1. Überlieferung
Frühdrucke:
Concluſiones decē chriſtianiſsimę,per An=‖dreā Bodēſtein de Carolſtat,Theologię ‖ & V.I.Do.Vuittēbergę diſputatę. ‖
in:
Hutten, Ulrich von u. a.
C O N T E N T A. ‖ Vlrichi ab Hutten, Equitis Germ.Exclamatio,in ‖ incendium Lutheranum. ‖ Chunradi Sarctoris ſaxofranci,de eadem re ad ‖ Germanos Oratio. ‖ Carmen elegans & doctum,in Hieronymū Ale=‖andrum, hoſtem Germanicę liberratis. ‖ Concluſiones decem chriſtianiſsimę, per Andreā ‖ Bodenſtein, de Carloſtad. ‖ Vuittenbergæ ‖ diſputa=‖tę. ‖
[Straßburg]: [Johann Schott], [ 1521], fol. b4r – b6r.
4°, 10 Bl., A 4. B 6 (fol. A1v und B6v leer).
Editionsvorlage:
ÖNB Wien, 31.J.72.Weitere Exemplare: Andreaskirchbibliothek Eisleben, 221c. — ThULB Jena, 4 Art.lib.VI,4(3). — Taylor Library Oxford, Tr.Luth. 11 (133). — ÖNB Wien, 11.J.61. — HAB Wolfenbüttel, H: H 52a.4° Helmst. (2). — HAB Wolfenbüttel, H: H 54.4° Helmst. (5). — HAB Wolfenbüttel, H: H 62.4° Helmst. (3). — [A₁] BSB München, Res/4 Opp. 90,I,18. — [A₁] UB Tübingen, Gh 330.4° angeb.
Bibliographische Nachweise:
- Riederer, Versuch, Nr. 28.
- Benzing, Hutten, Nr. 151.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1410.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 28.
- VD 16 B 6130.
Der Druck A₁ mit einer Abweichung auf dem Titelblatt: »C O N T E N T A:«. Nicht aufgeführt bei Benzing, Hutten. Bei dem zweiten Wiener Exemplar ist auf fol. b3v im Kolumnentitel »EXPOST. AD AL,EAN.« das Anfangs-E verrutscht.
ALIA
in:
Luther, Martin; Karlstadt, Andreas Bodenstein von; Melanchthon, Philipp u. a.
CHRISTIANISSI‖MI VVITTENBERGENSIS GYMNA‖ſij,multarum Diſputationū paradoxa & plane enigmata in ‖ Papiſtica illa mendacijs confuſiſſima Eccleſia:uulgaria ‖ uero ueræ Chriſti Eccleſiæ pronūciata. Atq(ue) ex his ‖ lector iudicabis,quid agatur in uere Chriſtia/‖na ſchola, quāq(ue) hæretica ſit Lutecia,& ‖ omnes filiæ eius. ‖ AVCTORES SVNT, ‖ Martinus Lutherus. ‖ Andreas Carolostadius. ‖ Philippus Melanchthon. &c, ‖ […] ‖ [Am Ende:] EXCVSAE ANNO DOMINI ‖ M. D. XXI. MENSE ‖ SEPTEMBRI. ‖
[Basel]: [Adam Petri], 1521, fol. b1r– v.
4°, 8 Bl., A 4–B 4 (fol. A1v und B4v leer).
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, M: Li 5530 Slg. Hardt (38, 656).Weitere Exemplare: UB Basel, FM1 XI 9:7.
Bibliographische Nachweise:
- Benzing/Claus, Lutherbibliographie, Nr. 819.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 555.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 36.
- VD 16 C 2306.
DE PONTIFICVM ‖ DECRETIS
in:
Luther, Martin; Karlstadt, Andreas Bodenstein von; Melanchthon, Philipp u. a.
LVTHERI, ‖ MELANCH. CAROLOSTADII &c. ‖ PROPOSITIONES, VVITTEM=‖BERGAE uiua uoce tractatæ,in hoc´q; ple‖ræ æditæ ab auctoribus,ut uel nos abſentes ‖ cum ipſis agamus,uel certe ut ueri=‖tatis,& ſeductionum ad‖moneātur boni. ‖ Sunt autem id genus, ‖ De ‖ Miſſa & celebratione eius. ‖ Sacramento panis & uini. ‖ Promißione & praecepto. ‖ Fide & operibus. ‖ Cantu Gregoriano. ‖ Coniuratione ſpirituum. ‖ Cœlibatu preſbyterorum. ‖ Decimis ac uotis. &c. ‖ BASILEÆ. M. D. XXII. ‖
Basel: [Adam Petri], 1522, fol. D5r–v (Nr. 9).
8°, 56 Bl., A 8–G 8 (fol. A1v und G8v leer).
Editionsvorlage:
BSB München, Polem. 3020,13.Weitere Exemplare: ÖNB Wien, 77.Cc.281. — RFB Wittenberg – Stiftung Luthergedenkstätten, LH Ag 8 548d. — RFB Wittenberg – Stiftung Luthergedenkstätten, LH SS 1516. — RFB Wittenberg – Stiftung Luthergedenkstätten, LH SS 2272. — RFB Wittenberg – Ev. Predigerseminar, LC590/1. — RFB Wittenberg – Ev. Predigerseminar, NH C13/3.
Bibliographische Nachweise:
- VD 16 L 7642.
Editionen:
- Gerdes, Scrinium 1, 39f.
- Bubenheimer, Consonantia, 290f.
Literatur:
- Jäger, Carlstadt, 166.
- Barge, Karlstadt 1, 235f.; 473 Nr. 5.
- Bubenheimer, Consonantia, 171–175.
Handschrift:
Abschriften von der Hand Christoph Schappelers, außer fol. 247r und 270r–271v sowie dem eingebundenen Druck 249r–266v
2. Inhalt und Entstehung
Inhaltlich gehören die 10 conclusiones de pontificum decretis in den Kontext der Bannandrohungsbulle im Herbst 1520.1 Die mit Anmerkungszeichen auf die Thesen bezogenen Glossen scheinen unmittelbar darauf entstanden zu sein. Dass der Druck A mit den Glossen der Erstdruck ist, zeigt sich in der dritten These, die 1520 als ihre Gegenwart angibt. Die Varianten B und C setzen dort ihre Druckjahre 1521 bzw. 1522 ein. Druck A, dem neben den zehn Thesen Karlstadts Flugschriften Ulrichs von Hutten, Konrad Sarctors und anderer gegen Kardinal Hieronymus Aleander beigegeben sind, wurde lange allgemein in den Herbst 1520 bzw. zum Ende des Jahres datiert.2 Genauere Hinweise verbirgt jedoch die dem Druck zugehörige OratioSarctors, die angibt, dass Luthers Schriften einen Monat zuvor in Köln (12.11.1520) und danach in Mainz (29.11.1520) verbrannt worden seien.3 Demnach ist Druck A im Dezember 1520 entstanden.4 Ausweislich des Inhalts der 9. These, die nach der Abschaffung der Dekretalen fragt, wird aber deutlich, dass die 10 conclusiones de pontificum decretis bereits im Oktober/November 1520 disputiert worden sein müssen.5
Der Autor der Glossen ist bisher unbekannt. Karlstadt selbst gab vor, es nicht zu wissen. Am 9. Februar 1521 schrieb er an Georg Spalatin, dass er zu gerne wüsste, wer seinen Thesen Glossen hinzugefügt habe, weil sie aus Leipzig nach Wittenberg gekommen seien: »Vellem scire, quis scholia in meas Conclusiones adiecit, siquidem istinc huc volaverunt.«6 Dies könnte auf eine Glossierung in Leipzig verweisen. Nicht auszuschließen sind aber auch Glossatoren aus dem Kreis um Ulrich von Hutten, der die Sammlung verantwortete, oder des Franz von Sickingen (Johannes Oekolampad, Martin Bucer, Otto Brunfels u. a.). Bubenheimer vermutet Hutten als Verfasser.7
Die 10 Conclusiones stellen die Irrtumsfähigkeit des Konzils und die Unvereinbarkeit der Konzilskanones mit dem göttlichen Recht fest. 1) Die erste These stellt das Meldensische Konzil von 845 und seinen kompletten Irrtum an den Anfang der Argumentationskette. 2) Dasselbe Konzil habe sich die Exkommunikation zugezogen, da es verlangte, dass in geistlichen Dingen die Bestimmungen der Kanones zu beachten seien. 3) Alle Päpste seit Alexander IV., also seit 1246 bis in die Gegenwart, haben sich durch die Verwendung der Dekretalen exkommuniziert. 4) Leo X. könne nicht exkommunizieren, denn gemäß eigenem, päpstlichen Recht gilt, dass ein Exkommunizierter nicht exkommunizieren könne. 5) Mit biblischem Bezug8 ist bestimmt, dass nur das zu predigen sei, was der Herr gepredigt habe. 6) Über geistliche Dinge kann es keine menschlichen Richter geben. 7) Geistliche Dinge mit menschlichen Traditionen zu messen, ziehe die Exkommunikation nach sich. 8) Auch wenn die Traditionen das Gesetz Gottes imitierten. 9) Eine Fragethese: Sind die päpstlichen Dekretalen aufzuheben? 10) Der Schwur des Papstes, das göttliche Gesetz und die päpstlichen Dekrete zu beachten, könne nur ein Meineid sein.
Die Glossen zu den Thesen, die nicht von Karlstadt stammen,9 geben Erläuterungen und Literarturhinweise, überführen aber häufig den Inhalt der Thesen in mehr oder weniger ironischer Form in eine Zuspitzung und Radikalisierung.
Die erste These über die Irrtümer des Meldensischen Konzils10 knüpft an den Beweis der Irrtumsfähigkeit des Konzils durch Nicolaus de Tudeschis (Panormitanus) an. Das Konzil hatte in Fragen der Raubehe anders entschieden als Hieronymus, was bereits Gratian mit der Bemerkung kritisierte, dass die Autorität des Hieronymus sich auf das Zeugnis des gottlichen Gesetzes stütze, womit er das Urteil des Konzils als nicht mit diesem konform kennzeichnete.11Panormitanus führt im Kommentar zum Kapitel »Significasti« (X. 1,6,4) das Meldensische Konzil als Beispiel für eine irrende Kirchenversammlung an, begründet dies aber damit, dass zwischen einem Konzil als ecclesia universalis repraesentative und der Gesamtkirche, der Braut Christi, als collectio omnium fidelium zu unterscheiden sei. Diese stelle vere (wahrhaftig und völlig) die ecclesia universalis dar, ein Konzil aber könne irren, da in ihm nur eine begrenzte Repräsentanz der Gesamtkirche vorzufinden sei.12Karlstadt überschreitet jedoch mit der zweiten These Panormitanus, indem er feststellt, dass dasselbe Konzil zu exkommunizieren sei, da es die Kanones auch in geistlichen Fragen für verbindlich erklärte – allerdings nimmt er nur die oben erwähnte Feststellung Gratians auf, dass das Konzilsurteil nicht wie das des Hieronymus mit dem göttlichen Gesetz übereinstimme.13 Diesem Argument korrepondieren weitere Thesen. In der siebten heißt es, dass es der Exkommunikation würdig sei, geistliche Angelegenheiten an menschlichen Traditionen auszurichten. Deshalb sei es – so die zehnte These – unmöglich, das göttliche Gesetz und das päpstliche Recht zugleich einzuhalten; der Papst, der dies behauptet, sei meineidig.
Das Beharren auf den Dekretalen durch das Papsttums führe zu seiner Selbstexkommunikation. Es habe mit Papst Alexander IV. (1254–1261) eingesetzt (These 3), also nach der Dekretalensammlung durch Papst Gregor IX. (1227–1241) von 1234. Dies überrascht, hatte Karlstadt doch zeitgleich in Päpstliche Heiligkeit eine Dekretale Innozenz III. (1198–1216) schneidender Kritik unterzogen.14 Doch Bubenheimer15 weist darauf hin, dass Karlstadt als Kirchenjurist dem Lob von Glossatoren wie Filippo Decio auf den späteren Papst Innozenz IV. (1243–1254), dem Vorgänger Alexander IV., folgte, der als pater veritatis bezeichnet wurde.16 Schon in den Apologeticae Conclusiones hatte Karlstadt Innozenz Aussage zitiert, dass niemandem Leichfertigkeit vorgeworfen werden dürfe, der sich auf Kirchenväter beruft, und diese als »optimum Romani Pontificis dictum« (der beste Spruch eines römischen Papstes) bezeichnet.17 In Abwandlung heißt es in De canoncicis scripturis, dass nach Innozenz gegen Worte der Schrift kein Zweifel bestehen dürfe,18 und die Bedingung greift schließlich beide Aussagen auf.19 Zur Ausrichtung des Schlages gegen Alexander IV. könnte Karlstadt bewogen, dass dieser Papst eine Dekretale verfasste, nach der Laien nicht über Glaubensdinge disputieren dürften.20Karlstadt widersprach dieser Dekretale nicht nur implizit, da er in den Verba DeiJohann Ecks Unterscheidung der Rede vor Klerikern und vor Laien seine simplicitas-Konzeption entgegensetzte,21 sondern setzte sich mit ihr in De canonicis scripturis auch direkt auseinander.22
Bei der Thesenreihe handelt es sich also nicht um eine grundlegende oder systematische Auseinandersetzung mit der Kirchengeschichte. Daher kann sie auch nicht als eine historische Studie angesehen werden.23 Stattdessen tradiert sie einige kirchengeschichtliche Wissensbestände des Kirchenjuristen Karlstadt, die zu seiner aktuellen theologischen Positionierung querstehen. Was allerdings die Haltung zum modernen Papsttum, dessen Exkommunikationsfähigkeit und die Fallibilität von Papst und Konzil betrifft, entspricht sie gleichzeitigen Argumenten des Reformators Karlstadt. Ein Konzil, wie es Karlstadt in der zeitnahen Appellation gegen die Exkommunikationsdrohung anruft, sei von biblischer Sachautorität bestimmt, nicht von sich für unfehlbar haltenden Prälaten.24
Die in die Mitte der Thesenreihe platzierten Thesen 5 und 6 deuten auf die Diskussion einer neuen Ekklesiologie. Die Prediger sollten nur das Evangelium bzw. die Bibel verkünden und diese allein an Hand der Schrift auslegen. Menschliche Traditionen, also Sentenzen, Kanones und Glossen, seien aufzugeben. Ebenso sind Urteile in geistlichen Dingen allein Gott zu überlassen.
Diese Argumentation führt zum letzten Komplex (Thesen 7–10), dem zukünftigen Umgang mit den Dekretalen. Da sie nur einen Anstrich des göttlichen Gesetzes besäßen (These 8), seien sie letztlich unvereinbar mit diesem (Thesen 7 und 10). Daher sei eine Aufhebung der Dekretalen zu diskutieren (9. These). Dass diese Aufhebung noch als Frage formuliert wird, deutet darauf hin, dass die Disputation der 10 Conclusiones bald nach dem Eingang der päpstlichen Bannandrohungsbulle stattgefunden haben muss. Denn mit der Verbrennung der Bannbulle vor dem Elstertor in Wittenberg am 10. Dezember 1520 wurden neue Fakten geschaffen. Aber bereits die Glosse zu Karlstadts These spricht eine radikalere Sprache: Die Dekretalen seien dem Gemeinwohl schädlich und legten die Welt in römische Knechtschaft. Demjenigen, der die Waffen in der Hand hält, seien sie kaum mit freundlichem Rat zu entreißen.
Letztlich hat die Thesenreihe der 10 Conclusiones einen praktischen Zweck. Wenn die These 4 behauptet, dass Papst Leo X., der mit seiner Bulle Exsurge Domine drohte, Luther und Karlstadt zu exkommunizieren, kirchenrechtlich gar nicht dazu in der Lage sei, da er als Papst in der Nachfolge Alexander IV. und Benutzer des kanonischen Rechts selbst exkommuniziert sei, greift sie in die aktuelle Tagespolitik ein und gehört zu der Publikationsoffensive25Karlstadts, mit der er sich gegen die Exkommunikation stellte.