Nr. 238
Vorlesung über Sacharja
Wittenberg, 1522/1523, Wintersemester 1522/1523

Einleitung
Bearbeitet von Stefania Salvadori

1. Überlieferung

Handschrift:

[a:]RSB Zwickau, Fasc. XXXIV, fol. 280v–282r (aus dem Nachlass und von der Hand Stephan Roths)
Edition:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Während seiner Amtszeit als Dekan der theologischen Fakultät1 hielt Karlstadt im Wintersemester 1522/23 eine Vorlesung über den Propheten Sacharja. Sie ist wahrscheinlich unmittelbar nach der Vorlesung über Jeremia (KGK V, Nr. 231) einzuordnen und stellt Karlstadts letzte Lehrtätigkeit an der Universität Wittenberg dar.2 Nur die Auslegung des ersten Kapitels des Buches Sacharja ist in dem hier edierten Manuskript von der Hand Stephan Roths niedergeschrieben worden. Roth traf zwischen April und Mai 1523 in Wittenberg ein, wo er auch einige von Luthers Predigten abschrieb;3 er kehrte dann zunächst nach Zwickau zurück, um sich dann am 18. Oktober in Wittenberg endgültig zu immatrikulieren.4 Dass Roth persönlich an der bereits vor Januar 1523 begonnenen Vorlesung teilgenommen hat, erscheint daher unwahrscheinlich. Es liegt stattdessen die Vermutung nahe, er habe eher ein heute verschollenes – vielleicht studentisches – Manuskript transkribiert. Dass das hier edierte Stück sich als Reinschrift und nicht als beim Hören angefertigte Mitschrift präsentiert, untermauert diese Vermutung.

Obwohl Roths Manuskript nur bruchstückhaft erhalten ist, ermöglicht es einen Einblick in Karlstadts Vorlesung über Sacharja, die offenbar viele Studenten angezogen und auch Luthers Aufmerksamkeit erregt hatte.5 Der erste Abschnitt fasst den historischen Kontext des Buches zusammen: Durch prophetische Visionen seien der Wiederaufbau Jerusalems, seine fortwährende zukünftige Bedrückung und schließlich, dank des Schutzes Gottes, die endgültige Rettung der Auserwählten angekündigt worden. In einem zweiten Abschnitt wird das Buch Sacharja vor einen breiteren Hintergrund gestellt und dessen tiefere Erläuterung des Prophetenamtes eröffnet: Der Prophet wurde gesandt, um das Volk Israel zu ermutigen, das durch die lange Betrübnis und die bereits von Jeremia prophezeite 70-jährige Gefangenschaft unter dem babylonischen Joch erschöpft war und an den Verheißungen Gottes zweifelte. Zentrales Thema der Vorlesung ist die komplexe Beziehung zwischen göttlichen Verheißungen und menschlichem Glauben.

Im folgenden dritten Abschnitt gliedert sich Karlstadts Auslegung nicht nach der ursprünglichen Darstellung der Ereignisse und Visionen im Buch Sacharja, sondern schreitet thematische Schwerpunkte ab, die dessen tiefere göttliche Botschaft verraten. Diese Schwerpunkte sind in einer Zwischenüberschrift als loci communes bezeichnet; der Begriff hatte mit Melanchthons gleichnamigem Werk eine zentrale Bedeutung für die Ausgestaltung einer neuen theologischen Methode innerhalb der Reformation gewonnen.6 Karlstadt teilte zwar die zentrale Annahme dieses Loci-Ansatzes, über die narrative und syntaktische Struktur der einzelnen Bücher hinaus die allgemeinen theologischen Grundbegriffe (loci communes) herauszuarbeiten, die für die christliche Heilsbotschaft zentral waren, löste aber in der hier edierten Vorlesung den Bezug zur Hauptstruktur des biblischen Textes nicht völlig auf, wie es Melanchthon 1521 mit dem Römerbrief getan hatte.7 Obwohl die einzelnen Visionen und Ereignisse nicht sukzessiv kommentiert werden, listet Karlstadt die darin enthaltenen Loci weiterhin nach der Reihenfolge der einzelnen Kapitel des Buches Sacharja auf.8

Die meisten von Karlstadt angekündigten zentralen Loci aus Sach 1f. lassen sich aus dem facettenreichen Verhältnis der Gläubigen zu den Verheißungen und damit zum unausweichlichen Willen Gottes ableiten. Vor diesem Hintergrund stehen zunächst die Ausführungen über das Wesen des wahren Gebets (Sach 1), das nur in der vollkommenen Übereinstimmung des menschlichen mit dem göttlichen Willen verwirklicht sei.9 Es folgen die Loci über Kirche, Priester und Auserwählte (Sach 2f.), leichtfertige Eide (Sach 4) und Engel (Sach 5f.), über Fasten, Werke und Opfergaben, die einzig und allein zur Ehre Gottes und nicht zum eigenen Vorteil erlaubt seien (Sach 7),10 über die Macht Gottes und sein Reich (Sach 8f.); über den Antichristen und böse Priester (Sach 10), über Betrübnisse, die nützlich sein können, und über Adams Joch (Sach 13).

Im Anschluss an diese Reihe von Loci und eine Einleitung zur Rolle des Propheten folgt der Kommentar zum ersten Kapitel des Buches Sacharja: Dieses zeige, dass Gott sein Volk zu sich rufe, wie Karlstadt gleich zu Beginn mit Bezug auf Sach 1,3 hervorhebt. Hier finden sich Themen und Argumente, die bereits in den Karlstadt-Schriften der vergangenen Jahre zum Ausdruck gekommen waren. Die Bekehrung des Menschen sei allein das Werk des Vaters, Engel und Heilige könnten dabei nichts bewirken, denn die menschliche Natur könne aus eigenen Kräften der göttlichen nicht folgen und sich nicht nähern. Niemand komme zu Christus, es sei denn, der Vater zieht ihn (Joh 6,44). Allein Gott beschneidet das Herz des Menschen, das heißt, er erweckt im Gläubigen einen tiefen Hass gegen seine sündhafte Natur. Die Abtötung des alten Menschen, des alten Adam, durch das Wirken des Geistes führt zur Bekehrung des wahren Christen, der an sich selbst verzweifelt und sich ganz Gott anvertraut.11 Der Kommentar zum nächsten Vers (Sach 1,4) weist auf die Sünde der Bösen, die dem Vater nicht folgen und deshalb sündigen. Denn obwohl sie sich der göttlichen Macht und ihrer Missetaten bewusst seien, bereuten sie nicht ihre Schuld und das Verbrechen, das sie gegen Gott begangen haben, sondern seien beschämt wie Diebe, die auf frischer Tat ertappt wurden.

Der letzte Abschnitt, den Karlstadt dem ersten Kapitel des Buches Sacharja zuordnet, befasst sich mit einem weiteren locus, nämlich mit dem Grundbegriff »Gebet«. Das Gebet sei ein Akt des Glaubens, eine durch den Geist geleitete Abstimmung zwischen dem Willen des Gläubigen und dem Willen Gottes. Aus diesem Grund bringe das wahre Gebet die Verheißungen und die Wahrheit des Vaters stets zum Ausdruck; es sei deshalb erfüllt. Ein durch die menschliche Vernunft und den postlapsarischen Willen geleitetes Gebet dagegen sei lügenhaft und bliebe wirkungslos.


1Es ist unklar, wann Karlstadt 1522 offiziell das Amt antrat; siehe auch die Einleitung zu KGK V, Nr. 231. Die Promotionen unter seinem Dekanat reichen von Ende Oktober 1522 bis Anfang Februar 1523; vgl. Liber Decanorum (Faks.), fol. 34v (Liber Decanorum, 27f.). Am 3. Februar 1523 promovierte Karlstadt als Promotor und amtierender Dekan Johannes Westermann und Gottschalk Grop, bekundete aber durch seinen Eintrag im Dekanatsbuch sogleich, er wolle künftig keinen Grad mehr verleihen; auch die zwei Gulden wolle er nicht für sich behalten, vgl. Karlstadts Eintrag und Luthers (spätere) Reaktion im Dekanatsbuch ediert in KGK V, Nr. 234. Zur radikalen Infragestellung der gelehrten, akademischen Bildung durch Karlstadt und der Inszenierung als »neuer Laie« siehe ausführlich KGK 239 und KGK 241.
2Darauf deutet ein Bericht des Rektors der Universität, Johannes Schwertfeger, an den Kurfürsten vom 19. März 1523 (»Donnerstag nach Latere 1523«), aus der Sammlung Neudeckers, heute FB Gotha, Chart. A 1289 I, fol. 268r–270v, hier fol. 270v hin: »Dazu mochte man weiter Studenten haben, wie wol itzund mehr lectiones gelesen werden, denn hr. Johann a. Pommern liest den Isaiam, der Francoss Minores Prophetas, doctor Veltkirchen Lucam, doctor Carolstadt Zachariam. Des probsts lectio, der Paulum ad Romanos und Philippi lectio, der Johannem gelesen, seind itzo aus.«; die Stelle ist auch gedruckt in Kawerau, Jonas 1, 85 Anm. 1. Zu Bugenhagens Vorlesung über Jesaja siehe Gummelt, Lex et Evangelium, 14; 18. Zur Vorlesung über Hosea von Franz Lambert von Avignon vgl. Müller, Franz Lambert, 15–17. Mit »Veltkirchen« ist Johannes Dölsch gemeint, der im Juli 1523 starb. Zu Justus Jonas' Vorlesung über den Römerbrief siehe Gummelt, Justus Jonas, 122. Die 1522 begonnene und Anfang März 1523 abgeschlossene Johannesvorlesung Melanchthons ist in CR 15, 1043–1220 ediert.
3Vgl. Metzler, Roth, 90.
4AAV, 120.
5Vgl. den Brief Luthers an Spalatin vom 2. Januar 1523; WA.B 3, 2,43–45: »Quamquam Philippi et Carlstadii lectiones, ut sunt optimae, ita et abundent, Tamen et Pomerani nolim abesse, quod Carlstadii sit incerti temporis«; siehe auch die dazugehörige Anm. 13: »Walch liest sint (Subjekt: lectiones) und übersetzt: ›weil die Karlstadts unregelmäßig stattfinden‹. Karlstadt las über Sacharja.«
6Zur Loci-Methode im Humanismus und in der Reformation siehe – auch für weitere bibliographische Hinweise – Frank, Topik; Schmidt-Biggemann, Topik; Kuropka, Melanchthon, hier vor allem 44–50; siehe auch Kaufmann, Martin Chemnitz.
7Vgl. Melanchthons Loci communes (1521).
8Vgl. auch Hasse, Tauler, 190 Anm. 7: »Zur Anwendung der Loci-Methode, vgl. Karlstadts im Wintersemester 1522/1523 gehaltene Sacharjavorlesung, der Karlstadt ›Loci communes in Zachariam‹ vorangestellt hat. Die in Anlehnung an ausgewählte Stellen des Buches Sacharja formulierten Loci sind zugleich die Themen, die in der Vorlesung nacheinander behandelt worden sind […]. Karlstadt hat also der fortlaufenden Exegese die Loci-Methode vorgezogen.« In Karlstadt, Loci (1540) verdeutlicht er seine Interpretation des Begriffes Locus/Loci; siehe nochmals Hasse, Tauler, 189–191.
9Diese grundlegende Abstimmung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Willen wird ausführlich betrachtet in Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes, KGK 239.
10Mit Bezug auf Sach 7,5–9, dessen Kommentar in der hier edierten Handschrift nicht überliefert ist. Die Kritik an allen Ritualen und Opfern, durch die Menschen Gottes Barmherzigkeit und Hilfe verdienen könnten, steht jedoch nicht nur im Einklang mit Karlstadts theologischen Überlegungen in den Jahren 1521–1523, sondern auch mit dem späteren Kommentar zum 1. Kapitel des Buches Sacharja, das im Manuskript von der Hand Roths überliefert ist.
11Zur Beschneidung des Herzens siehe Von Gelübden Unterrichtung (KGK IV, Nr. 203) und De legis litera (KGK IV, Nr. 197); das Sündenbekenntnis, die Verzweiflung und die endgültige Gelassenheit als Etappen einer mystischen Bekehrungserfahrung sind typisch für Karlstadts Theologie dieser Zeit und werden dann in späteren Schriften – insbesondere KGK 239 und KGK 241 – ausführlich entfaltet.

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