine Kritik an all jenen traditionellen Frömmigkeitsformen, durch die man glaubte, sich das Heil verdienen zu können, noch präziser zu formulieren.42 Die Heilige Schrift bezeuge, dass Gott kein Werk gefalle – ganz gleich, wie würdig es erscheine –, wenn es aus menschlichem Eigenwillen entstehe. Aus dieser Voraussetzung ergebe sich, dass wahre Gläubige unbedingt den göttlichen Willen kennen müssten, um das Heil zu erlangen. Nachdem Karlstadt nochmals betont, dass das wahre Wesen der Sünde im eigenen menschlichen Willen und im Ungehorsam bestehe43 und nur die menschliche oder göttliche Natur des Willens, die einer Handlung zugrunde liegt (nicht ihre äußere Erfüllung), sie gottgefällig mache oder nicht, entwickelt er in den folgenden Abschnitten seine These weiter, um den mystischen Weg zur inneren Wiedergeburt allen Christen, auch dem gemeinen Mann, detailliert zu erläutern.
Den eigenen Willen dem des Vaters vorzuziehen, bedeutet in Karlstadts Augen, sich selbst mehr zu lieben als ihn. Hinter der Sünde und dem Eigenwillen stehe also eine verkehrte Liebe, die nicht auf Gott, sondern auf die Geschöpfe gerichtet sei. In diesem Sinne lasse sich die Sünde auf die Missachtung des ersten Gebots zurückführen, wie bereits in Von Gelübden Unterrichtung (KGK IV, Nr. 203) ausführlich dargelegt wurde.44 In der hier edierten Schrift ist der zur Sünde führenden postlapsarischen Eigenliebe folglich der christliche Hass auf sich selbst und den eigenen Willen entgegengesetzt, um die unbeschränkte Liebe und die Hinwendung zu Gott als Heilsweg zu ermöglichen.45Karlstadt verweist noch einmal auf Joh 12,24 und betont, der Mensch müsse sich selbst und seinen Eigenwillen abtöten und in Gott wiedergeboren werden. Die heilbringende Übereinstimmung zwischen menschlichem und göttlichem Willen drückt Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes auch mit dem Bild der Reben aus, die keine Frucht bringen, wenn sie nicht am Weinstock bleiben (Joh 15,4f.). Gelassenheit sei also die grundlegende und beständige Haltung des wahren Christen, der diese auch bei frommen Handlungen einnehme, da er sich bewusst sei, dass jedes Werk allein aus Liebe zu Gott getan werden müsse, nicht aus Eigenwillen oder in Erwartung einer Belohnung. Der wahre Christ habe die Aufgabe, sein Selbst zu kreuzigen, um sich ganz dem göttlichen Willen, der Liebe zum Vater, zu unterwerfen.
Ist diese Übereinstimmung zwischen menschlichem und göttlichem Willen in Karlstadts Augen jedoch wahrhaft erreichbar? Wenn die geistliche Wiedergeburt die Abtötung des Eigenwillens voraussetze, dann stelle die Taufe diesen geistlichen Tod des alten Adam, den Abstieg mit Christus ins Grab und seine Auferstehung als neuer Adam dar.46 Doch – so warnt Karlstadt – wie Paulus selbst bezeugt (Gal 5,17), der die Macht der Sünde weiterhin in sich spürt, sei dieser Prozess langwierig und immer unvollständig. Der Christ befinde sich daher in einem steten Zustand innerer Spaltung, denn obwohl er mit dem Gemüt dem Gesetz Gottes folge, bleibe er mit dem Fleisch der Sünde verhaftet (Röm 7,23–25). Wie bereits in den Thesen vom November 1522 argumentiert wurde, haben die Christen zwei Naturen, eine geistige und eine materielle, eine innere mit Christus und eine äußere mit dem alten Adam.47
Das Bewusstsein darüber, dass es selbst Paulus nicht gelungen sei, das Fleisch und die Sünde vollständig zu besiegen, stürze den Christen in Verzweiflung. Gerade diese Verzweiflung48 sei jedoch eine zentrale Voraussetzung für den Anfang des Bekehrungsprozesses. Weil der Gläubige völlig an sich selbst verzweifele, erkenne er, dass nur Christus ihn von dem Leib des Todes (Röm 7,24f.) befreien könne.49 Der Prozess von der Tötung des eigenen Willens bis zur Wiedergeburt in Christus sei dennoch in diesem irdischen Leben nur begonnen, nie vollendet und abgeschlossen. Die Schrift Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes formuliert dieses Prinzip deutlich: Der alte Adam sterbe langsam, Tag für Tag, in einem andauernden Kampf gegen Hochmut und »Annehmlichkeit«. Und dies geschehe nach dem Willen Gottes: Er bewahre die Schwäche des Fleisches als ständige Mahnung an die Christen, damit sie sich nicht überheben und glauben, sie seien bereits vollkommen wiedergeboren. Gott selbst wolle also nicht sofort den neuen Adam vollständig erschaffen, sondern bewahre in den Gläubigen Reste des alten Adams. Karlstadt macht seinen Lesern diesen Willen Gottes noch deutlicher: Wenn der Mensch das Fleisch, d.h. die postlapsarische Natur mit dem Eigenwillen, zum Freund hat, führe es ihn in Verdammnis; wenn das Fleisch aber als schmerzhafter Stachel in den verzweifelten Christen wirkt, biete es den Gläubigen eine nützliche Anregung, den Prozess von mystischer Abtötung des Selbst und Gelassenheit weiterzuverfolgen.
Trotz der Unmöglichkeit, dem göttlichen Willen unmittelbar und vollständig nachzukommen, ist dessen weitgehende Kenntnis unabdingbar. Der zweite Teil der hier edierten Schrift ist deshalb der Untersuchung des väterlichen Willens gewidmet. Die göttliche Wahrheit, so Karlstadt, sei jedem Gläubigen in seinem eigenen Herzen zugänglich und von Gott in der Heiligen Schrift durch die Lehre der Propheten, Christi und der Apostel überliefert. Gottes Wille bilde den Geist, die Seele, das Leben des Gesetzes, sodass dort, wo der Wille Gottes geschieht, auch das Gesetz erfüllt würde.50 Dieser Wille Gottes, der für die menschliche Vernunft in seinem tiefsten Wesen unbegreiflich ist, manifestiere sich mannigfaltig.
Obwohl die Sünde nichts an Gottes ewiger Gerechtigkeit und Macht ändere, entfremde sie ihn von den Menschen. Gott, der immer jenen beisteht, die ihn suchen und seinem Willen folgen, verdamme daher jede Sünde. Dennoch, so Karlstadt, geschehe auch die Sünde manchmal nach dem Willen Gottes. Um diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen, schlägt Karlstadt eine heuristische Differenzierung zwischen dem ewigen göttlichen Willen und dem sogenannten »verhänglichen«, d.h. zulassenden Willen, vor. Entgegen der scholastischen Terminologie, die unterschiedliche Wesen des göttlichen Willens (ewig oder zeitlich, wirkend oder zulassend) trennte, betont Karlstadt aber, man dürfe dabei keine ontologische Unterscheidung in Gott postulieren. Der Willen Gottes sei gleichzeitig »einfältig«, »einig«, d.h. eine ungespaltene Einheit bildend, und »mannigfaltig«, d.h. in seiner wirkenden Gestaltung scheinbar unterschiedlich. Scheinbar unterschiedlich sei er, da der zulassende Wille auch letztendlich eine schaffende Kraft darstelle, der niemand widerstehen könne, und daher dem Wirkenden, Ewigen gleich. Dies bezeugen Pilatus, Judas und der Antichrist selbst: Sie sündigen schrecklich, erfüllen damit aber den göttlichen Willen, dass Christus stirbt und die göttliche Rache zum Ausdruck kommt. Mehrfach steht in der Heiligen Schrift, Gott habe böse Hirten und falsche Propheten erweckt. Schließlich berichten die Evangelien, Gott selbst mache einige Menschen blind und ungläubig. Zusammenfassend und damit die vorherige Begriffsbestimmung der Sünde aus der Theologia Deutsch erweiternd, führt Karlstadt aus, dass derjenige sündige, der nicht nur gegen den wirkenden Willen, sondern auch gemäß dem zulassenden Willen Gottes handele.51
In welchem Verhältnis stehen jedoch ewiger und zulassender Wille Gottes? Nach Karlstadt ist das Böse, das Gott duldet und zulässt, zum Guten gewendet, obwohl es eine Sünde bleibt. Der göttliche Wille nutze nämlich die geduldeten Sünden, um die Hölle in ein Paradies zu verwandeln, indem er den Verbrecher zur Erkenntnis seiner Nichtigkeit, zur Selbstverzweiflung und damit wieder zum völligen Vertrauen auf den ewigen Willen Gottes führt. Durch seinen zulassenden Willen, der scheinbar im Widerspruch zu seinem wirkenden und ewigen Willen steht, bestrafe Gott die Bösen und setze ihre Sünden ein, um sie zur Bekehrung zu rufen. Auch Mt 21,31 lasse sich so erklären: Zöllner und Dirnen, denen Gott erlaubt hat, in ihrer Sünde zu versinken, erkennen ihre Bosheiten und bekehren sich schneller zu Gott; im Gegensatz dazu werden Heuchler oder Mönche, die davon überzeugt sind, sich fromm zu verhalten und gute Werke zu tun, obwohl sie Gott innerlich nicht folgen und ihn nicht unbeschränkt lieben, ihre Sünden nur langsam erkennen und daher nur schwer in das Himmelreich gelangen.52
Für den scheinbaren Widerspruch zwischen den beiden göttlichen Willen führt Karlstadt viele Beispiele an, u.a. die Verfolgung von wahren Christen und Propheten, die der Vater dennoch zulasse, obwohl sie dem ewigen Willen Gottes widerspreche. Der barmherzige, wohlwollende und ewige Wille erweiche die steinernen Herzen, erleuchte sie, dränge sie zu Christus, erzeuge einen guten Willen und gute Werke. Der zulassende Wille hingegen versteinere die Herzen, mache sie blind und taub, gebe der postlapsarischen Natur nach und lasse so die Sünde zu; er sei also ein zorniger und gewalttätiger Wille.53 Diese beiden Willen seien in Gott nicht geteilt und haben nur in den Augen der Menschen zwei verschiedene Wirkungsweisen.54 Die Heilige Schrift bezeuge zwar, wie Gott die von ihm erduldete Sünde immer zum Guten wende und die Auswirkungen seines zulassenden Willens schließlich wieder in den ursprünglichen Plan seines ewigen barmherzigen Willens zurückführe. Wie sich das Verhältnis dieser beiden Willen in Gott selbst gestaltet, werde jedoch nicht thematisiert. Solche Geheimnisse können Karlstadts Ansicht nach von der menschlichen Vernunft nicht erfasst werden.55 Es sei für Christen ausreichend, die endliche Übereinstimmung beider göttlicher Willen wahrzunehmen, da der zulassende nur zeitbedingt benutzt werde, um den ewigen zu bestätigen. Dennoch müssen die Christen wenigstens erkennen, welcher der beiden göttlichen Willen im eigenen Leben wirkt, um ihre Bekehrung zu überwachen. Diese Frage behandelt Karlstadt in den anschließenden Kapiteln, wo er aus einer mystischen und anti-intellektualistischen Perspektive antwortet, dass der Gläubige nur innerlich wahrnehmen und geistlich spüren könne, ob der eigene postlapsarische Wille verurteilt (durch Gottes barmherzigen und ewigen Willen) oder unterstützt (durch Gottes zulassenden Willen) werde.
Die Differenzierung zwischen dem barmherzigen und dem zulassenden Willen Gottes – ersterer ewig und unveränderlich, letzterer nicht mehr wirkend, sobald das zugelassene sündige Werk vollbracht ist – offenbare einmal mehr die Nutzlosigkeit äußerer Werke, wenn sie nicht aus einer völligen Vereinigung mit Gott und vollkommener Gelassenheit hervorgehen. Das gelte auch für die Taufe: Sie bedeute für wahre Christen nicht so sehr das Eintauchen in materielles Wasser, sondern das innerliche Annehmen des Lebens Christi.56 Man solle die in der Taufe symbolisierte, durch Gott vollzogene innere Verwandlung, die Kreuzigung der eigenen Natur sinnlich (nicht vernünftig) wahrnehmen und spüren. In ähnlicher Weise ist auch die Beschneidung nur wahr, wenn sie im Herzen vollzogen ist, während die äußere Beschneidung nur vorübergehend von Gottes zulassendem Willen angeordnet wurde, niemals aber als Bedingung für die Gnade galt.57
Alle äußeren Werke – einschließlich Taufe und Beschneidung – seien also nur Zeichen der Gerechtigkeit und der inneren Vereinigung mit Gott. Sie belegen, mit anderen Worten, eine bereits in den wahren Christen vollzogene Bekehrung, einen vollkommenen Glauben an Gott, an seinen Willen und seine Macht. In dieser Hinsicht sei der Gläubige, der geistliche Mensch, frei von allen äußeren Werken und Lasten, da er bereits gerettet ist.58 Obwohl also Gott mit seinem zulassenden und zeitlichen Willen erlaubt, Riten, Opfer und äußere Werke zu vollziehen, wirke er mit seinem ewigen und barmherzigen Willen durch den Geist in seiner Innerlichkeit. Gott ist nämlich Geist, und nur durch und mit dem Geist könne sich das Geschöpf mit dem Schöpfer vereinigen. Davor müsse der Christ die vollständige und absolute Selbstvernichtung vollziehen, täglich an der Kreuzigung des Eigenwillens wirken, durch die Verzweiflung passiv werden und sich in perfekter Gelassenheit Gott anvertrauen, um durch den himmlischen Willen erfüllt zu werden und sich von dem Vater leiten zu lassen. Nur wer in einer solchen inneren Einheit mit Gott ist, kann wirklich gute Werke vollbringen und muss nicht mehr fürchten, wie ein Baum an seinen Früchten beurteilt zu werden (Mt 4,16–20).59 Diese Lehre solle jedem Gläubigen den göttlichen Willen offenbaren und zur heilbringenden Vereinigung mit Gott führen. In Karlstadts Augen ist sie durch die Heilige Schrift selbst verkündet und verurteilt unwiderruflich Päpste, Bischöfe, Mönche und alle, die ihre Verkündigung und ihr Verständnis verhindern, und sich damit zu Werkzeugen des Teufels machen.