Nr. 249
Von dem Priestertum und Opfer Christi
1523, [nach 29. Dezember]/1524, [Januar]

Einleitung
Bearbeitet von Wolfgang Huber

1. Überlieferung

Frühdrucke:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Von dem Pꝛieſterthum ∥ vnd opffer Chꝛiſti. ∥ Andꝛes Carolſtat. ∥ ¶ Gedꝛuckt ʒů Jhen in Doͤꝛigenn ∥ Anno. 1523. Am.29.tag ∥ Decembꝛis. ∥ [Am Ende:] ¶ Gedꝛůckt tzů Jhen durch Michell ∥ Bůchfuͤrer. Anno. 1524. ∥
Jena: Michael Buchfürer, 1524.
4°, 22 Bl.; A4–D4, E2, F4; Bl. A1v und F4v leer; ohne TE, ohne TH.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, H:Yv 2336.8° Helmst.
Weitere Exemplare: HAB Wolfenbüttel, A: 231.195 Theol. (17). — BSB München, 4° Polem. 555. — UB Bern, MUE AD 178: 5. — SUB Göttingen, 8 H E ECCL 378/5:2 (14) RARA. — UB Erlangen, H00/K.B 816.
Bibliographische Nachweise:

[A2:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Von dem Pꝛieſterthum ∥ vnd opffer Chꝛiſti. ∥ Andꝛes Carolſtat. ∥ ¶ Gedꝛuckt ʒů Jhen in Doͤꝛingen ∥ Anno. 1523. Am.29.tag ∥ Decembꝛis. ∥ [Am Ende:] ¶ Gedꝛůckt tzů Jhen durch Michell ∥ Bůchfuͤrer. Anno. 1524. ∥
Jena: Michael Buchfürer, 1524.
4°, 22 Bl.; A4–D4, E2, F4; Bl. A1v und F4v leer; ohne TE, ohne TH.
Editionsvorlage:
RSB Zwickau, 17.9.16 (2).
Bibliographische Nachweise:

Frühdruck:

[B:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Von dem Pꝛieſterthum ∥ vnd opffer Chꝛiſti. ∥ Andꝛeas Carolſtat. ∥ ☙ ∥
[Straßburg]: [Matthias Schürer Erben], [1524].
4°, 20 Bl., A4–E4; Bl. A1v und F4v leer; ohne TE, ohne TH.
Editionsvorlage:
SB-PK Berlin, Cu 1308 R.
Weitere Exemplare: UB München, 4° Theol. 5463(2:15.
Bibliographische Nachweise:

Die von Michael Buchfürer1 in Jena hergestellte Erstausgabe (A) liegt auch in einer Variante vor, die bisher allein in Zwickau ermittelt wurde (A2). Sie zeigt sich nahezu satzidentisch mit Druck A, weist aber ca. fünf geringfügige Abweichungen auf. Am markantesten ist die Korrektur der Schreibung »Doͤꝛingen« auf der Titelseite. Die anderen Abweichungen stellen freilich nicht unbedingt Verbesserungen dar. Zugleich behält die Press-Variante A2 offensichtliche Setzfehler unkorrigiert bei.2

Die Erstausgabe (A) bildete die Vorlage für den unfirmierten, wohl in der Schürer'schen Werkstatt in Straßburg angefertigten Druck (B).3 Dieser Straßburger Nachdruck nahm sprachliche Glättungen und Anpassungen vor, die inhaltlich ohne Bedeutung sind. Es wurden aber auch auch einige kleinere Flüchtigkeitsfehler eingetragen.

Das Impressum auf der Titelseite der Erstausgabe nennt das Datum des 29. Dezember 1523. Vermutlich begannen an diesem Tag die Arbeiten am Satz. Mit »Anno 1524« hält das abschließende Kolophon das Jahr des Drucks der Abhandlung Von dem Priestertum und Opfer Christi fest. Demnach erschien die Erstausgabe frühestens Anfang Januar 1524 und die Straßburger Ausgabe (B) – das ist aufgrund der räumlichen Entfernung der Druckorte anzunehmen – nicht vor Februar 1524.

Edition:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Entstehung

Über die Entstehung von Karlstadts Abhandlung Von dem Priestertum und Opfer Christi liegen keine Quellen vor, die konkreteren Aufschluss geben, auch nicht eigene Aussagen in Schriften und Briefen. Über die bloße Formulierung des Impressums des Erstdrucks hinaus, die grob die zweite Jahreshälfte 1523 für die Niederschrift annehmen lässt, bietet auch der Text keine weiteren Hinweise. So können hier nur die allgemeinere Vorgeschichte und der persönliche Hintergrund seiner Entstehung skizziert werden. Im Sommer 1523 begann Karlstadt seine Tätigkeit in der kleinen ostthüringischen Landstadt Orlamünde, deren Pfarrei dem Wittenberger Allerheiligenstift inkorporiert war und deren Einkünfte einen wesentlichen Bestandteil seines Gehalts als Archidiakon und Universitätsprofessor bildeten. Karlstadt, der in Wittenberg in eine Außenseiterposition geraten war, stellte das bisherige kirchliche Pfründensystem, das er selbst auch weidlich genutzt hatte, nun grundsätzlich in Frage. Er sah sich berufen in Orlamünde – mit Unterstützung des Rates, begleitet von entsprechenden Eingaben an die herzogliche Regierung – selbst die Pflichten des Pfarrers zu übernehmen. Der Konventor Konrad Glitzsch, dem diese Aufgaben eigentlich oblagen, hatte sie zum Schaden der Gemeinde vernachlässigt.4 In der unmittelbar vorhergehenden Schrift Ursachen seines Stillschweigens und von rechter Berufung (KGK 248) reflektierte Karlstadt über die rechte Legitimation zur öffentlichen Verkündigung des Wortes Gottes5 – ein Thema, das auch in der Abhandlung Von dem Priestertum und Opfer Christi vorkommt.

Zu Karlstadts Aufgaben in der Gemeinde gehörte die sonn- und feiertägliche Feier der Gottesdienste durch ihn selbst oder seine Kapläne, über die er sicher auch verfügte. Da Hinweise darauf, wie Karlstadt seinen pastoralen Pflichten konkret nachkam, nur spärlich vorliegen, sind Aussagen darüber schwierig. Das Abendmahl feierte Karlstadt in Orlamünde vermutlich in Fortführung seiner an Weihnachten 1521 begonnenen Praxis. Diese hatte in der dann wieder zurückgenommenen Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung von Januar 1522 ihren prägnanten Ausdruck gefunden.6Karlstadt strebte danach, das Abendmahl auf eine an die biblische Grundlage gebundene schlichte Weise zu feiern, also gereinigt von den als Verfälschungen beurteilten Bestandteilen des römischen Messkanons und strikt konzentriert auf den Vortrag der Abendmahlsworte Jesu in deutscher Sprache, unter Reichung beider Elemente, Brot und Wein, an die Gemeindeglieder. In Orlamünde bot sich Karlstadt jedenfalls die Möglichkeit, den Gottesdienst freier nach eigenen Vorstellungen zu gestalten7 als in Wittenberg, wo der von der Wartburg zurückgekehrte Luther – auch mit Rücksicht auf die engen politischen Spielräume des kurfürstlichen Hofs – die Ausrichtung und den Charakter der Reformen prägte.

Gleichwohl fällt auf, dass Karlstadts Traktat Von dem Priestertum und Opfer Christi keineswegs auf Fragen der Abendmahlspraxis einging, wie sie sich in der von ihm betreuten Gemeinde stellen mussten.8 In seiner Widmung nahm Karlstadt zwar seine konkrete Gemeinde in den Blick und sprach alle »Heiligen«, insbesondere die »Gottesfürchtigen« in Orlamünde ausdrücklich an,9 der Traktat Von dem Priestertum und Opfer Christi verbleibt aber ganz auf der Ebene grundsätzlicher exegetisch-theologischer Klärungen und Bestimmungen. Er dokumentiert das intensive Bemühen Karlstadts um ein in der gesamten Bibel verankertes neues Abendmahlsverständnis, das die spätmittelalterliche Lehre und Praxis des Messopfers radikal überwand und das Moment des Gedächtnisses des Todes Christi ins Zentrum der gottesdienstlichen Feier stellte. Der Traktat markiert damit eine neue Phase in der Entwicklung von Karlstadts Abendmahlsverständnis.

Seit Luthers Rückkehr nach Wittenberg im März 1522 hatte sich Karlstadt nicht mehr öffentlich zu dem Thema geäußert.10Karlstadts im Dezember 1521 veröffentlichte Abhandlung Von beiden Gestalten der Messe11 bewegte sich anscheinend noch im Rahmen der Kritik Luthers an dem überkommenen Messopferwesen und seiner Absage an die absurd erscheinende Lehre von der Transsubstantiation, wie sie etwa der Traktat De captivitate Babylonica ecclesiae vorbrachte.12 Die Frage des Messopfers hatte Karlstadt in seinen Veröffentlichungen nicht eingehender behandelt.13 Nun, etwa zwei Jahre später, griff er dieses Thema allerdings umso grundsätzlicher auf.14 Den Titel seiner Abhandlung Von dem Priestertum und Opfer Christi formulierte Karlstadt, bewusst oder unbewusst, vermutlich im Anschluss an Luthers gegen Jahresende 1521 veröffentlichten Traktat Vom Missbrauch der Messe. Luther hatte jedenfalls das Problem des Messopfers mit dem ausdrücklichen Fokus auf das »Priestertum« und das »Opfer Christi« behandelt.15 Beide Schriften verbindet die gemeinsame Grundüberzeugung von der Unhaltbarkeit der überkommenen Messopfer-Auffassung, die sie gleichermaßen radikal ablehnen. Wörtlich getreue Luther-Zitate lassen sich allerdings über die für Karlstadt bemerkenswert prägnante Titelformulierung hinaus nicht nachweisen, jedoch scheinen einzelne Elemente der Argumentation Karlstadts Gedanken Luthers aufzunehmen.16

Des Weiteren steht Karlstadts Bestreitung des Messopferwesens erkennbar auch unter dem Eindruck der Lektüre des 18. Artikels von Zwinglis großer theologischer Grundsatzschrift Auslegen und Gründe der Schlussreden, die im Juli 1523 erschien.17 Zwar bleibt in Karlstadts Traktat der Name des Zürcher Reformators ebenfalls ungenannt, und auch wörtliche Zitate aus der Zwingli-Schrift lassen sich nicht nachweisen, doch legen Anklänge und Übereinstimmungen nach Aussage, Intention und Argumentationsduktus die Annahme nahe, dass es diese Zürcher Publikation war, die Karlstadt im Spätsommer 1523 den Anstoß zu seinem Traktat Von dem Priestertum und Opfer Christi gab.18 Während Luther sein Abendmahlsverständnis wesentlich vom zeichenhaft beglaubigten Verheißungswort Christi herleitete, bestimmte Zwingli im »Wiedergedächtnis« von Jesu Christi Kreuzestod das zentrale Moment des Abendmahls. Mit dessen Feier erinnert sich die Gemeinde und bekennt sich zu Christus und seinem Evangelium.19Zwingli bestritt die überkommene Messopfer-Lehre vor allem mit dem aus dem neutestamentlichen Hebräerbrief gewonnenen Argument, dass Christi einmaliges, versöhnendes und erlösendes Kreuzesopfer eben das Ende jedes weiteren religiösen Opferkultes bedeutete.20 Das hatte Erasmus von Rotterdam in seinen im 1521 erschienenen lateinischen Hebräerbrief-Paraphrasen ebenfalls deutlich hervorgehoben.21 Eine explizite Kritik an der überkommenen römischen Messopfer-Lehre hatte er freilich dabei vermieden.22 Für ein eigenes Studium der Hebräerbrief-Paraphrasen des Erasmus durch Karlstadt spricht die ähnlich ausführliche und inhaltlich übereinstimmende Behandlung des alttestamentlichen Priestertums und Opferkultes. Diese präfigurierten in ihrer Vorläufigkeit und Unvollkommenheit, nach Karlstadts Auffassung, das Priestertum und Opfer Christi, das dieser in gehorsamer Selbsthingabe darbrachte. Auf diesen Gedanken war Zwingli in seinen Auslegen und Gründe der Schlussreden, anders als Erasmus und Karlstadt, kaum eingegangen, vielmehr hob der Zürcher Reformator den Aspekt der einmaligen und endgültigen Versöhnungs- und Erlösungswirkung des Kreuzestodes Jesu hervor.

Bis dahin hatte der Hebräerbrief für Karlstadts Abendmahlslehre, jedenfalls nach Ausweis der erhaltenen Texte, keine große Rolle gespielt. Nun bildete er vor allem im ersten Hauptteil der Abhandlung Von dem Priestertum und Opfer Christi die materiale Grundlage für weit ausgreifende typologische Darlegungen zum religiösen Kult. Hier entfaltete Karlstadt eine durchaus eigenständige Position. Während nämlich Zwingli in charakteristischer Weise von der Abendmahlsfeier als »Wiedergedächtnis« des Todes Christi sprach, lag Karlstadt – offenbar in Anknüpfung an Erasmus – zentral an der »Erkenntnis Christi« bzw. an dem »Gedenken« oder an dem »Gedächtnis« als Verstand und Affekt erfassenden und bewegenden Geschehen. War für Karlstadt bisher der Gebrauch des Begriffs »Gedächtnis« keineswegs charakteristisch gewesen,23 so ging für ihn nun bei der Abendmahlsfeier darum, die Gläubigen zur rechten, »herzlichen« und »liebreichen« Erkenntnis Christi und seiner Passion und seines Kreuzestodes zu verhelfen. Das Gedächtnis des sein Leben in Gehorsam und Liebe hingebenden, leidenden Christus vermag seine »Erkenner« von innen, vom Herzen her zu verwandeln und zur gehorsamen »Willenseinheit« mit Gott zu führen. Von einer mit der Abendmahlsfeier empfangenen Zusage ist nun keine Rede mehr, und auch Aussagen, die die reale leibliche Präsenz Christi in den Abendmahlselementen hervorheben, lassen sich nicht finden.24Karlstadt nahm in seine Darstellung Formulierungen aus den vorangegangenen Schriften des Jahres 1523 auf, die seine intensive Rezeption der Mystik Taulers und der Theologia Deutsch dokumentieren.25

Inhalt

Der umfangreiche Traktat lässt sich insgesamt in zwei große Hauptteile gliedern. Der erste Teil (KGK 249 (Textstelle)) handelt tatsächlich »Von dem Priestertum und Opfer Christi« – mit vielen, auch durch Zwischenüberschriften strukturierten Differenzierungen und Definitionen. Karlstadt bietet hierbei die biblisch-christologische Begründung seiner dann im zweiten Hauptteil (KGK 249 (Textstelle)) argumentativ ausgeführten radikalen Absage an die überkommene, durch den römischen Kanon geregelte Lehre und Praxis des »täglichen« Messopfers. Gegen Ende wendet sich der Traktat Von dem Priestertum und Opfer Christi immer nachdrücklicher an Theologen als seine Adressaten, die er vor allem im Blick hat. Wie der vorangestellte Eingangsgruß an alle »Heiligen Gottes«, besonders die »Gottesfürchtigen« von Orlamünde, kundtut (KGK 249 (Textstelle)), möchte Karlstadt seine Leserschaft dafür gewinnen, Christus recht zu erkennen. Die rechte »Erkenntnis« oder das »Gedächtnis« Christi sei schlechterdings heilsentscheidend, denn Christus könne und dürfe nicht als Opfer verstanden werden, das in der Feier der Messe immer wieder neu dargebracht werde.

Um der gedankenreichen Abhandlung besser folgen zu können, sei ihr Inhalt hier detaillierter dargelegt.

Der erste Hauptteil erklärt zunächst in kulttheologisch-typologischer Argumentation, was wahres, von Gott berufenes Priestertum (KGK 249 (Textstelle); KGK 249 (Textstelle)) und »was opffer« (KGK 249 (Textstelle)) im Sinne des Alten und Neuen Testaments bedeuten. Erkenntnisleitend ist dabei die prinzipielle Unterscheidung von »äußerlich« und »innerlich-geistlich«. Auf der Grundlage des Hebräerbriefes und zugleich aus gesamtbiblischer Perspektive arbeitet Karlstadt heraus, dass Christi priesterliches Wirken und sein geleistetes vollkommenes Hingabeopfer am Kreuz das Ende jedes weiteren religiösen Opferkultes nach sich ziehen. Die dem himmlischen Christus allein entsprechenden Opfer seien darum keine rituellen, vielmehr ausschließlich solche Opfer, welche die Gläubigen in der Nachfolge Christi erbringen (KGK 249 (Textstelle)). Es gehe um die Selbst-Hingabe an Gott im Gehorsam gegenüber seinem Wort und an die Mitmenschen in der Nächstenliebe.

Im Abschnitt »Amt des Priesters und Art des Opfers« (KGK 249 (Textstelle)) erläutert Karlstadt, dass Christus, der sündlose Gerechte, mit seinem Tod die Sünde wahrhaft »abwaschen« kann, weil er bewusst in sein Sterben eingewilligt und damit ein Vorbild gehorsamer Nachfolge gegeben habe. Im Abschnitt »Von Christus Priesterschaft und Opfer« (KGK 249 (Textstelle)) verbindet Karlstadt aus dem Hebräerbrief entnommene Gedanken mit seiner besonderen Hochschätzung der »Erkenntnis« Gottes oder Christi. Die »herzliche«, »liebreiche« Erkenntnis Christi als gerechter, friedevoller, weiser und gehorsamer Priester erfasst den ganzen Menschen in seiner Mangel- und Sündhaftigkeit und verbindet ihn mit Christus. Diese »Erkenntnis« lässt den Gläubigen alles empfangen, was Christus zugehört, und teilhaben an dem Priestertum, das vor Gott bestehen kann. Indem sich die Gläubigen an den sündlosen Priester Christus halten, können sie in »Keckheit und Freydigkeit« mit dem unvollkommenen Opfer ihres Lebens vor Gott treten.

Unter der Überschrift »Dreierlei Personen haben Christum geopfert« (KGK 249 (Textstelle)) betont Karlstadt, dass bei diesem Geschehen Gott der Vater aus Liebe handelte, um »die ganze Welt der Gläubigen« zu erlösen. Der Sohn Gottes habe sein Leben aus freiem Willen dahingegeben, gehorsam und aus Liebe zu seinen »Freunden«, während seine Verfolger von »Neid und Hass« getrieben waren. Im folgenden Abschnitt erklärt Karlstadt, »Was uns Christi Opfer gebracht hab« (KGK 249 (Textstelle)): nämlich »Vergebung aller Sünden« und »Versöhnung« mit dem Vater, weil Christus mit seinem Blut »aller Welt Sünde abgewaschen« habe und damit seine Gerechtigkeit den Gläubigen zuteil werden lasse. Unter der Überschrift »Ob Christus oft ein Opfer sein könne« (KGK 249 (Textstelle)), also ob Christus durch die Wiederholung des Messrituals immer wieder als Opfer dienen könne, bestreitet Karlstadt diese Frage entschieden und beteuert dagegen, dass alle »gesund werden«, die den ans Kreuz gehängten, »geopferten Christum ansehen« (KGK 249 (Textstelle)).

Nach der christologischen Grundlegung im ersten Hauptteil seines Traktats kommt Karlstadt im zweiten Hauptteil unter der ersten Überschrift »Ob Christus in täglichen pfäffischen Messen ein Opfer sei« (KGK 249 (Textstelle)) zur eigentlichen Auseinandersetzung mit der Lehre und Praxis des Messopfers. Der Teufel habe aus dem Abendmahl Christi Messfeiern in ausufernder Anzahl gemacht, die den »Pfaffen« zum Erwerb von Geld und Gütern dienten. Die Messen basierten (erstens) auf der Irrlehre, dass das einmalige Opfer Christi »nicht genug« sei, sondern der rituellen Wiederholung bedürfe, und eben deswegen »Christus Opfer täglich aufs neue für neue tägliche Sünde geopfert werden« könne (KGK 249 (Textstelle)). Dies widerspreche direkt den Aussagen der Heiligen Schrift. Die Erklärung, bei den Messen würden – im Sinne der alttestamentlichen Speiseopfer – nur Brot und Wein geopfert, sei sinnlos und mache die »überschwängliche Kraft und Herrlichkeit Christi«, ja Christus selber »wüste« (KGK 249 (Textstelle)).

Der nächste, umfangreiche Abschnitt des zweiten Hauptteils, markiert durch die Überschrift »Eine andere Begründung, dass Christus kein Opfer sei in der Messe« (KGK 249 (Textstelle)), hebt hervor, dass die Heilige Schrift der Bezeichnung Christi als Opfer widerspreche. Auch würde die Erhabenheit des Priestertums Christi gegenüber der Macht der Sünde geschmälert, weil immer wieder neue Opfer nötig wären. Der in Gottes Herrlichkeit auferstandene Christus befindet sich jedoch nicht in der Verfügungsgewalt der in der Messe agierenden Kleriker (KGK 249 (Textstelle)). Nach Christi Anweisung gehe es beim Abendmahl, wie Karlstadt erklärt, nicht um ein Opfern, sondern um das »Danksagen«, um das »herzfreundliche Gedächtnis des Leidens, des Todes und Opfers Christi« (KGK 249 (Textstelle)). Die »freundliche Erkenntnis Christi, des Priesters und seines Amtes« ermögliche die Versenkung »in Christum« und das Bleiben »in Christo« (KGK 249 (Textstelle)). Ein solches Gedenken könne täglich stattfinden, es bedeute aber keineswegs, Christus wiederholt zu opfern. Hier kommt der zentrale Punkt von Karlstadts Abendmahlsverständnis zum Ausdruck. Wenn Kirchenlehrer tatsächlich vom Opfer Christi schrieben, könne dies keine Geltung beanspruchen. Augustin und Ambrosius jedenfalls hätten nicht das Messopfer-Verständnis gelehrt; auch der Apostel Paulus habe dies nicht getan. Von der Lehre Christi her sei ein kritisches Urteil gefordert (KGK 249 (Textstelle)). Die angebliche Wiederholung des Kreuzesopfers Christi in der Messe sei abzulehnen, weil sie die »Zusage Gottes« zunichte mache. Auch das Argument mit dem Status der »Heiligkeit« oder des guten Willens der Kirchenlehrer gelte hier nicht (KGK 249 (Textstelle)).

Ein weiterer (dritter) größerer Sinn-Abschnitt (im zweiten Hauptteil der Abhandlung) weist auf den ungeheuerlichen Tatbestand hin, dass die Priester beim Ritual des Messopfers die frevlerische Rolle der »Pharisäer, Häscher oder Henker« einnähmen und so das Kreuzesopfer wiederholten (KGK 249 (Textstelle)). Eine entscheidende Mitschuld an der »widerchristlichen Blindheit und Boßheit der Messe« tragen nach Karlstadts Auffassung auch die Laien, vor allem der Adel und die reichen Bürger. Jeder wolle »einen Pfaffen« haben, für den er Messen stifte. Karlstadt ruft die Laien auf, als erste von den Messen abzulassen und stattdessen den »armen redlichen Pfaffen oder Mönchen das Einkommen [zu] geben«, das sie brauchten (KGK 249 (Textstelle)).

Zum Abschluss unterstreicht Karlstadt mit aller Deutlichkeit: Das Wort Messe sei »teuflisch«, weil es Christi Abendmahl als Opfer vor Gott bezeichne (KGK 249 (Textstelle)) und damit Christus täglich Schande zufüge. Von den Gläubigen gefordert sei allein ein bußfertiges Herz und das »vernünftige Opfer« in der Nachfolge Christi. Mit dem Segen des gehorsamen Abraham, bestätigt durch Mose, gelte, dass Christus mit seiner Liebe und seinem Gehorsam alles für seine Brüder vollbracht habe. Karlstadt weiß »von keinem höheren Werk des Gehorsams noch von einer besseren Frucht der Liebe Christi, durch welche wir Christus Gehorsam und Liebe erkennen« können, als »der Gehorsam und Liebe Christi am Kreuze« (KGK 249 (Textstelle)).


1Zu Buchfürer und seiner Tätigkeit für den Karlstadt-Kreis 1523/24 siehe Einleitung zur Schrift Ursachen seines Stillschweigens und von rechter Berufung (KGK 248 (Anmerkung) und KGK 248 (Anmerkung)).
2Vgl. z.B. »unschudig« (KGK 249 (Textstelle)) oder »voglt« (KGK 249 (Textstelle)) statt korrekt: »unschuldig« bzw. »volgt«.
3Zu den Buchdruckern vgl. Reske², Buchdrucker, 218f. und 433 (Buchfürer in Erfurt und Jena) bzw. Reske², Buchdrucker, 953f. (Schürer Erben, Straßburg).
6Vgl. KGK V, Nr. 219, S. 184, Z. 2–7.
7Vgl. Kaufmann, Orlamünde, 313. Zur Ausstrahlung von Karlstadts reformatorischem Wirken in Orlamünde und Umgebung vgl. Barge, Karlstadt 2, 102; Joestel, Ostthüringen, 83–111; zum großen historischen Zusammenhang vgl. Kaufmann, Mitte der Reformation, 414f.
8Vgl. aber Joestel, Ostthüringen, 90f., der den Traktat Von dem Priestertum und Opfer Christi als konkreten Ausdruck von Karlstadts»Orlamünder Theologie« auffasst.
9Vgl. den Eingangsgruß Karlstadts in seiner Abhandlung (KGK 249 (Textstelle)).
10KarlstadtsSchrift über die Messe gegen Hieronymus Dungersheim (»Von dem herrlichen Abendessen Christi«), entstanden im April 1522 (KGK V, Nr. 228), wurde konfisziert und kam nicht zur Veröffentlichung.
11KGK IV, Nr. 205, S. 620–673.
12Zu den feinen, aber wesentlichen Unterschieden von Luthers und Karlstadts Abendmahlsauffassung um 1521/22 vgl. Kaufmann, Abendmahl, 201–203.
13Vgl. die Schriften Von den Empfängern des Sakraments (KGK IV, Nr. 183) und Von Anbetung der Zeichen (KGK IV, Nr. 204). In den Wittenberger Thesenreihen 13 Conclusiones de scandalo et missa vom 24. September 1521 (KGK IV, Nr. 195) und 138 Articuli vom 17. Oktober 1521 (KGK IV, Nr. 199) schien Karlstadt sogar mit seinem Verständnis für die Privatmessen zwischenzeitlich punktuell wieder hinter Luther zurückzufallen. Auch sein umfangreicher Traktat Von beiden Gestalten der Messe behandelt das Thema nicht (KGK IV, Nr. 205, S. 623, Z. 15f.).
14Karlstadt reagierte, wie der Text dieser Abhandlung vermuten lässt, auch auf die umfangreiche Assertio septem sacramentorum adversus Martinum Lutherum (1521) König Heinrichs VIII. von England, die eine Replik auf LuthersDe captivitate Babylonica ecclesiae darstellte und in mehreren Ausgaben auf Deutsch erschienen war; siehe unten KGK 249 (Anmerkung).
15Vgl. insbesondere WA 8, 538,15–21 und 539,8–16. Luthers deutsche Version von De abroganda missa privata (WA 8, 398/411–476) erschien im November 1521 unter dem Titel Vom Missbrauch der Messe (WA 8, 477/482–563); zu diesen Luther-Schriften vgl. zuletzt ausführlich Simon, Messopfertheologie, 327–345.
16An Luthers Schrift Vom Missbrauch der Messe erinnert die kritische Bemerkung, dass die Messe aus Habgier (»geytz«) erfunden worden sei (KGK 249 (Textstelle); vgl. WA 8, 499,20–22), die grundsätzliche Differenzierung von wahren und geistlosen Priestern (KGK 249 (Textstelle); vgl. WA 8, 486,18–498,25 und 538,1–542,15) sowie die auch für Karlstadt typischen Aufzählungen, etwa die Beispiele, was Opfer konkret bedeuten können (KGK 249 (Textstelle); vgl. WA 8, 539,32–36).
17Zwingli, Werke 2 (= CR 89), 111–145. Zum Erscheinen der Schrift vgl. Gäbler, Zwingli, 68f. Die ersten Hinweise auf die Abhängigkeit Karlstadts von Zwingli bot Burnett, Eucharistic Controversy, 57 und Burnett, Debating, 84f.
18Zum Stand von Zwinglis Abendmahlsverständnis im Jahr 1523 vgl. prägnant Wendebourg, Essen, 70–85.
19Vgl. Simon, Messopfertheologie, 332 Anm. 295 u.ö.
20Den Anstoß zur expliziten Problematisierung der Realpräsenz Christi in den Elementen des Abendmahls empfing Zwingli offenbar erst durch die im Oktober 1524 publizierten Karlstadtschriften; vgl. Locher, Zwinglische Reformation, 124f.
21In epistolam Pauli Apostoli ad Hebraeos Paraphrasis (ASD VII-6, 19–106, bes. 76,783–78,797).
22Zum Verhältnis der genannten Schriften Erasmus', Zwinglis und Karlstadts vgl. Burnett, Eucharistic Controversy, 57f.
23Vgl. aber Karlstadts Traktat Von beiden Gestalten der Messe (KGK IV, Nr. 205, S. 647, Z. 10–S. 648, Z. 14); vgl. insgesamt Wendebourg, Essen, 61–64.
24Gewiss können manche Aussagen auch als Ansätze zur Problematisierung der Realpräsenz-Lehre aufgefasst werden. Barge, Karlstadt 2, 151 sieht diese »bereits ausgeschaltet«; Ponader, Caro, 226 mit Anm. 29 und 30 meint sie explizit kritisiert zu sehen, ebenso Joestel, Ostthüringen, 90 und (mit anderem Fokus) Joestel, Neue Erkenntnisse, 121–125. Wendebourg, Essen, 63 Anm. 23, wiederum vermerkt die Realpräsenz-Auffassung im Traktat Von dem Priestertum und Opfer Christi als »am Rande noch vorausgesetzt«; ähnlich auch Burnett, Eucharistic Controversy, 58 mit Anm. 20, die jedoch auch auf das beredte Schweigen Karlstadts über dieses Thema hinweist.
25Die Traktate Von Mannigfaltigkeit des Willens Gottes (KGK 239), und Was gesagt ist: Sich gelassen (KGK 241) sind im März bzw. im Juni 1523 erschienen.

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