Nr. 146
Verba Dei Quanto candore et quam syncere praedicari, quantaque solicitudine universi debeant addiscere
1520, [Anfang Februar]

Einleitung
Bearbeitet von Harald Bollbuck

1. Überlieferung

Frühdruck:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
VERBA DEI ‖ Quanto candore & ̅ ſyncere prædicari, quan=‖ta ſolicitudine vniuerſi debeant addiſcere. ‖ CAROLOSTADIVS. ‖ Cōtra D. Ioannē Eckiū, qui manifeſta=‖rie dixit,aliud dicendum theolo=‖giſtis,aliud gregi Chriſtia=‖no, aliud in ſchola, ‖ aliud in eccleſia, ‖ concludi=‖tur ‖ Eadem ‖ at omnia ‖ ſcripturarum ‖ teſtimonia Chri=‖ſtianis oībꝰ inculcāda. ‖ Contenta, verſa pagella indicat. ‖ Vuittenbergæ,apud Melchiorem Lot/‖therum iuniorem, Anno ‖ M.D.XX. ‖
Wittenberg: Melchior Lotter, 1520.
4°, 28 Bl., A4–G4 (fol. G3v mit kfstl. Wappen, fol. G4r–v leer).
Editionsvorlage:
[A:] BSB München, Res/4 Polem. 2498.
Weitere Exemplare: [AAug] SuStB Augsburg, 4 Th H 531. — [ABr] Domstiftsarchiv Brandenburg, G: B 4, 14, 15. — BSB München, 4 Polem. 558. — [A] UB Tübingen, Gf 1004.4°. — ÖNB Wien, 77.Dd.389. — [AWo] HAB Wolfenbüttel, A: 112.4 Theol. (17). — HAB Wolfenbüttel, H: H 55.4 Helmst. (5). — HAB Wolfenbüttel, H: H 53.4 Helmst. (5).
Bibliographische Nachweise:

Das Exemplar der Editionsvorlage aus der BSB München besitzt zahlreiche hsl. Anstreichungen und Markierungszeichen; vereinzelt sind zu eng aneinander gedruckte Marginalien mit einem Strich voneinander getrennt. Zwei Exemplare aus Brandenburg [ABr:] und Wolfenbüttel [AWo:] sind mit eigenen Untersiglen versehen worden, da sie nicht nur reiche hsl. Kommentierungen enthalten, sondern an wenigen Stellen auch Textänderungen, die, soweit sie sinnvoll erschienen, in die Textkorrektur der Edition Eingang fanden. Das Brandenburger Exemplar [ABr:] entstammt dem Sammelband, dem auch ein Druck der Epistola mit autographen Einträgen Karlstadts zugehört.1 Vorbesitzer – wahrscheinlich des gesamten Bandes – war Johannes Seyfried.2 Die Hand des Wolfenbütteler Exemplars [AWo:] ist die des Gangolfus Pistoris, der auch Verbesserungen und Anmerkungen in den Druck der demselben Sammelband entstammenden Epistola gesetzt hatte.3 Der in Augsburg aufbewahrte Druck [AAug:] entstammt dem Besitz des Vitus Bild, der auf die letzten, unbedruckten Seiten eine Abschrift von Karlstadts lateinischem Currus platzierte.4 Seine hsl. Eingriffe bestehen vor allem in Unterstreichungen und wenigen Glossen. In Tübingen [A:] wiederum befindet sich das Handexemplar Johann Ecks, der den Text wenig und an den Stellen, an denen der Angriff Karlstadts besonders ad hominem ging, glossierte.5 Dieser Druck gehörte als Nr. 9 zu einem – höchstwahrscheinlich von Ecks Hand – fortlaufend foliierten Sammelband; er hat die Blattzählung 293 bis 320. Der Druck Nr. 8 dieses zu einem unbekannten Zeitpunkt aufgelösten Sammelbandes ist KarlstadtsDefensio (KGK I, Nr. 90), erhalten in der BSB München, 4° Polem. 3340,17 (foliiert 262 bis 292). Eck hatte die Notizen eingetragen, bevor der Druck als Nr. 9. in einen (einstigen) Sammelband eingebunden wurde, denn die Notizen sind zum Teil beschnitten. Die Bleistiftnotiz auf dem Titelblatt oben: »Salem« deutet auf den nächsten Besitzer, das Zisterzienserkloster Salem. Nach dessen Säkularisation 1802–04 übernahm der Großherzog von Baden die Klosterbibliothek, die in den 1820er Jahren zu großen Teilen an die UB Heidelberg verkauft wurde, die daraus einen Sonderbestand mit der Signatur »Sal.« bildete. Spätestens hier wurde der Sammelband aufgelöst, denn die UB Heidelberg übergab dieses Exemplar der Verba Dei als Dublette an die UB Tübingen.

Literatur:

2. Inhalt und Entstehung

Die Verba Dei sind die zweite umfassende Schrift, die Karlstadt im Streit mit Johann Eck im Nachgang zur Leipziger Disputation verfasste. Sie ist ein polemisches Traktat, gegliedert in zwei Hauptteile und siebzehn Unterkapitel, in weiten Teilen in der Form eines fiktiven Dialogs mit dem Gegner gehalten. Später angefügt ist eine Apologie gegen eine neuerlich erschienene Schrift Ecks. Wie das Vorgängerwerk Epistola (KGK II, Nr. 140) sind die Verba Dei hauptsächlich einem Thema gewidmet. Dort ging es um die Frage der Mitwirkung des freien Willens am Gnadenaufruf bzw. der alleinigen Wirkung Gottes. Diese Schrift widmet sich der Widerlegung einer Aussage Ecks, der am Rande der Leipziger Disputation behauptet hatte, es sei legitim, das Wort Gottes vor dem Kirchenvolk anders als vor Gelehrten zu interpretieren.6 Ein Verweis in der Epistola deutet darauf hin, dass Karlstadt schon während deren Niederschrift an der Konzeption der Verba Dei gearbeitet hatte.7 Auf jeden Fall begann er unmittelbar nach der Veröffentlichung der Epistola (Ende Oktober/Anfang November 1519) mit der Arbeit, die noch im selben Jahr beendet wurde, was die Datierung der Schrift am Ende der Applicatio und des Vorbehalts (fol. G2v) – einem vermutlich vorläufigen Textabschluss – anzeigt. In einem am 22.12.1519 verfassten Brief an Spalatin meinte Karlstadt, er werde dafür Sorge tragen, dass auch Eck in künftigen Auseinandersetzungen intensiver als vorher auf eine Kenntnis der Heiligen Schrift verpflichtet werden solle (und implizit weniger auf persönliche Polemik).8 Damit kann er sich auf die Postulate der Verba Dei bezogen haben,9 ebenso jedoch auf andere Werke, die er in dieser Zeit bearbeitete.10 Letztlich ist nichts über einen Stand der Arbeiten an den Verba Dei ausgesagt.

Die Titelseite terminiert den Text auf das Jahr 1520. Auf den dem ersten Textabschluss folgenden Seiten (fol. G2v–G3v) ist eine Apologia nova und eine Abrechnung mit Ecks Spitzen gegen Karlstadts mangelhaftes Erinnerungsvermögen abgedruckt. Beide Texte beziehen sich explizit auf Ecks Verteidigungsschrift für Hieronymus Emser,11 die Luther erstmals am 25.12.1519 in einem Brief an Spalatin erwähnte.12 Doch erst am 23.2.1520 übersandte Karlstadt den fertigen Druck der Verba Dei an Spalatin, die er als eine Schrift anpreist, die die Notwendigkeit des Bibelstudiums für alle Christen betont.13 Also ist der fertige Text – inklusive der nachgesetzten Apologie gegen Ecks Emserverteidigung – erst im Februar in Melchior Lotters Werkstatt gesetzt worden. Die Ursache für diesen zeitlichen Abstand bis zur Drucklegung kann nicht völlig geklärt werden. Möglicherweise hatte LuthersSermon vom Sakrament des Leichnams Christi (auch Sermon vom Abendmahl) im Dezember 1519 Turbulenzen ausgelöst.14 Am Hof von Hzg. Georg von Sachsen und, von diesem beeinflusst, bei Bf. Johann von Meißen galt der Reformator nun als Ketzer in der Nachfolge von Jan Hus,15 und Luther musste sich vor Spalatin brieflich rechtfertigen.16 In einem Brief an Spalatin vom 5.1.1520 fragte Karlstadt nach, ob tatsächlich aus Spalatins vorherigem Schreiben ein Veto gegen den Druck von Karlstadtschriften herauszulesen sei.17 Laut Vorwort der Confutatio18 lag Karlstadt nach Rückkehr von einer Reise am 4.2.1520 die nächste ihn zutiefst diffamierende Schrift Ecks vor.19 In den Verba Dei reagierte er darauf nicht mehr, doch mag die Kenntnis dieser Veröffentlichung, die Karlstadt in eine tiefe Krise stürzte, ihn dazu bewogen haben, nun endlich doch den Druck der Verba Dei bei Lotter durchzusetzen.

Der Aufbau der Schrift folgt den Vorgaben klassischer Rhetorik.20 Dem Inhaltsverzeichnis (Contenta) über die 17 ursprünglichen Kapitel samt hinzugefügter Apologie folgt eine knappe Widmung, die in ein Prooemium übergeht, um das Interesse am Stoff zu wecken. Dieses enthält die Darstellung der Sachlage (narratio) und die Formulierung und Gliederung des Themas (partitio). Der Hauptteil der Schrift besteht in Widerlegungen (refutationes) der Argumente des Gegners Eck und einer argumentativen Bestätigung eigener Aussagen (confirmatio). Im letzten Kapitel erfolgt eine Rekapitulation (peroratio, hier als enumeratio bezeichnet) der eigenen Argumente, gefolgt von einer Applicatio, die eine praktische Nutzanwendung des zuvor theoretisch Explizierten ausführt, und einem an die Bewidmeten gerichten Vorbehalt. Daran schließt sich die bereits erwähnte Apologie an.

Die Widmungsvorrede ist an Georg Elner und Jakob Vogt gerichtet. Georg Elner (um 1473–1543) war zur Zeit der Abfassung der Verba Dei Dekan der philosophischen Fakultät Wittenberg;21 der Franziskanermönch Jakob Vogt (gest. 1522) war der Beichtvater Kfst. Friedrichs III. von Sachsen.22 Die Dedikation endet mit einer Grußformel zwar bereits auf fol. A2r, doch ist der Übergang zum folgenden Prooemium, das sich über mehr als dreieinhalb weitere Seiten erstreckt (bis fol. A4r), fließend, was allein die häufigen, zwar nicht namentlichen, aber patronalen, in der 2. Person Plural gehalten Anreden an die Bewidmeten anzeigen.23Karlstadt legt die Umstände seiner Schrift dar, indem er mit Tagesangabe (14. Juli) die Situation schildert, in der Eck die zu inkriminierenden Aussagen über eine dem Publikum angepasste Auslegung des Gottesworts getätigt habe.24 Anschließend formuliert er die Gliederung des Hauptthemas (partitio).25 Prediger, die menschliche Einbildungen und Tradition verbreiten an Stelle des Gotteswortes, seien nicht zu dulden. Die Heilige Schrift stehe nicht nur Gebildeten offen, sondern ebenso Ungebildeten und Frauen, die zu unterweisen seien.26 Diesem laienbildenden Theologiekonzept korrespondiert die in dieser Schrift formulierte Aufforderung, im Anschluss an Erasmus die Bibel in der Volkssprache zugänglich zu machen27 – ein Postulat, das Karlstadt später präziser ausformulieren sollte.28

Die siebzehn Kapitel der Schrift sind zwei Hauptteilen zugeordnet. Der größere, erste Teil (fol. A4r–D4v, etwa 25½ Seiten) umfasst die Kapitel 1–8. Sie enthalten die zwei thematischen Schwerpunkte der partitio. Der zweite Teil (fol. E1r–F4v, etwa 15½ Seiten) mit den Kapiteln 9–16 gibt in einem fiktiven Dialog mögliche Einwände Ecks auf die Thesen des ersten Teils und unmittelbare Widerlegungen dieser Einwände wieder. Während das 8. Kapitel als Bindeglied zwischen beiden Teilen fungiert, enthält das 17. Kapitel argumentative und dialogische Elemente.29

Die ersten vier Kapitel entwickeln den ersten thematischen Schwerpunkt, ihre Überschriften wirken wie eine Thesenreihe.30 Sie widmen sich den falschen und den wahren Predigern: 1.) Predigern, die neben Gottes Wort nur den Menschen Angenehmes verkünden, ist nicht zuzuhören. 2.) Prediger, die nicht ausschließlich Gottes Wort verbreiten, sind zu bestrafen. 3.) Nachlässige Prediger und ihre Zuhörer seien zu bannen unter Androhung ewiger Feuerstrafe. 4) Anhänger des Gottesworts seien Verwandte Christi.31 An Hand von biblischen Quellennachweisen, vor allem aus dem Deuteronomium, stellt Karlstadt im Folgenden Aussagen Ecks (und anderer Gegner) in eine Linie mit Pseudopropheten und Gottesleugnern. Ihnen droht im alttestamentarischem Verständnis Tötung und ewiges Verderben;32 allerdings schränkt Karlstadt die irdische Umsetzung der Strafandrohung ein und möchte es bei einer Tilgung des Irrtums und einer geistlichen Strafe belassen.33 Das Wort Gottes stehe im Mittelpunkt der Verkündigung, nicht eigene Träume und Dichtungen. Selig seien die, die Gottes Wort hören und bewahren,34 nicht die, die Aristoteles und Petrus Hispanus, die Scholastiker oder Eck, Heiligengeschichten oder Scotus und Thomas von Aquin hörten. Einer »formale[n] Antithetik der Heiligen Schrift als Gottes Wort und Aristoteles« setzt Karlstadt»eine inhaltliche Gegenüberstellung der Lehre von der Willensunfreiheit und der Lehre von der Willensfreiheit«35 an die Seite.

Bereits im ersten Teil der Schrift begegnet uns ein imaginärer Einwand Ecks, wonach Bibelbelege dessen Argumentation nicht tangierten.36 Dieses Prinzip wiederholt sich nun. Auf von Karlstadt vorgebrachte biblische Belege antwortet ein fiktiver Eck mit Aussagen, die teils an dessen Argumente auf der Leipziger Disputation bzw. aus deren Umfeld anschließen bzw. erinnern, teils auf Gerüchten beruhen, teils aber auch erfunden erscheinen.37 Es gipfelt in der Konstruktion eines Streitgesprächs mit Gestalten der Bibel, mit Augustin und Erasmus, in dem Eck diesen widerspricht.38Eck werde zum Gegner von Josua, Paulus und Christus,39 schaffe Unruhe statt Klarheit,40 erdenke immer neue Argumente gegen die Verkündigung der göttlichen Wahrheit an das Volk: Habe Christus nicht in Gleichnissen geredet?41 Und wie solle die Vorherbestimmungslehre ethisch vermittelt werden?42 Diese letzten imaginären Einwände Ecks weisen über die Themengliederung der partitio hinaus.43 Scheinbar waren sie ursprünglich nicht vorgesehen. Dem Lügenpropheten Eck und seiner Lehre von der Fähigkeit des menschlichen Willen zum guten Werk möchte Karlstadt zu gerne ein Ende machen.44 Dagegen offenbart eine zentral platzierte Tabelle die hohe Wertschätzung für Erasmus, die dessen inhaltliche Übereinstimmungen mit Deuteronomium und Evangelium anzeigt.45

Karlstadt plädiert für eine integrale Lehre von Altem und Neuem Testament. Das Amt des Predigers bestehe darin, die Geheimnisse des alten Gesetzes mit dem Licht des neuen zu erhellen und das Neue Testament mit Metaphern des Alten zu zieren.46 Die Verkündigungsbotschaft sei klar. Nicht hilfreich und unnötig sei dagegen die Vermischung heidnischer Wissenschaften mit christlicher Tradition.47Karlstadt wendet sich dabei nicht grundsätzlich gegen die Rezeption und den Einsatz antiken Wissens, sondern gegen die Benutzung philosophischer Begrifflichkeiten und Denkstrukturen zur Deutung des Gotteswortes, konkret bezogen auf Ecks Verteidigung des antiken Konzepts der Willensfreiheit des Menschen.48

Das 17. Kapitel ist als zusammenfassende enumeratio konzipiert und warnt nicht nur vor falschen Propheten, sondern vor ihrer verwirrenden Wirkung auch auf Gott Zugewandte.49 Der wahre Glaube müsse Einsicht bringen. Dafür ist die unheilvolle Mischehe zwischen Scholastik und Heiliger Schrift zu beenden.50 In der abschließenden Applicatio (der praktischen Anwendung des Vorherigen) heißt es, dass die Bücher von Thomas von Aquin, Hervaeus Natalis, Johannes Capreolus und Petrus Nigri – Autoren, denen der junge Karlstadt in seinen Lehrschriften huldigte51 – durch die der Kirchenväter Hieronymus, Augustinus, Ambrosius und Johannes Chrysostomus zu ersetzen seien.52 Der anschließende, knappe Vorbehalt unter der Überschrift »Quod contra dici possit extenuatur« richtet sich an die Bewidmeten mit der Bitte, sich ein Urteil über den lodernden Streit zwischen Eck und Karlstadt zu bilden. Die zusätzlich angefügte Apologie gegen Ecks Verteidigungsschrift für Hieronymus Emser geht auf dessen neueste Anschuldigungen ein und erinnert noch einmal an die von Eck bereits in Leipzig losgetretene Diskussion um Karlstadts mangelhaftes Erinnerungsvermögen, die dieser kontert, indem er jenem zusammenhangloses Denken und ungenügende Urteilsfähigkeit unterstellt.53

Der Kern der Aussagen der Verba Dei liegt in der Herausarbeitung der einzigartigen und übergeordneten Autorität der Schrift, auch vor den Kirchenvätern, und ihrer Vermittlung an die Laien. Die heilsnotwendige Lehre sei dem Volk klar und unverstellt zu predigen, jede Form, sie der Gemeinde vorzuenthalten oder auf andere Weise zu präsentieren, zu bekämpfen.54Karlstadt legt programmatische Grundlagen für eine Predigt- und Kirchenreform, die auf biblisch fundierter Predigt- und Lehrtätigkeit des Klerus beruhte.55 Das Kirchenvolk dient als Kontrollinstanz der Prediger über deren reine, bibelkonforme Rede, indem es »reflektierender Zuhörer der Predigt«56 ist. Zugleich stehe es ihm zu, selbst Gottes Wort weiter zu vermitteln. Aus diesem Grund ruft Karlstadt zur Bibelübersetzung auf.57 Sie bildet das wichtigste Hilfsmittel, um den Laien die eigene Unterrichtung des wahren Gottesworts in Form der Selbstbelehrung zu ermöglichen.58 Dies stärkt die laikale Kompetenz,59 doch bleibt die Laienpredigt noch unerwähnt.60Karlstadt spricht nicht explizit vom Priestertum aller Gläubigen; die Geistlichkeit der Laien erhebt er nicht aus dem Sakrament der Taufe, sondern in Bezug auf die innerliche Erneuerung des Menschen.61 Den Schritt, beide Konzepte, das sakramentale mit dem pneumatologischen, zu verbinden, geht Karlstadt erst im Herbst 1520 mit der Schrift Päpstliche Heiligkeit.62Stattdessen stellt er einen Konnex her zwischen der Forderung Christi (Mt 7,6) nach Einfältigkeit der Gotteserkenntnis (simplicitas)63 und der Haltung der contemplatio.64 Beides wertet die »Empfängerhaltung«65 des Laien in dessen Unkenntnis bzw. Ablehnung heidnischer Philosophie und seine Kontrollfunktion auf.66 Gottes Wort solle man im Seufzen des eigenen Herzens (»in gemitibus cordis sui«)67 hören. Der Begriff des Seufzens ist mystisch geprägt.68Johannes Tauler hat ihn in der 13. Predigt über Mt 15,21–28 verwendet. Im Anruf Christi in Leiden und Seufzen wird der innere Grund für die Vereinigung mit Gott vorbereitet.69 Immer wieder müsse man durch das von Tauler so bezeichnete »Gedränge« in den Grund absinken. Karlstadt, der Taulers Predigten ausweislich seines Besitzexemplars intensiv studiert hatte, notierte zu diesem Prozeß marginal »abnegatio«,70 die Begrifflichkeit, die der deutschen »Gelassenheit« entspricht.

Trotz des Aufrufs zur Bibelübersetzung und der Stärkung laikaler Vollmacht sind die Verba Dei kein »religiöse[r] Appell an die Masse«.71 Ein solcher Appell ist zwar ihr Thema und mag auch in Karlstadts Intention gelegen haben, doch funktionierten sie kommunikationstechnisch und publizistisch auf einer anderen Ebene. Mit den Bezügen auf aktuelle theologische Debatten und die Leipziger Disputation, Anspielungen, die nur mit Kenntnissen gelehrter Kommunikation deutbar waren, ihrem klassischen Aufbau und Argumentationsstil, der gewählten Sprache Latein, der Widmung an zwei Gelehrte und der vermutlich geringen Auflage (nur eine Druckauflage) sind die Verba Dei im Diskurs zeitgenössischer, reformerisch-humanistischer Gelehrsamkeit zu verorten.72


1Vgl. KGK II, Nr. 140, S. 516.
2Johannes Seyfried war 1541–1549 erster protestantischer Pfarrer an der St. Gotthardtskirche, Brandenburg, und übergab seine Bibliothek der Kirche. Vgl. Zimmermann, Büchersammlung, 36; 38f. Dieser Bestand ist heute Depositum der Domstiftsbibliothek Brandenburg. Im vorliegenden Band enthält die Schrift Nr. 8 (G: B 4,14,8) folgenden Kaufeintrag: »Joannes Siverdes me sibi vendicat […].«
3Vgl. KGK II, Nr. 140, S. 516 und Anm. 3.
4Vgl. KGK II, Nr. 110, S. 121.
5Fol. A2r, A3v und B1v: »mentitur«.
7KGK II, Nr. 140, S. 526, Z. 21–23: »[…] qui faudes Eccianas excogitatae fidei ac tantos dolos olfacere nequeam, illius vero pudendas et invidiosas captiones alicubi conscribam […].«
8Vgl. KGK II, Nr. 143, S. 585, Z. 5f.: »Negotium Eckio dabo de necessitate sciundarum Dei scripturarum, et id spissius, quam in aliis antehac.«
9So Jäger, Carlstadt, 59f. Diesen Bezug könnten die Aussagen im Brief an Spalatin vom 23.2.1520 erhärten, vgl. KGK 146 (Anmerkung).
10U. a. bereits De canonicis scripturis (KGK 163).
11Eck, Pro Emser (1519). Zum Kontext vgl. KGK II, Nr. 131, S. 310, Anm. 189; KGK II, Nr. 140, S. 517f.; S. 535, Anm. 57; CCath 4, 15; 18; Löscher, Nachrichten 3, 731; Clemen, Nachspiele, 74.
12WA.B 1, 600,7–9 Nr. 234.
13Vgl. KGK 149 (Textstelle): »Postremo habes exemplum libelli, quo concludo, omnes Christianos, omnia scripturarum testimonia, grandique solicitudine perscrutari debere munus est […].«
14Vgl. WA 2, 738–758.
15Vgl. WA 2, 738; WA 6, 76f.
16WA.B 1, 610–612 Nr. 239.
17Vgl. KGK 144 (Textstelle): »Possem suspicari impressorem tuis literis vetitum, ne mea posthac excudat: Ita enim plerique interpretantur, quod rescripsisti.«
19Eck, Contra Bodenstein (1519), laut Widmung fertiggestellt am 3.12.1519.
21Georg Elner (um 1473–1543), 1494 imm. Leipzig, dort 1498 Bac. art., 1504 imm. Wittenberg, 1505 ebenda Magister artium, März 1512 Bac. sent., Oktober 1512 Baccalaureus formatus, SoSe 1511 und WS 1519/20 Dekan der philosophischen Fakultät (zur Zeit der Niederschrift der Verba Dei), 1514 Rektor, seit 1514 Kanoniker am Allerheiligenstift, 1520 als Prof. der Geschichte vorgesehen; lange Gegner der Kirchenreformen. Vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 272–276; Bünger/Wentz, Brandenburg, 112; 134f.; 137; Friedensburg, Geschichte, 65; 176.
22Zu Jakob Vogt (gest. 1522) vgl. Müller, Wittenberger Bewegung, 121 Anm. 2; Ludolphy, Friedrich, 360–362. Auch Luther pflegte einen engen Kontakt zu Vogt (WA.B 2, 5f. Nr. 355), doch sollte dieser sich später gegen die Reformbewegung stellen.
25KGK 146 (Textstelle). Vgl. Zorzin, Flugschriftenautor, 184f., der hierin Karlstadts»reformatorische[s] Programm« erkennt.
26In Rezeption des Johannes Chrysostomus fordert Karlstadt wöchentliche Bibelstudien zur gegenseitigen Unterweisung und dass jeder Christ eine Bibel besitzen solle, KGK 146 (Textstelle).
27Karlstadt zitiert die Paraclesis des Erasmus von Rotterdam, vgl. KGK 146 (Textstelle).
28Vgl. De canonicis scripturis (KGK 163) und Welche Bücher biblisch (KGK 171).
31Kotabe, Laienbild, 147 erkennt in diesen thesenhaften Überschriften Eckpunkte einer Gemeindereform.
33KGK 146 (Textstelle); KGK 146 (Textstelle), nach Aug. s. 361,21 (PL 39, 1610). Vgl. Barge, Karlstadt 1, 174.
37Auf den von Karlstadt vorgebrachten Text aus Mt 13,37, dass Jesus das, was er sagte, allen sagte, antwortet der erfundene Eck, dass Christus nur im Kreis der Apostel gesprochen habe. S. KGK 146 (Textstelle).
38S. neben vielen Beispielen KGK 146 (Textstelle), wo der fiktive Eck behauptet, die Apostel, zu denen Christus sprach, seien Auserwählte gewesen.
42Vgl. KGK 146 (Anmerkung), KGK 146 (Anmerkung), KGK 146 (Anmerkung), KGK 146 (Anmerkung), entkräftet mit Aug. persev. 22,57–63 (PL 45, 1028–1031).
44In einem kurzen Exkurs begründet Karlstadt dem aus dem Heimatort Karlstadt a. Main stammenden Petrus Nappenbach, einem Kommilitonen und vermutlich Lehrer Karlstadts in Erfurt, die Gründe für seinen Abfall von der Scholastik mit diesen Eck zugerechneten Sophistereien, die das Gotteswort verdunkeln. S. KGK 146 (Textstelle). Zu Nappenbach vgl. KGK 146 (Anmerkung).
47Kotabe, Laienbild, 144 macht auf diese erneute Antithetik von Philosophie und Theologie aufmerksam.
49KGK 146 (Textstelle); KGK 146 (Textstelle). Bereits in der 352. These der Apologeticae conclusiones hatte Karlstadt darauf hingewiesen, dass auch die Zuhörer und Verführten der falschen Prediger als Ketzer galten (KGK I.2, Nr. 85, S. 853, Z. 14–S. 854, Z. 1). Dort heißt es auch, zu vertreiben seien zuerst die Verführer des einfachen Volkes, so sie bei ihrem Lehrirrtum verharrten (KGK I.2, Nr. 85, S. 854, Z. 5f.).
51Vgl. die zahlreichen Verweise auf diese Autoren in KGK I.1, Nr. 1 und 2.
53KGK 146 (Textstelle). Vgl. auch KGK II, Nr. 140, S. 519, Anm. 32.
54Dagegen hatte Luther zwar Laien als Richter für die Leipziger Disputation vorgeschlagen (vgl. KGK II, Nr. 130, S. 279–281; s. auch Selge, Weg, 206f.), doch zwischen dem, was für heilsnotwendig und somit jedem Christen zu verkündigen sei, und dem, was Sache der Gelehrten sei, unterschieden. Vgl. den Brief an Spalatin vom 5.3.1519: »[…] quia disputatio ipsa, spero, disputatio sit, et doctis tantummodo spectanda; vulgo suus sermo habetur.« (WA.B 1, 356,15–17). S. auch WA 2, 70,29–38; 73,1–8; 248,31–33. Vgl. Junghans, Laie, 47f. Später stand bei Luther dem allgemeinen Priestertum aller Christen mit seiner ständischen Nivellierung die vocatio des geistlichen Amtes gegenüber. Zu Luthers Laienbild s. Rochler, Luther, 39–68; RGG4 5, 19f.; Kaufmann, Anfang der Reformation, 513–521.
56Kotabe, Laienbild, 148 u. 150; vgl. auch Zorzin, Flugschriftenautor, 196. Pater, Lay Religion, 106, sieht in den Verba Dei»a charter of lay rights, the first to be published by any of the reformers.«
57Zur Volkssprachlichkeit bei Karlstadt, vgl. Kaufmann, Anfang der Reformation, 78–97.
58Vgl. hierzu Kotabe, Laienbild, 158–170.
60Vgl. Zorzin, Flugschriftenautor, 196. S. dagegen die 21. und 22. These der 33 Conclusiones (KGK 164 (Textstelle); KGK 164 (Textstelle)).
66Vgl. Kotabe, Laienbild, 178–186.
67KGK 146 (Textstelle). Zum folgenden vgl. Kotabe, Laienbild, 179–181.
68Vgl. Oberman, Simul, 84–89.
69Tauler, Sermones (1508), fol. 32rb: »mit ainem gruntlosen seufftzen«, mit roter Unterstreichung von Karlstadts Hand.
72Vgl. hierzu Zorzin, Flugschriftenautor, 199f., der auf publizistisch vergleichbare Schriften verweist wie LuthersContra malignum J. Eccii iudicium (Benzing, Lutherbibliographie, 431f.) und Epistola ad J. Eccium super expurgatione (Benzing, Lutherbibliographie, 461).

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