1. Überlieferung
Frühdrucke:
Eyn frage/ ob auch ye∥mant moͤge ſelig wer⸗∥den/ on die für⸗∥bitt Ma⸗∥rie. ∥ Andreas Carolſtat. ∥ Anno. M. D. XXiiij. ∥ Wittenberg. ∥ [TE] ∥ [Am Ende:] Geſchehen vnnd geſchꝛieben ʒů ∥ Wittenbergk am Montag nach Jacobi. Jm̄ Jar ∥ nach der geburt Chꝛiſti. M. D . XXiij. ∥
[Nürnberg]: [Hieronymus Höltzel], 1524.
4°, 10 Bl., A4, B2, C4 (fol. A1v leer) -- TE.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, A: 116.10 Theol. (7).Weitere Exemplare: BSB München, 4° Polem. 547. — SUB Göttingen, 8 H E ECCL 378/5:2 RARA (16 an). — UB München 4° Theol. 5463 1.1., .
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 B 6167.
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 107.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 62A.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1889.
Ain frage ob auch ∥ yemant moͤge ſelig ∥ werden on die ∥ fürbit Ma∥rie. ∥ Andꝛeas Carolſtat. ∥ Anno. M. D. xxiiiȷ. ∥ Wittenberg. ∥ [TE] ∥ [Am Ende:] Geſchehen vnnd geſchꝛiben ʒů Wittenberg Jm ∥ Jar nach der Geburt Chꝛiſti. M. D. XXiiij ∥
[Augsburg]: [Philipp Ulhart d.Ä.], 1524.
4°, 8 Bl., A4--B4 (fol. B4r–v leer) -- TE.
Editionsvorlage:
BSB München, 4° Polem. 546.Weitere Exemplare: ÖNB Wien, 20.Dd.356.
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 B 6165.
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 108.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 62B.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1887.
Ain frage ob auch ye∥mant müge ſelig werden on ∥ die fürbitMarie. ∥ Andꝛeas Carolſtat. ∥ Anno · M. D. xxiiij. ∥ Wittemberg. ∥ [TE] ∥ [Am Ende:] Geſchehen vnnd geſchriben ʒů Wittenberg Jm Jar nach ∥ der Geburt Chꝛiſti · M. D· XXiiij· ∥
[Augsburg]: [Jörg Nadler], 1524.
4°, 8 Bl., A4--B4 (fol. B4r–v leer) -- TE.
Editionsvorlage:
BSB München, 4° Polem. 548.Bibliographische Nachweise:
- VD 16 B 6164.
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 109.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 62C.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1886.
Eyn frage/ ob auch ∥ yemandt moͤge ſelig wer⸗∥den/ on dye fur⸗∥bitt Ma⸗∥rie. ∥ Andꝛeas Carolſtat. ∥ Anno. M.D. XXiiij. ∥ [TE] ∥ [Am Ende:] Geſchehen vnd ∥ geſchꝛieben tzů Wittembergk am Montag nach Jacobi. Jhm ∥ Jar nach der geburt Chꝛiſti. M. D. XXiij. ∥
[Erfurt]: [Wolfgang Stürmer], 1524.
4°, 8 Bl., A4--B4 (fol. B4r–v leer) -- TE.
Editionsvorlage:
SUB Göttingen, 15 an: 8° HEE 378/5:2 RARA.Weitere Exemplare: HAB Wolfenbüttel, G 74.4 Helmst.(8).
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 B 6166.
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 106.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 62D.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1888.
Die hier edierte Stellungnahme Karlstadts zur Verehrung Marias ist in vier Ausgaben überliefert. Die erste trägt auf dem Titelblatt eine Titeleinfassung1 und die Datumsangabe 1524. Am Ende steht die von Karlstadt angegebene Datierung des Dokuments auf den 27. Juli 1523.2 Diese Ausgabe erschien in Nürnberg bei Hieronymus Höltzel,3 der zwischen 1523 und 1524 begonnen hatte, reformatorische Schriften,4 vor allem Texte Luthers,5 aber auch einige Schriften Thomas Müntzers,6 herauszugeben. Neben der hier edierten Schrift erschien bei Höltzel 1524 auch eine Ausgabe von KarlstadtsVon dem Missbrauch des Herren Brot und Kelch (KGK VII).7
Von dieser Nürnberger Ausgabe stammen wahrscheinlich die Ausgaben B und C ab. Sie sind in Augsburg bei Philipp Ulhart d.Ä.8 und Jörg Nadler9 erschienen und stehen in engem Zusammenhang: Sie korrigieren auf gleiche Weise die Druckfehler von A bzw. nehmen minimale Änderungen an A vor,10 weisen identische Mundart auf und geben die gleiche Textgestaltung wieder; darüber hinaus tragen sie die Jahresangabe 1524 auf dem Titelblatt und korrigieren entsprechend auch die am Schluss von Karlstadt angegebene Datierung der Stellungnahme.11
Die vierte Ausgabe erschien in Erfurt bei Wolfgang Stürmer12 und unterscheidet sich von den anderen drei, da sie die Ortsangabe »Wittenberg« auf dem Titelblatt13 nicht übernimmt. Wie Ausgabe A gibt sie außerdem das Fertigstellungsdatum der Schrift – 27. Juni 1523 – am Ende wieder. Schließlich fügt sie auf fol. B2v–B3r, unmittelbar vor dem letzten Absatz der hier edierten Schrift, einen Auszug aus einem Text Luthers an. Es handelt sich um zwei Paragraphen aus der Predigt Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe,14 die aber im Vergleich zum Original Luthers in umgekehrter Reihenfolge stehen. Ob dieser Einschub und seine Gestaltung eine selbstständige Leistung des Erfurter Druckers war oder ob er auf einer heute verschollenen Vorlage beruht, bleibt unklar. Aus der Kollation der Ausgaben A und D ergibt sich kein eindeutiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihnen. Es bleibt daher offen, welche von beiden der Erstdruck war. Da die Wittenberger über enge, auch persönliche Beziehungen nach Erfurt und über Kontakte mit Druckern in Nürnberg verfügten, ist es nicht auszuschließen, dass A und D zwei unabhängige und parallele Überlieferungslinien darstellen.
Literatur:
- Jäger, Carlstadt, 338–341.
- Barge, Karlstadt 2, 10–12 mit Anm. 22.
- Zorzin, Flugschriftenautor, 200–209.
2. Entstehung und Inhalt
Den Anlass zur Anfertigung dieser Schrift schildert Karlstadt gleich zu Beginn. Ein Priester namens Georg Kirchner15 habe über die Vermittlerrolle Marias zwischen Gott und den Sündern gepredigt und die Notwendigkeit, sie anzurufen, um Erlösung zu erlangen;16 ein Zuhörer widersprach Kirchners Aussagen auch mit Bezug auf Ps 49(50),17 wurde deshalb inhaftiert und ermahnt, nie wieder eine Predigt zu unterbrechen oder vom Prediger Beweise aus der Schrift zu fordern.18 Über den von Karlstadt erwähnten Vorfall ist nichts Weiteres bekannt. In der Schrift Selig ohne Fürbitte Marias aber behauptet Karlstadt, er wäre um eine offizielle Stellungnahme gebeten worden. Sowohl der Anfangssatz19 als auch der Schlussparagraph, in dem Karlstadt ausdrücklich darauf hinweist, er habe das Original des Schreibens mit seinem Siegel versehen,20 verleihen der Schrift sogar Urkundencharakter.21 Folgt man diesen Angaben, so ist davon auszugehen, dass die Abhandlung in Wittenberg22 am 27. Juli 1523 fertiggestellt wurde23 und unmittelbar danach handschriftlich kursierte; der Druck erfolgte höchstwahrscheinlich erst 1524, ob auf Anregung Karlstadts oder anderer hin, bleibt fraglich.
Auch wenn die konkreten historischen Umstände, die zur Entstehung und zum Druck dieser Schrift führten, im Dunklen liegen, und wenn nicht auszuschließen ist, dass die Beschreibung des Anlasses der Schrift fiktive und rhetorische Komponenten enthält,24 lässt sich Selig ohne Fürbitte Marias eindeutig in die breite Debatte über die Marienverehrung der damaligen Zeit einordnen. Bereits im September 1522 äußerte Luther, der sich schon vorher mehrfach mit dem Thema befasst hatte,25 offen seine Kritik an der Marienverehrung.26 Obwohl er einräumte, die Mutter Jesu habe unter den Menschen eine besondere Gnade erhalten, lehnte er die Heilsvermittlerrolle Marias ab.27 In Luthers Augen hatten die »pfaffen und munch« gegen die Heilige Schrift »der weiber ehr herfur ziehen wellen und Mariam so hoch erhept, das sy uns ein gottin (nach art der heiden) aus dieser demutigen dienerin gemacht haben. Solichs nu tzu bestettigen můsten sy lugen brauchen und die geschrifft bey dem har da hin ziehen und tzwingen da hyn sy nit gehort.«28 Im Gegenteil, betonte Luther, die Heilige Schrift lehre eindeutig, dass nur Christus seine Gläubigen gerettet habe. Durch Christi Blut könne sich jeder Christ als von allen Sünden gereinigt und so heilig wie Maria betrachten. Dass sie besondere Gnade erfahren habe, sei darüber hinaus nicht ihr Verdienst, sondern Ausdruck besonderer göttlicher Barmherzigkeit.29 Die Kritik am Marienkult, die in Luthers Predigt mit den damals in Wittenberg thematisierten sozialen und wirtschaftlichen Reformen verknüpft wurde,30 umfasste auch zwei der am weitesten verbreiteten Antiphonen, das Salve Regina und das Regina coeli, die als Beispiele für die verfehlte Hinwendung zur Gottesmutter galten.31
Auf diese Kritik reagierten in den folgenden Monaten altgläubige Theologen, wie der Ingolstädter Georg Hauer.32 Zwischen Sommer und Herbst 1523 formulierte er in drei Predigten eine Widerlegung des Sermons Luthers33 und stellte einen Zusammenhang her zwischen der Diskussion um den Marienkult und der Hinrichtung von zwei Augustinermönchen aus Antwerpen, Heinrich Voes und Johan van den Esschen, am 1. Juli 1523.34 Diese bald darauf als erste »Märtyrer der Reformation« gerühmten Augustiner35 waren nach Hauers Ansicht nicht einmal würdig, am Tag des Marienfestes am 2. Juli (Visitatio Mariae) hingerichtet zu werden.36 Anscheinend behaupteten andere Zeitgenossen dagegen, die Mönche hätten kurz vor ihrer Hinrichtung durch die Intervention der Jungfrau Maria ihre Überzeugungen verworfen.37 Die Diskussion um den Marienkult, seine Formen und Grenzen, die bereits 1522 als Symbol der zunehmenden Abgrenzung zwischen Rom und Wittenberg in den Vordergrund rückte,38 nahm deshalb ab Herbst 1523 durch zahlreiche Flugschriften massiv zu.39
Ob Karlstadt sich mit der hier edierten Schrift in der Diskussion, die auf Grund der Hinrichtung der beiden Augustinermönche in Brüssel entstand, positionieren wollte, ist nicht belegt. Sicherlich war er sich der Debatte bewusst; es handelte sich bei der Marienverehrung angesichts ihrer zentralen Bedeutung in der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit um keine periphere Frage, sondern – wie bei der Infragestellung der allgemeinen Heiligenverehrung, aber auch der Fastenordnungen, der Mönchsorden und der Priesterehe – um eine Bewährungsprobe für die neue Gestaltung der reformatorischen Kirche. Selig ohne Fürbitte Marias will sich jedoch nicht in eine akademische theologische Auseinandersetzung begeben, sondern zielt darauf ab, den Gläubigen eine konkrete und klare Anleitung zu bieten, und wendet sich daher gemäß der 1523 eingeleiteten theologischen und persönlichen Neupositionierung Karlstadts vornehmlich an Laien.40
Im ersten Teil der Schrift kritisiert Karlstadt beide von der als Georg Kirchner bezeichneten Gegnerfigur formulierten Behauptungen. Der Prediger irre, wenn er behauptet, Maria sei Mittlerin zwischen Gott und den Menschen: Zum einen, weil er keine biblische Grundlage für seine These biete (und niemand, so betont Karlstadt, darf der Heiligen Schrift auch nur ein einziges Wort hinzufügen), zum anderen, weil nach der Lehre des Apostels Paulus die Behauptung, man brauche die Fürbitte Marias, gleichbedeutend mit der Behauptung sei, Christus sei umsonst gestorben. Die Schrift Selig ohne Fürbitte Marias argumentiert, nur Gott sei Vermittler für den Menschen und nur Christus habe durch seinen Tod den Gläubigen das ewige Heil gesichert. Wahre Christen werden also nur im Namen Christi selig, ganz sicher nicht im Namen Marias, die Jesus selbst mit allen anderen Menschen gleichsetzt.41 Auf diese Widerlegung folgt die Ablehnung der zweiten Behauptung Kirchners: Da Maria nicht für eine Mittlerin zwischen Mensch und Gott gehalten werden könne, sei es nicht notwendig, sie anzurufen, um gerettet zu werden. Vor allem Joh 14,6 beweise, dass nur Christus zum Vater führe. Die in Karlstadts Augen falschen Prediger wie Kirchner vertreten nur aus Geldgier die Marienverehrung. Dadurch fordern sie die Menschen auf, an einen Menschen (sei es Maria oder irgendein Heiliger) statt an Gott allein zu glauben und führten das Volk ins Verderben.
Im zweiten Teil der Schrift Selig ohne Fürbitte Marias bekräftigt Karlstadt die zentrale und eigenständige Rolle der Laien in Glaubensfragen. Dazu verweist Karlstadt auf den angeblich konkreten Vorfall, der ihm als Theologen berichtet worden sei. Der Laie, der Kirchner zu einer auf die Bibel zentrierten Begründung der Predigt aufforderte, habe eine Stelle aus Ps 49(50) angeführt. Anstatt die Meinung des Zuhörers zu berücksichtigen, ließ Kirchner ihn inhaftieren und ermahnen. Karlstadt beweist zunächst, dass die von dem Laien angegebene Bibelstelle schriftgemäß begründet und relevant war, da sie belegt, dass sich Christen nur an Gott wenden und nur ihn anbeten dürfen. Die Fürbitte der Heiligen, auch Marias, sei falsch und unchristlich, da diese nur Menschen seien, die eine besondere Gnade erhalten hätten. Die in der Heiligen Schrift enthaltene Formulierung des Ave Maria sei kein Gebet, sondern einfach eine Erzählung darüber, wie die Mutter Jesu eine außergewöhnliche Gnade erhielt. Karlstadt wolle diese spezielle Gnade, die allen Heiligen zuteilwurde, sicher nicht bestreiten, doch wie alle Gläubigen strebe er nur danach, diese Gnade direkt aus der Quelle, d.h. aus Gott ohne Vermittler zu trinken und zu erhalten.42 Und weil die Gnade nur aus Gott fließt, dürfe jeder Christ nur dem Wort des Vaters glauben, nicht dem der Menschen, die immer lügen. Deshalb haben die Laien das Recht, Pfarrer und Prediger um Erklärungen zu bitten und ihre Aussagen zu hinterfragen. Der Apostel Paulus selbst räume den Laien das Recht ein, eine Predigt zu unterbrechen. In diesem Fall solle der Prediger schweigen und auf die Meinung der Zuhörer achten, da alle, auch einfache Gläubige, die Schrift auslegen könnten.43 Laien – sogar Kinder – können die Heilige Schrift manchmal besser auslegen und dürfen deshalb die falschen Propheten anklagen, die die Bibel verderben. In diesem Zusammenhang fügt die Erfurter Ausgabe zwei Abschnitte aus einer Predigt LuthersDass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe ein, die die Hauptaufgabe des Pfarrers als Verkündigung des Wortes definiert – eine Aufgabe, die von Päpsten und Bischöfen vernachlässigt und korrumpiert worden sei. Fürsten und Herren sollten deshalb in Luthers Augen die Macht haben, in ihren Territorien selbst wahre christliche Prediger zu bestellen und die falschen zu entfernen.44 Diese Einfügung – vielleicht auf Initiative des Druckers45 – steht thematisch allgemein im Einklang mit Karlstadts Argumentation, verleiht ihr aber gleichzeitig einen anderen Schwerpunkt. In den letzten Zeilen der Schrift Selig ohne Fürbitte Marias, die Karlstadt zur Ehre Gottes und zur Offenbarung der Wahrheit an einen Laien geschickt hat, findet sich lediglich ein knapper Hinweis auf die weltlichen Obrigkeiten, die sich »entsynnen/ und ire hende an sich halten [sollen]/ so lang biß sy sich bestendiger warhait erkundt haben.«