Nr. 168
Appellation zu dem allerheiligsten gemeinen Konzil
Wittenberg, 1520, 19. Oktober

Einleitung
Bearbeitet von Harald Bollbuck

1. Überlieferung

Frühdruck:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Appellation: ‖ Andꝛes Bodenſtein vō Ca‖rolſtad zu dem allerheyli=‖giſten gemeynē Cōcilio ‖ Chꝛiſtlicher voꝛſtendi=‖ger voꝛſamelung. ‖ Vuittemberg.
Wittenberg: [Melchior Lotter d. J.], 1520.
4°, 6 Bl., A 6 (fol. A6v leer). Bogen A⁵ falsch als A³ signiert.
Editionsvorlage:
HAB Wolfenbüttel, A: 127.19 Theol. (10).
Weitere Exemplare: WLB Stuttgart, Theol. 4°. 872. — ÖNB Wien, 20.Dd.364.
Bibliographische Nachweise:

Edition:

Literatur:

2. Inhalt und Entstehung

Bei diesem Dokument handelt es sich um den notariell verfassten Apostel- bzw. Gezeugnisbrief (apostolus testimoniales), mit dem sich Karlstadt gegen den in der Bulle Exsurge Domine angedrohten Bann juristisch versichert. Dieser Brief gehört in eine Reihe mit der als protestatio zu verstehenden Bedingung (KGK 165), die er hier als juristisches Schreiben aufnimmt und fortsetzt, und mit dem ausführlicheren, polemischen Traktat Päpstliche Heiligkeit (KGK 167). Das Thema ist die juristische Anfechtung der Bannandrohungsbulle. Die eigentliche Appellation ist nur ein »Insert«1 innerhalb des Apostelbriefs. Noch in der Bedingung, die die Ausgestaltung des künftigen Rechtsprozesses aus Karlstadts Perspektive akzentuiert, ist von einer Konzilsappellation nicht die Rede. Augenscheinlich haben Luther und Karlstadt eine solche erst nach Eintreffen der Bulle in Wittenberg thematisiert.2 Die Appellation ist auf den 19. Oktober 1520 datiert und erfolgte somit etwas mehr als zwei Wochen später, nachdem Johannes Eck die Universität Wittenberg am 3. Oktober zur Vollstreckung der Bulle aufgefordert hatte.3

Eingeleitet und beendet wird die Appellation mit notariellen Formularen unter Nennung des Notars Antonius Reinhardt und von Zeugen.4 Der notarielle Einführungstext umreißt die juristische Situation.5 Karlstadt sei im Notariat mit einer auf einem »zedel« verfassten Appellation erschienen. Den offiziellen Charakter kennzeichnen die formale Anrufung der Apostel und die Datumsangabe gemäß römischer Indiktion. Die Appellation selbst setzt ein mit Karlstadts Bekenntnis, sie frei vor dem unten bezeichneten Notar und Zeugen vorgetragen zu haben unter Hinweis auf das allgemeine Recht zu einer solchen Appellation, deren Notwendigkeit sich aus dem Gerichtsalltag und der auf biblischem Recht gegründeten Vernunft – man könnte auch sagen: einer allgemein gefassten Gerechtigkeit – ergebe. Diese Möglichkeit der Beschwerde und Anrufung einer anderen Instanz gegen den Untertanen schädigende Rechtshandlungen der Obrigkeit muss Karlstadt ergreifen, da der Papst ihn an Ruf, Gut, Leib, Leben und christlichem Glauben angegriffen habe, zumal mit List und Frevel wider göttliches, natürliches und menschliches Recht. Die Appellation veröffentliche er als Schutz vor päpstlicher Gewalt, damit jeder vor Gott und dem Jüngsten Gericht die Sache beurteilen könne wie vor dem Jüngstem Gericht.

Inhaltlich besteht die Appellation aus acht Beschwerdepunkten:

1.
Ohne Vorladung und Anhörung habe der Papst Karlstadts Lehre (»mein lere«) als ketzerisch verurteilt. Das widerspreche göttlichem, natürlichem und menschlichem Recht.6
2.
Allein das natürliche Recht garantiere die Möglichkeit einer Verteidigung bei Anklage, doch auch das kaiserliche (zivile) wie das päpstliche (kanonische) Recht bestritten dies nicht. Karlstadt bezieht sich aber auf die seines Erachtens am höchsten stehende Rechtsquelle, die Schutzrede aus biblischem Recht.7
3.
Wäre seine Lehre nicht der Heiligen Schrift gemäß, ließe sich Karlstadt sogar von einem kleinen Kind belehren.8 Es sei offenbar und allgemein üblich, dass jemand, der die eigene Lehre so in den Dienst der Bibel stelle, nicht als Ketzer bezeichnet werden dürfe.9
4.
Die Verurteilung der Lehre Karlstadts sei erfolgt, ohne dass der Papst sie studiert habe, andererseits hätte er bemerken müssen, dass sie mit der Heiligen Schrift übereinstimme.10 Der Ornat der Rede sei ihrer Bedeutung untergeordnet.
5.
Da die Verurteilung der Lehre Karlstadts nicht kraft der Bibel erfolgte, habe der Papst gegen sein Amt verstoßen, wozu ihn Moses, Christus, sein Eid und Gelübde verpflichtet hätten. Die Art und Weise der Bulle, die Karlstadt mit Blitz und Donner dazu aufrufe, von seinem Schriftverständnis abzustehen, verrate, dass der Papst sich nicht auf die Bibel stütze, sondern – wie üblich in Rom – auf »des Teuffels Decretal«11. Wie ein ungeschickter Fechter setzt sie mit großem Geschrei ein, sei dann aber im Kampf ohne jedes Geschick.12 Zwar rufe sie im Titel Christus, Petrus und Paulus dazu auf, sich zu erheben, doch schlafe Jesus in der Argumentation wieder ein, während Petrus nicht rechtzeitig eingetroffen und Paulus gar nicht im Haus sei.13
6.
Obwohl einige der verdammten Artikel direkt Karlstadts Schriften entstammten, ließ der Papst dennoch seinen Namen im Druck der Bulle aus, beauftragt aber listig Eck, ihn mit anderen an das Ende der Bulle handschriftlich einzutragen, ohne dass hierfür eine Klausel bekannt sei.14 Dieser unredliche Angriff sei für den Papst und Eck nicht ungewöhnlich, denn sie dächten nicht an Hilfe, Belehrung und Rückführung verirrter Seelen, sondern an Verdummung und Vertreibung.
7.
Die Bulle nenne zwei Termine, von denen sie die Frist zum Widerruf ansetze. Der erste sei der ihres öffentlichen Anschlags, doch sei zu diesem Zeitpunkt unter den Angeklagten unbekannt gewesen, was sie widerrufen sollten, und auch Gerüchte reichten nicht für eine Übermittlung des Inhalts.15
8.
Karlstadt habe in Leipzig gestützt auf die Bibel, griechische und lateinische Kirchenväter argumentiert, doch verurteile der Papst seine Lehre als ketzerisch allein auf Ecks Anraten. Daher biete er an, seine Argumentation auf der Grundlage wahrer christlicher Doktrin zu verteidigen, wenn weiterhin Einwände bestünden. Dafür erbittet er von der Gegenseite einen genauen und fundierten Bericht über diese Einwände, kein Pauschalurteil auf Basis vom Hörensagen. Der Papst solle davon abstehen, ihn aufzuforden Artikel zu widerrufen, die seit Jahrhunderten, ausgearbeitet von Augustinus, Hieronymus, Ambrosius, Gregor I. u. a. Kirchenvätern, als legitime christliche Lehre gelten. Angesichts des Zwangs zur Leugung sei Karlstadt andernfalls zur Appellation an ein gemeines Konzil genötigt, das nicht nur Bischöfe und Prälaten, sondern auch weltliche Herren und Laien umfasst, die »einen reynen/ guten vorstand heyliger schrifft haben«.

Der Ausgang des Apostelbriefes (die conclusio) folgt wieder notariellen Formalien. Der dreimalig vorgetragenen (rituellen) Bitte an das Konzil um Annahme des Schreibens (»Apostel«)16 schließt er die Aufforderung an, der Papst möge als Unterrichter den Brief als »apostolus reverentialis« an das Konzil als Appellationsinstanz weiterreichen. Da die Ausführung dieser Bitte aber als unwahrscheinlich gilt, bittet er umgehend den aufnehmenden Notar um einen Gezeugnisbrief (»apostolus testimonialis«) ans Konzil.17 Karlstadt stellt Freunde, Gönner und Herrn samt deren Besitz ebenso wie seine Bücher und sein weltliches und geistliches Gut unter den Schutz des angerufenen Konzils. Dabei gelte die Klausel (Protestation), dass jegliche Handlung des Angerufenen (Appellatus) gegen diese Appellation, gegen Karlstadt, seine Freunde und Gönner nichtig und unrecht sei. Zuletzt werden der Notar und die anwesenden Zeugen namentlich aufgeführt18 sowie auf die autographe Unterzeichnung und die Veröffentlichung der Appellation im Druck hingewiesen.

Karlstadts Konzilsappellation ist inhaltlich unabhängig von dem thematisch ähnlichen Schreiben Luthers.19 Während dieser die theologischen Sachfragen ausführlich erläutert, konzentriert sich Karlstadt auf die formaljuristischen und prozessualen Probleme: die Anklage bzw. Verurteilung ohne Anhörung der Argumente, stattdessen auf Hörensagen gründend; die ausgesetzte, jedem Recht aber inhärente Möglichkeit zur Verteidigung; die falsch angesetzte Frist zum Widerruf. Auch wenn Karlstadt sich den notariellen Formalien beugt, betont er, dem römischen Formular nicht zwingend zu folgen. Gleichwohl ist überraschend, dass ein solcher juristischer Text angesichts des vor ihm liegenden kirchlichen Instanzenweges auf Deutsch verfasst wurde. Bubenheimer vermutet daher, dass es sich um eine Übersetzung eines lateinischen Originaldokuments handeln müsse.20

Natürlich erwähnt die Appellation auch theologische Sachgehalte. Allein die Schriftautorität sei bei der Beurteilung der Streitfragen maßgeblich, gefolgt von den Kirchenvätern, die mit der Bibel einen Lehrkonsens bildeten. Karlstadt komme in seiner Argumentation diesem nach. Papst, Bischöfe und übrige Prälaten verletzten ihre Amtspflicht und kämen ihren christlichen Aufgaben nicht nach. Zentral sind jedoch Aussagen über den Status der Laien, denen Karlstadt nicht nur Autorität in der Schriftinterpretation zuspricht, sondern denen er unter Voraussetzung ihrer Schriftkundigkeit auch den Weg zur Teilnahme an einem Generalkonzil eröffnet.21 In dieser Deutlichkeit ist Karlstadts Forderung zu dieser Zeit noch einzigartig.22 Dieses Konzil muss von biblischer Sachautorität bestimmt sein, kann aber als Kongregation von Menschen irren und ist daher von der Vorstellung päpstlicher Theologen abzugrenzen, die es als eine unfehlbare Versammlung von Prälaten konstruierten. In denselben Zusammenhang sind Karlstadts 10 Conclusiones zu verorten, die sich mit der Irrtumsfähigkeit des Konzils befassen.23


1Vgl. Bubenheimer, Consonantia, 299 Anm. 92.
2Luther hatte am 11.10. über eine Appellation nachgedacht (WA.B 2, 195,30f. Nr. 341), aber erst am 17.11.1520 seine bereits nach dem Verhör durch Cajetan verfasste Konzilsappellation von 1518 mit einem hinzugefügten Nachtrag wörtlich wieder aufgenommen (WA 7, 74–82; WA 7, 83–90). Karlstadt verfasste und veröffentlichte seine Appellation also fast einen Monat vorher. Vgl. Bubenheimer, Consonantia, 195.
3Die Bulle war am 15. Juni 1520 von Papst Leo X. ausgestellt worden, am 21. und 25. September hatte Eck bei der Publikation von Notariatsinstrumenten in Meißen und Merseburg die Namen von Karlstadt und anderen handschriftlich, doch notariell beglaubigt und mit päpstlicher Erlaubnis der Bulle hinzugefügt. Die Universität Wittenberg kam der Aufforderung Ecks, die Bulle zu vollstrecken, nicht nach. Vgl. KGK 167 (Anmerkung), KGK 167 (Anmerkung) u. KGK 167 (Anmerkung).
4Auch Luthers Appellation weist ähnliche einleitende und schließende Formalia auf, vgl. auch Bubenheimer, Consonantia, 196 Anm. 46.
14KGK 168 (Textstelle). Karlstadt scheint fast in der eigenen Ehre getroffen, vom Papst nicht wie Luther in den Text der gedruckten Bulle aufgenommen worden zu sein. Tatsächlich hatte Papst Leo X. Eck frei gestellt, handschriftlich auch Anhänger Luthers in die Bannbulle einzutragen. Vgl. KGK 167 (Anmerkung).
21Bubenheimer, Consonantia, 196, erkennt hierin den »ersten bedeutsamen Niederschlag« von Karlstadts seit August 1520 wachsendem Laizismus.
22Vgl. Bubenheimer, Consonantia, 197, der explizit betont, dass Luthers Appellation vom November 1520 eine solche Forderung noch nicht erhebt, sondern nur Laienobrigkeiten ermuntert, ein Konzil einzuberufen, nicht jedoch, an diesem aktiv teilzunehmen (WA 6, 413,27–33). Zu Karlstadts Konzeption vgl. auch KGK 167 (Anmerkung), KGK 167 (Anmerkung) und KGK 167 (Anmerkung); KGK 163 (Textstelle); KGK 171 (Textstelle).

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