Nr. 239
Von Mannigfaltigkeit des einfältigen, einigen Willens Gottes. Was Sünde sei.
1523, März

Einleitung
Bearbeitet von Stefania Salvadori

1. Überlieferung

Frühdrucke:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Uon manigfeltigkeit ∥ des eynfeltıgen ey∥nigen willen ∥ gottes· ∥ was ſundt ſey· ∥ Andꝛes Bodenſteyn ∥ von Carolſtat ∥ eyn newer ∥ Ley· ∥ Anno·M·D.xxiiȷ· ∥ [TE] ∥ [Am Ende:] ❧ Gedꝛuckt ym jair Tauſent Funffhundert ∥ vnd dꝛyvndtzwentzick am freytag ∥ nach Gregoꝛij. ∥ ☙
[Köln]: [Arnd von Aich], 1523.
4°, 36 Bl., A4–I4 (fol. A1v und I4r–v leer) -- TE.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, A: 146.9 Theol.(19).
Weitere Exemplare: UB Heidelberg, Salem 83,7 RES. — [A1] BSB München, 4 Mor. 92. — [A1] HAB Wolfenbüttel, A: 135 Theol. (21) (auf fol. I3v–I4v langer hsl. Text). — [A1] HAB Wolfenbüttel, 146.12 Theol.(16).
Bibliographische Nachweise:

[B:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Uon manigfeltigkait des ∥ ainfeltigen ainigen willen ∥ Gottes. ∥ Was ſünd ſey. ∥ Andreas Bodenſtain von ∥ Carolſtat/ ain newer Lay. ∥ Anno.M.D.XIIII. ∥ [TE]
[Augsburg]: [Silvan Otmar], 1524.
4°, 34 Bl., A4--G4, H6 (fol. A1v und H6r–v leer) -- TE.
Editionsvorlage:
BSB München, 4° Mor. 93.
Weitere Exemplare: BSB München, 4 Exeg.152m. — ÖNB Wien, 35.F.48.
Bibliographische Nachweise:

Die hier edierte Schrift ist in zwei Ausgaben überliefert. Die erste, die laut Angabe im Kolophon im März 1523 erschien, umfasst zwei Pressvarianten, die im Wesentlichen identisch sind, bis auf die fehlerhafte Bogensignatur »Iiii« auf fol. I2r in A, die A1 in »Iii« korrigiert. Diese Ausgabe zeigt in all ihren Exemplaren eine Vertauschung von fol. A3v und A4r, die deshalb in falscher Reihenfolge gedruckt worden sind.1 Über diesen Kolumnenfehler, der auf das Vertauschen der Druckstöcke zurückgehen dürfte, beklagt sich Karlstadt in seiner Schrift Ursachen seines Stillschweigens und von rechter Berufung (1524).2 Ausgabe A ist höchstwahrscheinlich in Köln in der Werkstatt von Arnd von Aich3 erschienen und trägt eine Titeleinfassung.4 Es ist unklar, wer den Druck veranlasst hat, allerdings lässt sich eine Beteiligung Gerhard Westerburgs vermuten, dessen 1523 ebenfalls in Köln erschienene Traktate die in KarlstadtsSermon vom Fegefeuer (KGK V, Nr. 233) vertretenen Auffassungen verbreiten sollten.5 In Köln waren jedoch noch weitere Anhänger Karlstadts tätig, u.a. Nicolaus Symmens aus Weida,6 der sich in einer 1524 ebenfalls bei Arnd von Aich herausgegebenen Schrift, wie Karlstadt in der hier edierten Schrift, auf dem Titelblatt als »neuer Laie« bezeichnete.7

Eine zweite Druckausgabe erschien, wie auf dem Titelblatt angegeben, 1524, höchstwahrscheinlich bei Silvan Otmar in Augsburg, der bereits Von den Empfängern des Sakraments (KGK IV, Nr. 183) gedruckt hatte.8 Gegenüber der Kölner Ausgabe weist sie keine wesentliche Abweichung in der Textwiedergabe auf, korrigiert aber den Kolumnenfehler auf fol. A3v und A4r. Die beiden Ausgaben weisen allgemeine sprachliche Unterschiede auf, beispielsweise dort, wo A die phonetische Form »ei« verwendet, gibt B »ai« an; wo A die Buchstabenkombinationen »gkich« bzw. »uß« vorweist, verwendet B »gklich« bzw. »auß«. Schließlich ergeben sich leichte Unterschiede bei der Verbkonjugation, beispielsweise »ihr solt« in A und »ihr solten« in B.

Edition:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Die Schrift Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes markiert eine neue Phase, aber keinen Bruch in Karlstadts Theologie und Leben. Sie greift Themen und Argumente auf, die in den vorherigen Jahren bereits ausführlich umrissen worden waren: das bereits in der Leipziger Disputation9 diskutierte Verhältnis zwischen dem menschlichen Willen (der zwangsläufig zur Sünde führt) und dem göttlichen Willen (als einziger Quelle des Heils); der in den Schriften zum Kanon10 herausgestellte Vorrang der Heiligen Schrift als unmittelbarer Ausdruck des göttlichen Willens, der allen Gläubigen, auch den ungebildeten, zugänglich sei;11 vor allem aber die ab 1520 mit Tugend Gelassenheit (KGK III, Nr. 166) entwickelte Darstellung des Prozesses von der Erkenntnis der eigenen Sünde. Dieser Verlauf führt durch völlige Verzweiflung an den eigenen natürlichen Kräften bis hin zur Gelassenheit und zum Vertrauen auf Gott, um das Heil zu empfangen. Alle diese Motive werden in der hier edierten Schrift thematisiert und neu formuliert, wobei die mystischen Töne noch deutlicher hervortreten und mit einem neuen Selbstverständnis des Autors verbunden werden. Zum ersten Mal definiert sich Karlstadt auf dem Titelblatt als »neuer Laie« und signalisiert damit nicht nur seinen endgültigen Bruch mit dem traditionellen Modell des akademischen Berufstheologen, sondern auch – auf einer tieferen Ebene – die Konkretisierung seines neuen Verständnisses des Christen als Laien.12

Eine Diskussion über die angebliche Überlegenheit der akademischen Gelehrsamkeit im religiösen Bereich hatte sich wohl 1522 in Wittenberg entzündet,13 es ist aber nicht auszuschließen, dass Karlstadt schon 1520 über den Verzicht auf Titulaturen nachzudenken begann, auch wenn er dies in seinen Schriften nicht explizit ausführte.14 Am Ende eines vermutlich langwierigen Prozesses steht der von Karlstadt selbst im Dekanatsbuch festgehaltene Beschluss anlässlich der unter seinem Vorsitz gehaltenen Disputation vom 3. Februar 1523, auf die vorgesehene Besoldung zu verzichten und vor allem fürderhin keine weitere Promotion vorzunehmen.15 Unmittelbar unter diesem Eintrag kommentierte der anwesende Luther handschriftlich im Dekanatsbuch, er habe aus Karlstadts»gottes-lästerlichem Mund gottlose Worte« gehört: Dieser behaupte, wissend sündhaft gehandelt zu haben, weil er für 2 Gulden promovierte, auch wenn nach Mt 23,8 niemand auf Erden Vater oder Meister (Magister) genannt werden dürfe, da es nur einen Meister und Vater im Himmel gebe.16 Dieses Ereignis sowie die etwas spätere, auf dem Titelblatt der hier edierten Schrift festgehaltene Selbstbezeichnung Karlstadts als »neuer Laie« entstanden im Rahmen eines breiteren Verständnisses des christlichen Laienstandes.17

An die Laien hatte sich Karlstadt ab 1520 mit seinen Schriften verstärkt gewandt,18 um sie zu ermahnen, dass die Heilige Schrift sie in Glaubensfragen gelehrter machen könne als jeden Papst und Theologen.19 Dies begründete er durch die prinzipielle Gleichheit aller Gläubigen vor Gott, unabhängig von Geschlecht, Vermögen oder Bildung (Gal 3,28).20 Dass alle Christen – egal ob Päpste oder Bauern – unter sich gleich seien und sich als Schwestern und Brüder betrachten sollten,21 bilde die Voraussetzung zur Verwirklichung eines echten Priestertums aller Getauften.22 Diese Argumentation war bereits in den Jahren 1521/22 der Ausgangspunkt für seine scharfe Kritik am Klerus und den monastischen Orden, an deren Abkehr von der Lehre Christi, der Gier nach Geld und der Erpressung und Korrumpierung der einfachen Gläubigen.23 Auf ähnliche Weise setzt Karlstadt nun dem Modell des Berufstheologen, der sich aufgrund seiner Ausbildung dem einfachen Gläubigen überlegen fühle und dafür auch bezahlt werde, das Modell des christlichen Laien, der durch die Heilige Schrift einen direkten Zugang zur göttlichen Wahrheit habe und sich durch eigene Handarbeit ernähre, entgegen.24 Die im Februar 1523 offiziell geäußerte Entscheidung, niemanden mehr zu promovieren und auf die dazugehörige Besoldung zu verzichten,25 die Selbstbezeichnung als »neuer Laie« in der hier edierten Schrift,26 der Kauf eines Landsitzes in Wörlitz vor Ende 152227 und der Beginn seiner Tätigkeit in Orlamünde im Sommer 1523, um dort als einfacher Bauer zu leben,28 sind vor dem Hintergrund dieser auf das Konzept der Gelassenheit konzentrierten Neuorientierung seiner Theologie zu interpretieren,29 an der sich eine direkte Auseinandersetzung mit Luther entzünden und die mit den Schriften von 1524 ihren vollen Abschluss finden sollte.30

Dieses Laienmodell als privilegierte Lebensform für den Christen im Allgemeinen und im Besonderen für diejenigen, die zur Verkündigung des Wortes berufen sind,31 ist gleichzeitig durch ein verstärktes Hervortreten mystischer Züge gekennzeichnet. Auch die auf dem Titelblatt der Schrift Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes signalisierte Ablehnung von und Kritik an akademischen Titeln steht in engem Zusammenhang mit der hier ebenso entfalteten Lehre der Gelassenheit, der uneingeschränkten Liebe zu dem Vater und der geistlichen Vereinigung mit Gott.32Das hatte Karlstadt bereits 1522 in seiner Predigt am Michaelistag (KGK V, Nr. 232) angedeutet, wo er die »Schule Gottes« darstellte, die Christen an Stelle von weltlichen Akademien besuchen sollten: Da die Wahrheit Gottes kein menschliches Werk, sondern ein himmlisches Geschenk sei, könne sie nur in der »Schule Gottes« ermittelt werden, zu der jeder freien Zugang habe. Dort seien alle Christen »Schüler Gottes«, wie Kinder vom Vater belehrt; dort schreibe Gott – der Schulmeister – die göttliche Wahrheit und Lehre Christi durch den Heiligen Geist – den Lehrmeister – in die Herzen der Gläubigen (Jer 31,33); die Laien, die vertrauensvoll diese »göttliche Schule« besuchten, seien gelehrter als Theologen und Doktoren.33

Karlstadts Verständnis der Theologie bzw. der göttlichen Wahrheit, die in der »Schule Gottes« vermittelt werde, trägt deutlich anti-intellektualistische Merkmale. Die göttliche Wahrheit bestehe nicht aus Begriffen und Syllogismen, die die natürliche Vernunft analysieren und durchschauen können, sondern konfiguriere sich als eine existenzielle Erfahrung, die den Gläubigen in seiner Gesamtheit erfasse und sein Wesen durch geistlichen Tod und Auferstehung radikal verändere. Die Christen und auch die Prediger selbst zeichnen sich folglich nicht durch ihre Gelehrsamkeit und Weisheit aus, sondern durch ihre Einfältigkeit als Folge der Selbstverleugnung und durch ihre Gelassenheit, die es ihnen ermöglichen, sich vom Willen Gottes erfüllen und leiten zu lassen.34 Vor dem Hintergrund dieses mystischen Gedankengangs ist die eindeutige, wenn auch nicht explizite Rezeption der Theologia Deutsch in der hier edierten Schrift konsequent.35 Dieses anonyme Traktat, das 1518 von Luther ediert und 1520 neu herausgegeben wurde,36 war Karlstadt vermutlich schon vor 1523 bekannt und angesichts seiner bereits durch Tauler tiefgreifend beeinflussten Theologie leicht in Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes zu integrieren.37 Sie trägt zur noch deutlicheren Formulierung des von Karlstadt entwickelten mystischen Weges bei, ein Weg durch Verzweiflung, Abtötung des Eigenwillens, geistlichen Tod des alten Adams bis zur Gelassenheit, zur Wiedergeburt in und mit Christus und zur vollkommenen Vereinigung mit Gott.38

Obwohl die mystischen Themen in der hier edierten Schrift deutlicher hervortreten, gibt es auch eine klare Kontinuitätslinie zu den früheren Werken,39 nicht zuletzt zur Leipziger Disputation. Damals ging es darum, die Unmöglichkeit des menschlichen Willens, nicht zu sündigen, nachzuweisen und die augustinische Gnadentheologie zu vertreten. Etwas anders ist die Perspektive im Traktat Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes, dessen Abfassung aufgrund der chronologischen und thematischen Nähe zu den Schriften von 1522 und insbesondere zu den 34 Conclusiones de natura spirituali et corporali (KGK V, Nr. 235) sowie zu einer auch von Karlstadt als Opponent mitdisputierten Wittenberger Thesenreihe zum Ursprung des Bösen und der Sünde in der Allmacht Gottes vom Anfang 1522 oder 1523 (Ob Gott Ursache sei des teuflischen Falls, KGK VII) im Frühjahr 1523 vermutet werden kann.

In den ersten Kapiteln des Buches greift Karlstadt die Definition der Sünde aus der Theologia Deutsch auf. Sünde sei nichts anderes als ein Wille, der dem göttlichen Willen widerspreche oder von ihm abweiche.40 Der menschliche Wille müsse sein postlapsarisches Wesen abtöten und sich daher dem göttlichen Willen angleichen, um Zugang zum Heil zu erhalten. Denn nur wer will, was Gott will, oder wer loslässt, was Gott loslässt, könne sich als Freund – und nicht mehr als Knecht – Christi und des Vaters, der ihn gesandt hat, bezeichnen. Christus selbst sei gekommen, um den Willen des Vaters zu erfüllen, nicht seinen eigenen, und biete damit den Christen das beste Vorbild.

Die vollkommene Übereinstimmung zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Willen sei jedoch kein Werk, das sich von selbst ergibt. Der Vater und mit ihm Christus reinigen und regieren den (menschlichen) Willen desjenigen, der ihnen folgt. Wer dagegen davon überzeugt sei, seinen Willen aus eigener Kraft aufrechterhalten zu können, erreiche nie etwas, das Gott gefällt. Er sündige immer, auch wenn er ununterbrochen bete oder fromme Werke vollbringe und sei immer noch zur Verdammnis verurteilt, weil die äußeren Werke seine innere Abkehr von Gott nicht tilgen. Gott ist Liebe; ihn zu lieben bedeute – so Karlstadt – in ihm zu bleiben, sich seinem Willen unterzuordnen, d.h. den menschlichen Willen absterben zu lassen, um, wie der Samen, Frucht zu bringen (Joh 12,24).41

Diese Lehre begründet Karlstadt unmittelbar danach biblisch, um seine Kritik an all jenen traditionellen Frömmigkeitsformen, durch die man glaubte, sich das Heil verdienen zu können, noch präziser zu formulieren.42 Die Heilige Schrift bezeuge, dass Gott kein Werk gefalle – ganz gleich, wie würdig es erscheine –, wenn es aus menschlichem Eigenwillen entstehe. Aus dieser Voraussetzung ergebe sich, dass wahre Gläubige unbedingt den göttlichen Willen kennen müssten, um das Heil zu erlangen. Nachdem Karlstadt nochmals betont, dass das wahre Wesen der Sünde im eigenen menschlichen Willen und im Ungehorsam bestehe43 und nur die menschliche oder göttliche Natur des Willens, die einer Handlung zugrunde liegt (nicht ihre äußere Erfüllung), sie gottgefällig mache oder nicht, entwickelt er in den folgenden Abschnitten seine These weiter, um den mystischen Weg zur inneren Wiedergeburt allen Christen, auch dem gemeinen Mann, detailliert zu erläutern.

Den eigenen Willen dem des Vaters vorzuziehen, bedeutet in Karlstadts Augen, sich selbst mehr zu lieben als ihn. Hinter der Sünde und dem Eigenwillen stehe also eine verkehrte Liebe, die nicht auf Gott, sondern auf die Geschöpfe gerichtet sei. In diesem Sinne lasse sich die Sünde auf die Missachtung des ersten Gebots zurückführen, wie bereits in Von Gelübden Unterrichtung (KGK IV, Nr. 203) ausführlich dargelegt wurde.44 In der hier edierten Schrift ist der zur Sünde führenden postlapsarischen Eigenliebe folglich der christliche Hass auf sich selbst und den eigenen Willen entgegengesetzt, um die unbeschränkte Liebe und die Hinwendung zu Gott als Heilsweg zu ermöglichen.45Karlstadt verweist noch einmal auf Joh 12,24 und betont, der Mensch müsse sich selbst und seinen Eigenwillen abtöten und in Gott wiedergeboren werden. Die heilbringende Übereinstimmung zwischen menschlichem und göttlichem Willen drückt Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes auch mit dem Bild der Reben aus, die keine Frucht bringen, wenn sie nicht am Weinstock bleiben (Joh 15,4f.). Gelassenheit sei also die grundlegende und beständige Haltung des wahren Christen, der diese auch bei frommen Handlungen einnehme, da er sich bewusst sei, dass jedes Werk allein aus Liebe zu Gott getan werden müsse, nicht aus Eigenwillen oder in Erwartung einer Belohnung. Der wahre Christ habe die Aufgabe, sein Selbst zu kreuzigen, um sich ganz dem göttlichen Willen, der Liebe zum Vater, zu unterwerfen.

Ist diese Übereinstimmung zwischen menschlichem und göttlichem Willen in Karlstadts Augen jedoch wahrhaft erreichbar? Wenn die geistliche Wiedergeburt die Abtötung des Eigenwillens voraussetze, dann stelle die Taufe diesen geistlichen Tod des alten Adam, den Abstieg mit Christus ins Grab und seine Auferstehung als neuer Adam dar.46 Doch – so warnt Karlstadt – wie Paulus selbst bezeugt (Gal 5,17), der die Macht der Sünde weiterhin in sich spürt, sei dieser Prozess langwierig und immer unvollständig. Der Christ befinde sich daher in einem steten Zustand innerer Spaltung, denn obwohl er mit dem Gemüt dem Gesetz Gottes folge, bleibe er mit dem Fleisch der Sünde verhaftet (Röm 7,23–25). Wie bereits in den Thesen vom November 1522 argumentiert wurde, haben die Christen zwei Naturen, eine geistige und eine materielle, eine innere mit Christus und eine äußere mit dem alten Adam.47

Das Bewusstsein darüber, dass es selbst Paulus nicht gelungen sei, das Fleisch und die Sünde vollständig zu besiegen, stürze den Christen in Verzweiflung. Gerade diese Verzweiflung48 sei jedoch eine zentrale Voraussetzung für den Anfang des Bekehrungsprozesses. Weil der Gläubige völlig an sich selbst verzweifele, erkenne er, dass nur Christus ihn von dem Leib des Todes (Röm 7,24f.) befreien könne.49 Der Prozess von der Tötung des eigenen Willens bis zur Wiedergeburt in Christus sei dennoch in diesem irdischen Leben nur begonnen, nie vollendet und abgeschlossen. Die Schrift Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes formuliert dieses Prinzip deutlich: Der alte Adam sterbe langsam, Tag für Tag, in einem andauernden Kampf gegen Hochmut und »Annehmlichkeit«. Und dies geschehe nach dem Willen Gottes: Er bewahre die Schwäche des Fleisches als ständige Mahnung an die Christen, damit sie sich nicht überheben und glauben, sie seien bereits vollkommen wiedergeboren. Gott selbst wolle also nicht sofort den neuen Adam vollständig erschaffen, sondern bewahre in den Gläubigen Reste des alten Adams. Karlstadt macht seinen Lesern diesen Willen Gottes noch deutlicher: Wenn der Mensch das Fleisch, d.h. die postlapsarische Natur mit dem Eigenwillen, zum Freund hat, führe es ihn in Verdammnis; wenn das Fleisch aber als schmerzhafter Stachel in den verzweifelten Christen wirkt, biete es den Gläubigen eine nützliche Anregung, den Prozess von mystischer Abtötung des Selbst und Gelassenheit weiterzuverfolgen.

Trotz der Unmöglichkeit, dem göttlichen Willen unmittelbar und vollständig nachzukommen, ist dessen weitgehende Kenntnis unabdingbar. Der zweite Teil der hier edierten Schrift ist deshalb der Untersuchung des väterlichen Willens gewidmet. Die göttliche Wahrheit, so Karlstadt, sei jedem Gläubigen in seinem eigenen Herzen zugänglich und von Gott in der Heiligen Schrift durch die Lehre der Propheten, Christi und der Apostel überliefert. Gottes Wille bilde den Geist, die Seele, das Leben des Gesetzes, sodass dort, wo der Wille Gottes geschieht, auch das Gesetz erfüllt würde.50 Dieser Wille Gottes, der für die menschliche Vernunft in seinem tiefsten Wesen unbegreiflich ist, manifestiere sich mannigfaltig.

Obwohl die Sünde nichts an Gottes ewiger Gerechtigkeit und Macht ändere, entfremde sie ihn von den Menschen. Gott, der immer jenen beisteht, die ihn suchen und seinem Willen folgen, verdamme daher jede Sünde. Dennoch, so Karlstadt, geschehe auch die Sünde manchmal nach dem Willen Gottes. Um diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen, schlägt Karlstadt eine heuristische Differenzierung zwischen dem ewigen göttlichen Willen und dem sogenannten »verhänglichen«, d.h. zulassenden Willen, vor. Entgegen der scholastischen Terminologie, die unterschiedliche Wesen des göttlichen Willens (ewig oder zeitlich, wirkend oder zulassend) trennte, betont Karlstadt aber, man dürfe dabei keine ontologische Unterscheidung in Gott postulieren. Der Willen Gottes sei gleichzeitig »einfältig«, »einig«, d.h. eine ungespaltene Einheit bildend, und »mannigfaltig«, d.h. in seiner wirkenden Gestaltung scheinbar unterschiedlich. Scheinbar unterschiedlich sei er, da der zulassende Wille auch letztendlich eine schaffende Kraft darstelle, der niemand widerstehen könne, und daher dem Wirkenden, Ewigen gleich. Dies bezeugen Pilatus, Judas und der Antichrist selbst: Sie sündigen schrecklich, erfüllen damit aber den göttlichen Willen, dass Christus stirbt und die göttliche Rache zum Ausdruck kommt. Mehrfach steht in der Heiligen Schrift, Gott habe böse Hirten und falsche Propheten erweckt. Schließlich berichten die Evangelien, Gott selbst mache einige Menschen blind und ungläubig. Zusammenfassend und damit die vorherige Begriffsbestimmung der Sünde aus der Theologia Deutsch erweiternd, führt Karlstadt aus, dass derjenige sündige, der nicht nur gegen den wirkenden Willen, sondern auch gemäß dem zulassenden Willen Gottes handele.51

In welchem Verhältnis stehen jedoch ewiger und zulassender Wille Gottes? Nach Karlstadt ist das Böse, das Gott duldet und zulässt, zum Guten gewendet, obwohl es eine Sünde bleibt. Der göttliche Wille nutze nämlich die geduldeten Sünden, um die Hölle in ein Paradies zu verwandeln, indem er den Verbrecher zur Erkenntnis seiner Nichtigkeit, zur Selbstverzweiflung und damit wieder zum völligen Vertrauen auf den ewigen Willen Gottes führt. Durch seinen zulassenden Willen, der scheinbar im Widerspruch zu seinem wirkenden und ewigen Willen steht, bestrafe Gott die Bösen und setze ihre Sünden ein, um sie zur Bekehrung zu rufen. Auch Mt 21,31 lasse sich so erklären: Zöllner und Dirnen, denen Gott erlaubt hat, in ihrer Sünde zu versinken, erkennen ihre Bosheiten und bekehren sich schneller zu Gott; im Gegensatz dazu werden Heuchler oder Mönche, die davon überzeugt sind, sich fromm zu verhalten und gute Werke zu tun, obwohl sie Gott innerlich nicht folgen und ihn nicht unbeschränkt lieben, ihre Sünden nur langsam erkennen und daher nur schwer in das Himmelreich gelangen.52

Für den scheinbaren Widerspruch zwischen den beiden göttlichen Willen führt Karlstadt viele Beispiele an, u.a. die Verfolgung von wahren Christen und Propheten, die der Vater dennoch zulasse, obwohl sie dem ewigen Willen Gottes widerspreche. Der barmherzige, wohlwollende und ewige Wille erweiche die steinernen Herzen, erleuchte sie, dränge sie zu Christus, erzeuge einen guten Willen und gute Werke. Der zulassende Wille hingegen versteinere die Herzen, mache sie blind und taub, gebe der postlapsarischen Natur nach und lasse so die Sünde zu; er sei also ein zorniger und gewalttätiger Wille.53 Diese beiden Willen seien in Gott nicht geteilt und haben nur in den Augen der Menschen zwei verschiedene Wirkungsweisen.54 Die Heilige Schrift bezeuge zwar, wie Gott die von ihm erduldete Sünde immer zum Guten wende und die Auswirkungen seines zulassenden Willens schließlich wieder in den ursprünglichen Plan seines ewigen barmherzigen Willens zurückführe. Wie sich das Verhältnis dieser beiden Willen in Gott selbst gestaltet, werde jedoch nicht thematisiert. Solche Geheimnisse können Karlstadts Ansicht nach von der menschlichen Vernunft nicht erfasst werden.55 Es sei für Christen ausreichend, die endliche Übereinstimmung beider göttlicher Willen wahrzunehmen, da der zulassende nur zeitbedingt benutzt werde, um den ewigen zu bestätigen. Dennoch müssen die Christen wenigstens erkennen, welcher der beiden göttlichen Willen im eigenen Leben wirkt, um ihre Bekehrung zu überwachen. Diese Frage behandelt Karlstadt in den anschließenden Kapiteln, wo er aus einer mystischen und anti-intellektualistischen Perspektive antwortet, dass der Gläubige nur innerlich wahrnehmen und geistlich spüren könne, ob der eigene postlapsarische Wille verurteilt (durch Gottes barmherzigen und ewigen Willen) oder unterstützt (durch Gottes zulassenden Willen) werde.

Die Differenzierung zwischen dem barmherzigen und dem zulassenden Willen Gottes – ersterer ewig und unveränderlich, letzterer nicht mehr wirkend, sobald das zugelassene sündige Werk vollbracht ist – offenbare einmal mehr die Nutzlosigkeit äußerer Werke, wenn sie nicht aus einer völligen Vereinigung mit Gott und vollkommener Gelassenheit hervorgehen. Das gelte auch für die Taufe: Sie bedeute für wahre Christen nicht so sehr das Eintauchen in materielles Wasser, sondern das innerliche Annehmen des Lebens Christi.56 Man solle die in der Taufe symbolisierte, durch Gott vollzogene innere Verwandlung, die Kreuzigung der eigenen Natur sinnlich (nicht vernünftig) wahrnehmen und spüren. In ähnlicher Weise ist auch die Beschneidung nur wahr, wenn sie im Herzen vollzogen ist, während die äußere Beschneidung nur vorübergehend von Gottes zulassendem Willen angeordnet wurde, niemals aber als Bedingung für die Gnade galt.57

Alle äußeren Werke – einschließlich Taufe und Beschneidung – seien also nur Zeichen der Gerechtigkeit und der inneren Vereinigung mit Gott. Sie belegen, mit anderen Worten, eine bereits in den wahren Christen vollzogene Bekehrung, einen vollkommenen Glauben an Gott, an seinen Willen und seine Macht. In dieser Hinsicht sei der Gläubige, der geistliche Mensch, frei von allen äußeren Werken und Lasten, da er bereits gerettet ist.58 Obwohl also Gott mit seinem zulassenden und zeitlichen Willen erlaubt, Riten, Opfer und äußere Werke zu vollziehen, wirke er mit seinem ewigen und barmherzigen Willen durch den Geist in seiner Innerlichkeit. Gott ist nämlich Geist, und nur durch und mit dem Geist könne sich das Geschöpf mit dem Schöpfer vereinigen. Davor müsse der Christ die vollständige und absolute Selbstvernichtung vollziehen, täglich an der Kreuzigung des Eigenwillens wirken, durch die Verzweiflung passiv werden und sich in perfekter Gelassenheit Gott anvertrauen, um durch den himmlischen Willen erfüllt zu werden und sich von dem Vater leiten zu lassen. Nur wer in einer solchen inneren Einheit mit Gott ist, kann wirklich gute Werke vollbringen und muss nicht mehr fürchten, wie ein Baum an seinen Früchten beurteilt zu werden (Mt 4,16–20).59 Diese Lehre solle jedem Gläubigen den göttlichen Willen offenbaren und zur heilbringenden Vereinigung mit Gott führen. In Karlstadts Augen ist sie durch die Heilige Schrift selbst verkündet und verurteilt unwiderruflich Päpste, Bischöfe, Mönche und alle, die ihre Verkündigung und ihr Verständnis verhindern, und sich damit zu Werkzeugen des Teufels machen.


1In der vorliegenden Edition wurde die korrekte Bogensignatur und Textgestaltung – basierend auf B – übernommen.
3Zu diesem Drucker siehe Reske², Buchdrucker, 464f. Zur Produktion evangelischer Bücher bei Kölner Druckern in der ersten Hälfte des 16. Jh. siehe Kaufmann, Mitte der Reformation, 425f. Zur Offizin der Familie von Aich an der Kirche St. Lupus – deshalb Lupuspresse genannt – siehe Schmitz, Kölner Buchdruck, 361–368.
4Zur Identifizierung des Druckes und der Titeleinfassung siehe Benzing, Lupuspresse, hier vor allem Nr. 20; Beckers, Bauernpraktik und Bauernklage, Nr. 25.
5Vgl. KGK V, Nr. 233, S. 335f. Siehe auch Zorzin, Flugschriftenautor, 97.
6Symmen lehrte an der Kölner Universität als Magister artium und wurde dort 1522 als Anhänger Karlstadts ausgewiesen. Vgl. Krafft/Krafft, Kölnische Gelehrte, 86f.; 193. Zu Symmen siehe auch Barge, Karlstadt 2, 19f. mit Anm. 41.
7Es handelt sich um VD 16 G 3722; mit derselben Titeleinfassung der hier edierten Ausgabe A. Diese Schrift Symmens enthält eine scharfe Kritik am Klerus und an den Mönchen als Verfolgern Christi und dessen Gläubigen und erinnert damit in vielerlei Hinsicht an Karlstadts Offensive gegen die Gelübde und monastischen Orden im Jahr 1522. Im Titelblatt bezeichnet sich der Autor als »Nicolaus Symmen, dem neuen Leyen zu Wormß« und knüpft damit offen an die Selbstbezeichnung Karlstadts in dem hier veröffentlichten Traktat an. Zur Inszenierung Karlstadts als »neuer Laie« s.u.
8Zu diesem Drucker siehe auch Reske², Buchdrucker, 33f.
9Vgl. KGK II, Nr. 131.
10Vgl. vor allem KGK III, Nr. 163 und Nr. 171.
11Siehe in diesem Zusammenhang auch Verba Dei, KGK III, Nr. 146.
12Im 1523 veröffentlichten Sermon vom Fegefeuer (gehalten im Herbst 1522) wird Karlstadt auf dem Titelblatt noch als »Doktor« bezeichnet. Zur Veranlassung dieses Drucks siehe die Einleitung zu KGK V, Nr. 233.
13Eine Disskusion, die Erteilung akademischer Grade – wohl mit Bezug auf Mt 23,8, s.u. – in Frage zu stellen, war wahrscheinlich schon im Herbst 1522 in Wittenberg aufgekommen. Siehe in diesem Zusammenhang KGK V, Nr. 234, S. 365, Anm. 14. Siehe auch Barge, Karlstadt 2, 13f. Anm. 24, der unter Berufung auf einen Brief von Arsacius Seehofer davon ausgeht, dass die Diskussion bereits Anfang 1522 begonnen hatte. Zu den übereinstimmenden zeitgenössischen Aussagen über diese Diskussion in Wittenberg, auch mit Hinweis auf den Bericht von Sebastian Fröschel (s.u. KGK 239 (Anmerkung)), vgl. Kaufmann, Anfang der Reformation, 225–229.
14Vgl. z.B. die bereits im SoSe 1520 erfolgte Auslassung des akademischen Titels des damaligen Dekans der Fakultät, Karlstadt, bei einem Promotionsakt; Liber Decanorum (Faks.), fol. 30v. Dazu siehe KGK IV, Nr. 173, S. 5 Anm. 11.
15Karlstadts Eintrag ist ediert in KGK V, Nr. 234, S. 369, Z. 15–S. 270, Z. 3.
16Auch Luthers Eintrag ist ediert in KGK V, Nr. 234, S. 370, Z. 4–10. Die Bibelstelle Mt 23,8 war offenbar zentraler Bestandteil ähnlicher Aussagen, die sowohl Georg Mohr, Schulmeister der Wittenberger Knabenschule, als auch Gabriel Zwilling und Karlstadt selbst »in seinen Lectionibus« vertreten hatten. So wurde rückblickend in Fröschel, Priesterthumb (1565), fol. v[=a]4r–v berichtet: »Und M. More der Knaben Schulmeister/ mit seinen predigten/ in und aus der Schule auff den Kirchoff/ diese alle haben fuͤrgeben/ man sol nicht studieren/ auch keine Schule/ wider Particular fuͤr die jugent/ noch Universitet fuͤr die andern/ als die erwachsen und erzogen werden halten/ auch niemand promovir[e]n weder Baccalaureos noch Magistros noch Doctores in alles Faculteten/ Denn solches hett Christus selber verboten/ Matth. 23.[8] mit diesen worten. Ir solt euch nicht Rabbi noch Meister nennen lassen etc. Item der Schulmeister hat aus der Schule heraus geprediget/ auff den Kirchoff/ und die Buͤrger und Buͤrgerin vermanet und auffs hoͤheste gebeten/ das sie ire Kinder und verwandten aus der schule wolten nemen/ welches auch auffs hefftigst getrieben hab auff der Cantzel/ Frater Gabriel [Zwilling]/ und Doctor Carlstad in seinen Lectionibus/ da also zur selben zeit viel feiner Ingenia von hinnen sind hinweg gezogen/ das studiren verlassen/ die Land und Leuten hetten kuͤnnen nuͤtze sein.« Zu Luthers Reaktion auf Karlstadts Äußerung vom 3. Februar, zu seinem späteren Zeugnis über eine Inschrift auf der »cathedra theologiae« (d.h. auf dem Lehrstuhl, auf dem die als Promotoren agierenden Doktoren und Dekane saßen), die Karlstadt mit einem Hinweis auf Mt 23,8 graviert hatte, sowie zum Aufgreifen dieses Streitthemas in den späteren Auseinandersetzungen zwischen den beiden, siehe Kaufmann, Anfang der Reformation, 228 Anm. 184.
17Ein neues Laienbild hatte Karlstadt in den vorherigen Jahren schrittweise entwickelt; es wurde dennoch nach Luthers Rückkehr von der Wartburg und insbesondere 1523/24 zugespitzt. Vgl. ausführlich Kotabe, Laienbild, 244–259. Siehe auch Zorzin, Flugschriftenautor, 118–120.
18Zur Umgewichtung der Adressaten seiner Werke bzw. zur Verschiebung ihrer Zielgruppe von Akademikern zu gebildeten Bürgern und schließlich hin zu einfachen Laien in Karlstadts Schriften aus den Jahren 1518–1523 siehe auch Zorzin, Flugschriftenautor, 218–220.
19Siehe z.B. De canonicis scripturis, KGK III, Nr. 163, S. 275, Z. 26–29 und Welche Bücher biblisch sind, KGK III, Nr. 171, S. 544, Z. 23–26.
20Vgl. z.B. Päpstliche Heiligkeit, KGK III, Nr. 167, S. 443, Z. 1–5 und Welche Bücher biblisch sind, KGK III, Nr. 171, S. 526, Z. 10–17.
21Dass niemand sich auf der Erde Vater oder Meister nennen lassen dürfe (Mt 23,8) ist eine Konsequenz dieser Prämisse. Diese Bibelstelle zitiert Karlstadt erst in Was gesagt ist: Sich gelassen explizit; s.u. KGK 239 (Anmerkung).
22Siehe die Interpretation der Ablehnung Karlstadts, weitere Promotionen vorzunehmen und seiner Selbstbezeichnung als neuer Laie vor dem Hintergrund einer Auflösung des gesonderten Priesterstandes zugunsten eines gemeinen Priestertums aller Getauften in Zorzin, Gelassenheit.
23Siehe z.B. die Beschlüsse des am 6. Januar 1522 abgehaltenen Generalkapitels der deutschen Augustinerkongregation (KGK V, Nr. 215, S. 90, Z. 6–12) und die Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung (KGK V, Nr. 219, S. 184, Z. 8–13), wo entschieden wurde, dass nur eine ausgewählte Minderheit von Mönchen im Kloster die Schrift lesen und verkündigen dürfe, alle anderen aber ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdienen sollten.
24Siehe nochmals KGK 239 (Anmerkung).
25S. nochmals KGK V, Nr. 234, S. 369, Z. 15–S. 270, Z. 3.
27Vgl. KGK V, Nr. 237, S. 384, Z. 12f.
29Vgl. z.B. Hasse, Tauler, 185: »In besonderer Weise betrifft dieser Zusammenhang von Theologie und Biographie Karlstadts Verständnis von Gelassenheit. Gelassenheit ist von der Sache her nicht vorstellbar ohne Konsequenzen für das eigene Leben. Auch wenn das Lassen des ›Sich‹ in einem umfassenden Sinne verstanden ist, zeigt der biographische Kontext deutlich, dass es Karlstadt für seine eigene Person insbesondere um das ›Gelassen‹ akademischer Ehren und Titel ging. Sein im Februar 1523 gefasster Entschluß, keine akademische Promotion mehr vorzunehmen, und die Selbstbezeichnung als ›ein neuer Laie‹ (nicht mehr: Doktor) im Titel seiner Schriften sind in Karlstadts theologischem Ansatz begründet. Karlstadt entlarvt das Streben nach Ehre an den ›hohen Schulen‹ als ›Annehmlichkeit‹ und ›Ungelassenheit‹. Die Selbstkritik Karlstadts ist deutlich herauszuhören. Mit seiner Theologie der Gelassenheit setzt Karlstadt zugleich den Anspruch, dass sich der Lehrer als Laie und ›discipulus Christi‹ verstehen muss.« Siehe dazu Was gesagt ist: Sich gelassen, KGK 241.
30Vor dem Hintergrund dieses Laienbildes und der dazugehörigen Absage an ein weltlich-hierarchisches Bildungssystem siehe die Auseinandersetzung Karlstadts mit Luther um die symbolische Bedeutung der Bekleidungen, etwa des (Doktor-)Baretts einerseits und des Filzhutes und grauen Rockes des gemeinen Landmanns andererseits; vgl. Kaufmann, Mitte der Reformation, 472–482, hier vor allem 480f.: »Karlstadt löste mit seiner vestimentären ›Konversion‹ zu grauem Rock und Filzhut auch das persönliche Glaubwürdigkeitsproblem eines gut dotierten Weltpriesters, der nunmehr mittels der Subsistenzsicherung durch eigene körperliche Arbeit eine dem an Adam ergangenen Gebot entsprechende ›redliche tödtung des Fleysches‹ zu praktizieren versuchte und so einen äußerlichen Anschluss an die der conditio humana gemäße Lebens- und Bekleidungsweise des gemeinen Laien vollzog. Die von ihm propagierte ›kunst gottes‹, sein Verständnis der evangelischen Lehre, implizierte eine dem innerlichen Wandel korrespondierende äußerliche Veränderung des christlichen Habitus'.«
31Hinweise finden sich bereits in der Maleachi-Predigt (KGK V, Nr. 224, S. 218, Z. 1–15), wo Karlstadt betont, dass die Propheten einfache Menschen – Bauern, Schäfer oder Hirten – waren, und in der Jeremia-Vorlesung (KGK V, Nr. 231, S. 302, Z. 6–9), wo Karlstadt ausführt, dass Gott dem Propheten vorwirft, er habe versucht, sich unter Berufung auf seinen Stand als Knaben dem Ruf Gottes zu entziehen.
32Die Opposition zwischen Schultheologie und geistlicher Gotteserkenntnis durch die Heilige Schrift vor dem Hintergrund von Karlstadts Theologie der Gelassenheit ist in Was gesagt ist: Sich gelassen ausführlich dargestellt; vgl. KGK 241 (Textstelle). Dort wird explizit Mt 23,8 – in Zusammenhang mit Joh 5,41 – angeführt. Siehe diesbezüglich auch Hasse, Tauler, 182–185.
33Vgl. KGK V, Nr. 232, S. 321, Z. 16–S. 322, Z 12. Siehe auch nochmals KGK 241 (Textstelle).
34Vgl. noch einmal Maleachi-Predigt (KGK V, Nr. 224) und Jeremia-Vorlesung (KGK V, Nr. 231). Das Prinzip ist später in Von dem Sabbat (1524, vgl. KGK VII) ausführlich dargestellt.
35Zu den nachweislich der Theologia Deutsch entnommenen Zitaten siehe z.B. KGK 239 (Anmerkung); KGK 239 (Anmerkung); KGK 239 (Anmerkung); KGK 239 (Anmerkung); KGK 239 (Anmerkung); KGK 239 (Anmerkung). Ausdrückliche Erwähnungen der Theologia Deutsch finden sich etwa einen Monat später in der Schrift Was gesagt ist: Sich gelassen, vgl. z.B. KGK 241 (Anmerkung); KGK 241 (Anmerkung); KGK 241 (Anmerkung); KGK 241 (Anmerkung); KGK 241 (Anmerkung).
36Zu den Editionen der Theologia Deutsch der Jahre 1518 und 1520 und deren Rezeption siehe – auch für weiterführende bibliographische Angaben – Kaufmann, Mitte der Reformation, 568–570. Zu der Frage, ob Karlstadt der Verfasser der in der Ausgabe von 1520 hinzugefügten Glossen war, siehe Zecherle, Rezeption, 138–140, hier besonders 139: »Karlstadt befasste sich damals intensiv mit der deutschsprachigen Mystik, wie seine auf den 11. Oktober 1520 datierte ›Missive von der allerhöchsten Tugend Gelassenheit‹ zeigt. Zudem findet sich in der ›Theologia‹-Ausgabe von 1520 neben einer Passage, in der das Verb ›annemen‹ im Sinne von ›sich etwas anmaßen‹, ›sich etwas (zu Unrecht) zuschreiben‹ gebraucht wird, eine Marginalie, in der das entsprechende, bei Tauler, jedoch nicht im Text des Traktats vorkommende Substantiv ›Annemlickeyt‹ verwendet wird. Dieses Wort ist in Luthers Schriften sonst nur einmal belegt und hat dort eine andere Bedeutung, in Karlstadts im Frühjahr 1519 erschienener ›Auslegung und Erläuterung etlicher heiliger Schriften‹ spielt es aber als Gegenbegriff zur Gelassenheit eine wichtige Rolle. Auch die besondere Hervorhebung der Gelassenheit in den Randbemerkungen der ›Theologia‹-Ausgabe von 1520 würde gut zu einer Autorschaft Karlstadts passen. Wenn Karlstadt die Randbemerkungen beigesteuert hätte, hätte er aber wohl darauf bestanden, dass sein Name in der Edition genannt wird. Am wahrscheinlichsten bleibt somit die Annahme, dass die Marginalien von Luther verfasst wurden«. Siehe auch nochmals Kaufmann, Mitte der Reformation, 561–563, der sowohl Luther als auch Karlstadt als Verfasser der Glossen ausschließt.
37Mit Blick auf die hier edierte Schrift ist der Ansicht Hasses bezüglich Was gesagt ist: Sich gelassen (KGK 241) zuzustimmen: »Es ergibt sich die Frage, ob Karlstadts›Was gesagt ist: sich gelassen‹ nicht stärker von der ›Theologia Deutsch‹ als von Tauler beeinflußt worden ist […]. Wegen der Ähnlichkeit vieler Gedanken und Spracheigentümlichkeiten wird sich diese Frage nur schwer beantworten lassen.« (Hasse, Tauler, 183 Anm. 40). Der Versuch einer vertieften Analyse der Rezeption der Theologia Deutsch in Karlstadts Schriften von 1523 und damit auch in Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes bietet Zecherle, Rezeption, 223–265.
38Vgl. auch Hasse, Tauler, 126f.
39Pater, Karlstadt, 37 mit Anm. 72, vermutet, dass die hier edierte Schrift bereits in Auslegung Wagen erwähnt sei; vgl KGK II, Nr. 124, S. 239, Z. 19f. mit Anm. 317. Gegen diese Hypothese siehe Hasse, Tauler, 113 mit Anm. 55.
42Die Kritik an traditionellen Frömmigkeitspraktiken hatte Karlstadt bereits im Jahr 1521 ausführlich formuliert; siehe vor allem KGK IV, Nr. 179–181 und Nr. 192f.
43Zur Definition des Ungehorsams analysiert Karlstadt insbesondere das Beispiel von Saul (1. Sam 15) und Adam (1. Mose 3); s.u. KGK 239 (Textstelle).
44Vgl. z.B. KGK IV, Nr. 203, S. 539, Z. 1–S. 542, Z. 7.
45Die Übereinstimmung des menschlichen mit dem barmherzigen und ewigen göttlichen Willen setze in Karlstadts Augen eine totale und bedingungslose Liebe zu Gott voraus, der die Liebe zu den Geschöpfen, auch zu den eigenen Eltern und Kindern, untergeordnet sein muss; siehe ähnlich auch in Super coelibatu (KGK IV, Nr. 190, S. 219, Z. 22–S. 228, Z. 19) und Von Gelübden Unterrichtung (KGK IV, Nr. 203, S. 576, Z. 12–S. 577, Z. 30). Wer Gott so sehr liebt und sich ihm anvertraut, argumentiert Karlstadt in Von Mannigfaltigkeit des Willen Gottes, habe weder im Himmel noch auf Erden etwas zu befürchten, außer Gott selbst, der jede Sünde bestrafe. Jedes menschliche Anliegen hingegen zeuge von der mangelnden Liebe und Gelassenheit und dem noch wirkenden Stolz und Eigenwillen; s.u. KGK 239 (Textstelle).
47Siehe KGK V, Nr. 235, S. 375–377.
48Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Idee der Tribulatio, in Loci tres, KGK IV, Nr. 194.
50In diesem Zusammenhang erklärt Von Mannigfaltigkeit des Willen Gottes, wie es der menschlichen Vernunft oft schwerfällt, die Sünde – d.h. was Gott nicht will – zu erkennen. Nur das Gesetz offenbart beides (die Sünde und den göttlichen Willen), wie Paulus bestätigt, wenn er bekennt, dass er die Konkupiszenz nur durch das Gesetz verstanden habe (Röm 7,7). Deshalb ist es wichtig, die Menschen in der Heiligen Schrift, wo das Gesetz formuliert ist, zu unterrichten, damit sie wissen, was Gott will und was er nicht will. Wo selbst die Schrift keine klaren Hinweise gibt, muss man das Los werfen und hoffen, dass Gottes Wille geschieht, wie es auch Josua tat (Jos 18,10). Vgl. KGK 239 (Textstelle). Zur christlichen Erkenntnis der Wahrheit und des Willens Gottes nicht durch die Vernunft, sondern durch die innere geistliche Erfahrung s.u.
51S.u. KGK 239 (Textstelle). Siehe in diesem Zusammenhang die teilweise ähnlichen Argumente, die Karlstadt in der 1524 veröffentlichten Schrift Ob Gott Ursache sei des teuflischen Falls (KGK VII) entwickelte.
54Dadurch bestätigt Karlstadt, dass der Wille Gottes gleichzeitig »einfältig«, »einig« und »mannigfaltig« sei.
59Siehe z.B. KGK 239 (Textstelle). Vgl. auch KGK 239 (Textstelle): Der innere wiedergeborene Mensch steht nur für eines, und zwar für den ewigen Willen Gottes, mit dem er völlig verbunden ist; darin ruht er und ist stabil, wie ein Boot inmitten einer stürmischen See; er fürchtet nichts, weil er weiß, dass er fest in Gott verankert ist. Der äußere Mensch hingegen schwankt ständig zwischen gespaltenen Gefühlen und Begierden, die auf einzelne Geschöpfe gerichtet sind.

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