Nr. 166
Missive von der allerhöchsten Tugend Gelassenheit
1520, Mitte Oktober

Einleitung
Bearbeitet von Harald Bollbuck

1. Überlieferung

Frühdrucke:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Miſſiue vonn der aller ‖ hochſte tugent ge=‖laſſenheyt. ‖ En=‖dꝛes Bo=‖denſteyn von ‖ Carolſtat Doctoꝛ. ‖ Wittenbergae.
Wittenberg: [Johann Grunenberg], 1520.
4°, 8 Bl., A4–B4 (fol. A1v leer). Mit Bogenkustos und Randnoten. Schwabacher, Randnoten in Antiqua bis auf zwei deutsche Glossen (fol. B1r und B1v) in Schwabacher.
Editionsvorlage:
[ADr] Dresden SLUB, Hist.Eccl. E 242,23y.
Weitere Exemplare: SB-PK Berlin, Cu 1171. — [A₁-Nbg] StB Nürnberg, Theol. 910.4° (8). — StB Nürnberg, 19 an Solg. 972.4. — [A₁] RSB Zwickau, 17.9.3 (7).
Bibliographische Nachweise:

Die Variante A des Wittenberger Erstdrucks besitzt eine Pressvariante A₁ mit einem fehlerhaften Titelblatt in Zeile 7 (»Dotcoꝛ«). Der Druck erscheint in charakteristischer Orthographie: »ap« statt »ob«, »domit«, »clagen«, »dester«, »Lawh« für »Löwe«, Doppelkonsonanten (»Schrifft«), »yr«, »yhm«, Vorsilbe »vor-« statt »ver-«. Statt Umlauten verwendet der Druck Suprascripta (»aͤ« statt »ä«, »oͤ« statt »ö«, »uͤ« statt »ü«). Die Rechtschreibung ähnelt der der hsl. Korrekturen der Exemplare ADr und A₁-Nbg. Das Dresdner Exemplar ADr besitzt eine hsl. Widmung Karlstadts: »Fratri suo Andreę Camicziano«1, sowie hsl. Korrekturen von anderer Hand in brauner Tinte, an denen sich unsere Edition orientiert. Eine zweite, unbekannte Hand in schwarzer Tinte ergänzte die Jahreszahl »1520« auf dem Titelblatt. Beim Exemplar A₁-Nbg ist auf dem Titelblatt ebenfalls hsl. »1520« nachgetragen. Es enthält die gleichen Korrekturen von derselben Hand wie das Exemplar ADr. Die Edition folgt der Variante A, nimmt aber die Verbesserungen der Variante F als Wittenberger Nachdruck von A sowie die hsl. Korrekturen von ADr und ANbg auf.

[B:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Miſſiue von der aller hoch=‖ſten tugent gelaſ=‖ſenhait. ‖ An=‖dꝛee Bo=‖denſtayn von ‖ Carolſtat Doctoꝛ. ‖
[Augsburg]: [Sigmund Grimm und Marx Wirsung], 1520.
4°, 8 Bl., A4–B4 (fol. B4v leer). Mit Bogenkustos und Randnoten. Schwabacher, Randnoten mehrheitlich in Antiqua.
Editionsvorlage:
BSB München, 4 Mor. 89.
Weitere Exemplare: HAB Wolfenbüttel, A: 104.3 Theol. (20).
Bibliographische Nachweise:

Der Satz orientiert sich an Druck A (gleiche Seitenanfänge), es gibt allerdings Verschiebungen im Zeilenumbruch. Der Text setzt, anders als A, mit einer Initiale ein. Zudem verwendet die Variante eine andere, bei einigen Wörtern oberdeutsche Orthographie: »giettig« statt »guͤtig«, »hiet« statt »huͤt«, »damit« statt »domit«, weiterhin »klaget« statt »claget«, »doͤster« statt »dester«, »ay« oder »ai« statt »ey«, »verlaugnen« für »vorleuchnen«, »Loͤwen« anstatt »Lawhen«, »jr« statt »yr«, »gevatern« statt »Paden« und »Geschrifft« für »Schrifft«. Weiterhin ersetzen die Suprascripta (»aͤ« und »oͤ«) die Umlaute »ä« und »ö«. Auffällig ist zudem an einigen Stellen die Verwendung von »ü« für »u« (»creütz«) und der Einsatz von o-Superscripta (»z«).

[C:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Miſſiue von der aller hoch=‖sten tugent gelaſ=‖ſenhait. ‖ An=‖dꝛee Bo=‖denstain von ‖ Carolstat Doctoꝛ. ‖
[Augsburg]: [Jörg Nadler], [ 1520].
4°, 8 Bl., A4–B4 (fol. B4v leer). Mit Bogenkustos und Randnoten. Schwabacher, Randnoten mehrheitlich in Antiqua.
Editionsvorlage:
SB-PK Berlin, Cu 1175 R.
Weitere Exemplare: BSB München, 4 Mor. 89 a.
Bibliographische Nachweise:

Der Druck ist abhängig von B. Beide erschienen ohne Druckimpressum. Das Druckbild ist ähnlich, beider Texteinsatz mit Initiale, allerdings unterschiedlichen. Abweichung im Satz der ersten Zeile (keine Virgeln, veränderter Zeilenumbruch) sowie im Zeilensatz auf der gesamten Seite (bis auf den dann wieder identischen Seitenumbruch). Neben leichten orthographischen Differenzen zu B (»ir« statt »yr«, »Bodenstain« statt »Bodenſtayn«) benutzt C durchgängig den Umlaut »ä« (»ängsten« statt »aͤngsten«), nicht jedoch »ö« (weiterhin »Loͤwen«).

[D:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Miſſiue von der al‖lerhoͤchſten tugent ge‖laſſenhait. ‖ Andꝛee Bodenſtayn ‖ von Carolſtat ‖ Doctoꝛ. ‖ [TE]
[Augsburg]: [Johann Schönsperger d. Ä.], [1520/21].
4°, 8 Bl., A4–B4 (fol. B4v leer). – TE. Mit Bogenkustos und Randnoten. Schwabacher, auch die Randnoten.
Editionsvorlage:
BSB München, H.ref. 747 u.
Weitere Exemplare: ÖNB Wien, 16.G.65. — HAB Wolfenbüttel, A: 97.6 Theol.(21).
Bibliographische Nachweise:

Schmuckdruck (Erstinitiale, Satzeinheitlichkeit) mit rahmender Schmuckbordüre.2 Teils eigenständiger Seitensatz (Seitenumbruch fol. A1v, B1v, B2r–B4r), wie B und C ohne Druckimpressum. In Anbetracht einiger orthographischer Gestaltungen (Schreibweise des Namens »Bodenſtayn«) augenscheinlich von B abhängig (mit dem es auch statt des Umlauts »ä« ein Suprascriptum »aͤ« verwendet), allerdings an wenigen Stellen mit Emendationen. Auffällig sind seltsame Schreibweisen wie »Freiinde«.

[E:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Miſſiue von ‖ der aller hochſten ‖ tugent Gelaſ=‖ſenhait. ‖ Andree Bodenſtain ‖ von Carolſtat ‖ Doctoꝛ. ‖
[Wien]: [Johann Singriener], 1521.
4°, 8 Bl., A4–B4 (fol. B4v leer). – TE. Mit Bogenkustos und Randnoten. Schwabacher, auch die Randnoten.
Editionsvorlage:
ÖNB Wien, 293222-B Rara.
Bibliographische Nachweise:

Mit rahmender Schmuckbordüre und texteinsetzender Initiale. Der Druck ist von Variante D abhängig, da nicht nur der Seitensatz identisch ist, sondern auch einige signifikante Schreibweisen übereinstimmen (D »froͤlichait«, E »frolichait«, fol. A1v Zeile 1). Druck E weist aber fol. A1v (und in einem Fall auf fol. A2r) einen veränderten Zeilensatz auf. Es sind weder Umlaute noch Suprascripta verwendet worden (stattdessen »angsten«, »schopffer« etc.), sehr selten Nasalstriche zur Kennzeichnung eines Ausfalls von Buchstaben (stattdessen wird »u« als »unnd« ausgeschrieben). Der Satz von Interpunktionen und Trennstrichen ist sorgfältiger als in D.

[F:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Miſſiue von der aller hochſte ‖ tugent gelaſſenheyt. En=‖dꝛes Bodenſteynn ‖ von Carolſtat ‖ Doctoꝛ. ‖ Wittembergk ‖ 1521.
Wittenberg: [Johann Rhau-Grunenberg], 1521.
4°, 8 Bl., A4–B4 (fol. B4v leer). Mit Bogenkustos und Randnoten. Schwabacher, Randnoten mehrheitlich Antiqua.
Editionsvorlage:
ULB Halle, Ii 3139(4).
Weitere Exemplare: SB-PK Berlin, Cu 1173 R.
Bibliographische Nachweise:

Nachdruck von A, dabei nimmt der Druck einige handschriftliche Korrekturen aus ADr und A₁-Nbg auf, nicht jedoch die wesentlichen auf fol. B3v und B4r.

[G:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
Miſſiue von der aller hoch-‖ſten tugent gelaſſenheyt/ Andree Boden‖ſteyn von Carolſtat ‖ Doctoꝛ. ‖
in:
Luther, Martin
Ettlich Sermones D. ‖ Martini Lutheri/ nüw‖lich vszgangen. ‖ Von dreierley gůtem ‖ leben/ das gewissen zů vnderrichten. ‖ Von wirdigē empfa/‖hung des heyligē leichnams Christi/ ‖ gethan vff den heiligē Gruͤndorn‖stag zů wittēberg/ im.xxj. jar. ‖ Von zweierlei ‖ gerechtigkeyt. ‖ Ein Sermon gethon | zů Erfurt vff den hinweg gen Wormbßb ‖ Von der hochsten tu/‖gendt Gelassenheit/ ein Missiue An‖dree Bodēstein von Carolstat.
[Basel]: Adam Petri, 1521, fol. G2r–I3v.
8°, 36 Bl., A4–I4.
Editionsvorlage:
BSB München, Res/4 Exeg. 263#Beibd.4.
Weitere Exemplare: SUB Göttingen, 4 AUT LUTH 447.
Bibliographische Nachweise:

Der Druck ist von der Wittenberger Erstausgabe A abhängig, da er weiterhin selbst Fehler enthält, die F korrigierte. Allerdings sind auch Änderungen der Augsburger Ausgaben (B, C, D) übernommen.

Literatur:

2. Inhalt und Entstehung

Der Wittenberger Erstdruck der Tugend Gelassenheit ist auf den 11. Oktober 1520 datiert: »Datum eyling Wittembergk dornstag am xi. tag Octobris. Im xx. Jar. Gedruckt zu Wittembergk […].«3 Vermutlich ist es das Datum für den Abschluss der Niederschrift, sodass die Drucklegung unmittelbar darauf einsetzen konnte. Die Schrift ist als Missive ein öffentlicher Sendbrief, der als Selbsterklärung4 mit dedikativer Ansprache an Mutter, Freunde und Verwandte fungiert. Hintergrund ist die päpstliche Exkommunikation und Bannandrohung im September 1520,5 die Karlstadt als Anfechtung und Trübsal (tribulatio) interpretiert, auf die mit Gelassenheit reagiert werden müsse.

Die Schrift Tugend Gelassenheit ist in zwei große Teile zu gliedern. Im ersten Teil spricht der Verfolgte, Geängstigte mit Gott, der die Wiedergeburt des neuen Menschen erschaffen kann, in der Tradition der Klage-und Bittliteratur des Alten Testaments; im zweiten Teil spricht Karlstadt mit seiner Mutter, die ihn in das irdische Leben geboren hat, und mit seiner Familie in der Form eines offenen Briefes.6 Nach der Widmung an die Mutter und alle Freunde am Anfang schildert Karlstadt in einer narratio die Tatsachen zur Ausgangssituation seines Textes. Er ist voller Angst und Betrübnis, denn der Papst trachte mit dem Bann nach seinem Gut, seiner Ehre und seinem Leben. Diese Verfolgungstatsache läßt Karlstadt in Anfechtung und Trübsal (tribulatio) verfallen, die er aber im Glauben an die Macht Christi und Gottes in eine bußtheologische Situation umwandelt. Trost gebe es nur im Glauben an Gott. Denn der leibliche Tod warte gewiss, daher ist dieser dem geistlichen Tod vorzuziehen. Karlstadt zeichnet daraufhin den prozessualen Weg der Exkommunikation und Verketzerung nach. Dem Gemeindeausschluss folgten Bann, Verfluchung, Verlust von Ehre und Gut sowie letztlich die Tötung. Doch führt er damit nur das Gegenargument der feindlichen, römischen Partei auf, die sich dem Irdischen verbunden fühle und sich nicht dem Glauben hingebe. Karlstadt aber sei mit Händen und Füssen ans Kreuz geschlagen. Anfechtung, Trübsal (tribulatio) und Verfolgung sind konstitutiv für seine Kreuzestheologie. Dabei inszeniert er immer wieder durchaus eindringlich seine Sorge vor den Folgen des Banns und den Bedrohungen von Leib und Leben,7 zumal an Hand des Beispiels der Verbrennung und Verhöhnung des Jan Hus,8 doch sind diese Sorgen Teil der Betrübnis. Der in der Bulle geforderte Widerruf seiner Artikel sei erneut weiter nichts als ein Ruf des Unglaubens, dem er folgende vier Argumente entgegensetzt. 1.) Der Widerruf wahrer, mit der Schrift übereinstimmender Artikel bedeutet eine Entfernung von Christus. 2.) Die Betrübnis (tribulatio), in der sich Karlstadt befindet, ist nicht schädlich, sondern wäscht die Sünde ab.9 3.) Gott beweist mit Versuchungen, wie sie das Angebot des Widerrufs darstellt, den Glauben. 4.) Alles Leiden ist eine Zuchtrute, durch die Gott seine Kinder heimsucht.

Der zweite Teil setzt mit der erneuten Ansprache an die Verwandten ein, der Tonfall ändert sich zur Briefform. Karlstadt will gegenüber der Mutter, Verwandten und Freunden seine Haltung und die Abwendung von der römischen Kirche erklären, um diesen Schande zu ersparen und sie davon abzuhalten, ihn von seinem eingeschlagenen Weg abzubringen.10 Denn sollten sie ihn zur Loyalität gegenüber dem Papst drängen, werde er sie verleugnen, wie es Moses und Jesus getan haben.11 Für seine Positionierung nehme Karlstadt auch ein Leben in Armut auf sich, zur signifikanten Unterstützung dieser Ankündigung sagt er auch dem Titel des Archidiakons des Wittenberger Allerheiligenstifts ab.12 Um zu erläutern, wie er diese radikale Änderung seines Lebens im Glauben durchsteht, kommt das Konzept der Gelassenheit stärker ins Spiel. Denn Karlstadt will sich aller Dinge »gelassen«, die ihn von Gott entfernen. Der gelassene Mensch sei der wahre Tempel Gottes.13 Die Ablösung von den Verwandten ist ein Schrift auf dem Weg zur Gelassenheit.14 Die Kreuznahme und die Gelassenheit bzw. Verleugnung des Selbst sind die beiden Seiten des neuen, inneren Menschen, der sich vom alten Adam abgewandt habe.15 Leibesfurcht und eigene Seele sind zu hassen, wenn sie von der Nachfolge Christi und der Kreuznahme abhalten.16 Die Entfaltung der Gelassenheitskonzeption kann auch als eine theologische Anleitung vor den und für die Verwandten in Form eines Sendbriefes gelesen werden.

Karlstadt hatte sich länger papsttreu verhalten als Luther und sich Angriffen auf Rom enthalten, doch mit der Aussendung der päpstlichen Bannandrohungsbulle veränderte sich dies komplett. Die Heftigkeit der Abwendung vom »Florentinischen Löwen«, dem Medicipapst Leo X., der durch seinen Zwang zum Widerruf zum Gehilfen des Teufels wird,17 und die bußtheologische Lösungssuche in Verbindung mit der Kategorie der Gelassenheit mag in dieser Schrift ihre Motivation in der Selbsterklärung vor Mutter, Freunden und Verwandten haben. Jedenfalls entfaltet Karlstadt hier exemplarisch und praxisbezogen seinen Ansatz einer Gelassenheitstheologie. Die Idee der Gelassenheit und einer für die Rechtfertigung präsuppositiven Selbstverleugnung kursierte zwar bereits bei Johann von Staupitz und auch bei Luther.18 Es ist jedoch offensichtlich, dass Karlstadt seine Konzeption von Gelassenheit an der Lektüre Johann Taulers ausrichtete. Die von Karlstadt handschriftlich vorgenommenen Annotationen, Marginalien und Anstreichungen zu dieser Thematik in seinem Handexemplar der Predigten Taulers wie auch die von ihm selbst angelegten Register können dies nachweisen.19 Aus Taulers Aussage, auf dem Weg der abnegatio »geet got blos on all mitel ein. das ist. daz man sich sein selbs genntzlich vertzeihe durch gottes willen«,20 las Karlstadt eine Ablehnung der Werkgerechtigkeit heraus. In der Bedrängnis und dem Leiden, in das Gott die Auserwählten jagt, erfolgt nach Tauler die Anrufung Gottes,21 verbunden mit der Vernichtung des Selbst bzw. der Erkenntnis der Nichtigkeit der eigenen Existenz in demütiger Gelassenheit.22 Die wahre Nachfolge Christi entstehe in der Selbstverleugnung,23 Gegenmittel gegen Eigenliebe ist die Kreuznahme.24

Die Unruhe und wiederholte Ausstellung der Ängste vor der Todesbedrohung mag ebenso wie die ausführliche Formulierung der Sorgen vor dem Verlust von Amt und Ehren wie ein formaler Widerspruch zu Titel und Anliegen der Schrift Tugend Gelassenheit wirken. Möglicherweise ist das Werk aber von einem anderen Formverständnis geprägt. Auf der Leipziger Disputation hatte Karlstadt die – von Johann Eck bestrittende – These vertreten, dass der Gerechte auch beim guten Werk und auch beim edlen Tod sündige. Im Bangen der Märtyrer vor dem Tod sah Karlstadt eine Äußerung menschlicher Sündhaftigkeit, den Zustand der tiefsten Betrübnis (tribulatio) und Beklemmung, aus der heraus die Anrufung Gottes im Glaubensschrei rührte.25 Nach Tauler gehört die Bedrängnis des Zweifels an der Erhörung durch Gott zur Gelassenheit.26 In diesem Sinne könnte die Schrift Tugend Gelassenheit in ihrem Hin- und Hergeworfensein zwischen Zweifel und Angst auf der einen und tiefster, gelassener Glaubenszuversicht auf der anderen Seite ein Versuch sein, der Anfechtung und Betrübnis (aqua tribulationis) und dem Augenblick der bangen Sündhaftigkeit angesichts des eigenen, künftigen Martyriums einen literarischen Ausdruck zu geben.27


1Andreas Francke/Frankus aus Kamenz (Camitzianus, um 1496–1545) war Humanist und Erasmusanhänger. Im SoSe 1511 in Leipzig immatrikuliert, 1513 Baccalaureus, 1517 Magister artium, kündigte er als Famulus von Johannes Lang ein Kolleg über Ciceros Brutus an. Beteiligt an der Edition antiker Autoren. Als dortiger Professor wohnte er der Leipziger Disputation bei, die sein Interesse an der Wittenberger Theologie stärkte. 1520 widmete ihm Melanchthon die Aufforderung zum reformatorisch-christlichen Studium Ad Paulinae doctrinae studium adhortatio. Eine Widmung an Willibald Pirckheimer fügte er den Duae epistole Henrici Stromeri Auerbachii et Gregorii Coppi (Leipzig 1520) bei, die sich gegen die Franziskanerpredigten richteten, die auch Karlstadt bekämpfte (vgl. in diesem Band die Schriften Ablass, KGK 161, und Wasser, KGK 162). Allerdings führten die von Hzg. Georg von Sachsen 1522 gegen die neue Theologie erlassenen Edikte zu seiner Abwendung von Wittenberg. Als Rektor der Universität Leipzig verbot Francke im Wintersemester 1522 den Studenten die Lektüre reformatorischer Texte bei Androhung von Leib- und Lebensstrafen. Vgl. Clemen, Andreas Frank; Clemen, Drei Briefe; Bubenheimer, Müntzer, 58.
2Ein Rankengeflecht von Akanthusblättern, die aus zwei Amphoren am unteren Bildrand emporwachsen, umgibt das Titelblatt. Zwischen den Amphoren bekämpfen sich zwei Putten spielerisch. Zur Bordüre vgl. Schottenloher, Schobser, 113. Sie wurde auch verwendet vom Drucker Jörg Gastel in Zwickau (VD 16 R 3389).
4Zorzin, Flugschriftenautor, 144 bezeichnet den Text als persönliche Schrift Karlstadts.
5Zur Bannandrohung vgl. KGK 165 und KGK 167.
9Dieses Argument bildet eine enge Verbindung zur gleichzeitig von Karlstadt bußtheologisch verwendeten und weiterentwickelten Begrifflichkeit der aqua tribulationis, vgl. KGK 162 (Textstelle), KGK 164 (Textstelle) u. KGK 164 (Anmerkung).
10Karlstadts Mutter war Katharina Bodenstein, geb. Demudt, aus Hammelburg. Vgl. Bubenheimer, Andreas Rudolff Bodenstein, 5–11; Bubenheimer, Gelassenheit, 252f. Weitere Verwandte, die er mit Tugend Gelassenheit angesprochen haben mag, um ihnen seinen neuen Weg zu erklären: 1. Seine in Wittenberg immatrikulierten Brüder Jodokus, Konrad und Martin Bodenstein (AAV 1, 20; 35; vgl. Bubenheimer, Gelassenheit, 254f.). — 2. Sein Bruder Michael Bodenstein, der sich 1517 in Wittenberg als Bäcker niederließ, vgl. Bubenheimer, Andreas Rudolff Bodenstein, 53. — 3. Bonifatius Bodenstein (gest. nach 1540), Dominikaner, stammte aus dem Würzburger Raum, laut Immatrikulation in Wittenberg im SoSe 1508 (AAV 1, 26a) kam er bereits aus dem Dominikanerkloster in Würzburg. Nach einer Station in Magdeburg als Magister studentium hielt er sich 1518–1521, also zur Zeit der Veröffentlichung von Tugend Gelassenheit, in Köln auf. Am 12.6.1523 inskribierte er an der Universität Leipzig (Matrikel Leipzig 2, 26: »Bonifacius Bottensteyn […] receptus est ad legendum in sacra theologia«). Dort erlangte er 1524 den Baccalaureus sententiarum, 1525 den Baccalaureus formatus, 1528 den Licenciatus theologiae; 1524 wurde er in Frankfurt/Oder immatrikuliert. Als Prior des Dominkanerkonvents in Magdeburg predigte er am 27.12.1522 gegen Luther. Auch als 1525 Kaplan an St. Ambrosius auf der Sudenburg bei Magdeburg wirkte er gegen das Luthertum. 1530 war er Prior am Magdeburger Dominikanerkonvent, 1534 Generalvikar der Provinz Sachsen. Zur Biographie vgl. Löhr, Kapitel, 66f., 202; Springer, Dominikaner, 312; Hülße, Einführung, 239. Seine Predigten sind handschriftlich erhalten (SB-PK Berlin, Ms. Magdeb. 183, 187–189, unter den Handschriften des Domgymnasiums Magdeburg, vgl. Winter, Manuscripta Magdeburgica 3, 70–73, 77–84; zu den Predigten s. auch Hülße, Einführung, 301–303). — 4. Nikolaus Demuth (um 1495 – nach 1543), Propst und Archidiakon des Stifts Neuwerk in Halle und Rat des Kd. Albrecht von Magdeburg und Mainz, Karlstadts Onkel mütterlicherseits. Ihm widmete Karlstadt im Jahr 1521 zwei Schriften: Karlstadt, Von den Empfahern (1521); Karlstadt, Berichtung dyesser red (1521). Demuth war im Januar 1521 in Wittenberg, um Luther von Schriften gegen den Kardinal abzuhalten. Dabei hatte Karlstadt das Gespräch beider vermittelt. Vgl. Scholz, Residenz, 240f.; Bubenheimer, Reliquienfest, 78f. — 5. Leonhard Bodenstein, der in einem Brief vom 1. April 1534 aus Speyer an Johannes Capito Andreas Bodenstein von Karlstadt als seinen »agnatus«, also als Verwandten väterlicherseits, bezeichnet und als Referenz für die Bewerbung um eine Stelle nennt. In der Unterschrift bezeichnet er sich als »Leonhardus Bodenstain Sueinfortensis«. — 6. Als weitere bezeugte Verwandte sei die verwitwete Patentante erwähnt, die sich 1520 um den Kauf eines Hauses in Wittenberg bemüht hatte, was jedoch scheiterte. Karlstadt wandte sich deswegen am 22.6.1520 an Spalatin, s. KGK 159 (Textstelle). Die Paten werden in Tugend Gelassenheit explizit erwähnt. s. KGK 166 (Textstelle); KGK 166 (Textstelle). — 7. Als Freund und Begleiter mag Karlstadt auch seinen Erfurter Kommilitonen (und Lehrer?) Petrus Nappenbach aus Karlstadt a. M. ansprechen. Zu diesem vgl. KGK 146 (Anmerkung).
14Vgl. Bubenheimer, Gelassenheit, 256. Zur psychohistorischen Dimension der Gelassenheit als modern gesprochen »Ablösung« und dieser Theologie als Auseinandersetzung mit der Mutter – worauf bereits die Widmung hinweist – vgl. Bubenheimer, Andreas Rudolff Bodenstein, 30 u. 40; Bubenheimer, Gelassenheit; Keßler, Karlstadt-Bild, 468.
18Vgl. Staupitz, Nachfolgung (1515), fol. D2v–D3r (im 10. Kapitel zur Überwindung des Fleisches): »einen ungelassenen menschen kommen tzu erquickung/ vorsprechung leiplicher gesuntheit/ kunfftiger tzeitlicher freude/ den trostet auch die freuntschafft der weldt/ dem gelassenen/ ist dy weldt in Christo gekreutziget/ und er der weldt wiederum […]«; Staupitz, Nachfolgung (1515), fol. E2v–E3r (im 12. Kapitel »von der endtlichen Gelassenheit«): »Laß dich edle sele/ laß alle ding und dich/ umb des willen/ der alle Dinge umb deinen willen gelassen hat/ laß tugendt laß gnade/ laß den sterbenden Christum/ Und abs gote gefiele/ so laß auch den gote/ so wirstu nymmer gelassen von gote.« Hier wird ein Unterschied deutlich: Karlstadt denkt nicht an ein Lassen von Christus oder Gott. In der Auslegung und Deutung des heiligen Vaterunser (entstanden im Frühjahr 1517?) spricht Luther in der Auslegung der vierten Bitte den Selbsthass an: »Dan so mus das blut Christi in dir wirken und dich erwermen, so wirst du kommen zu rechter reu des Herzen, wan du die speise hast. Das herz zufleust [zerfließt] alsbaldt und sagt: Ei, ich dregksagk, was habe ich getan? und hebt an, sich zu hassen und got zu lieben.« (WA 9, 145,33–146,1).
19Den Begriff der Gelassenheit (bzw. abnegatio) führt Karlstadt in allen drei handschriftlich angelegten Registern prominent auf, vgl. Hasse, Tauler, 32. Das zweite Register enthält einen Bezug auf Taulers Unterscheidung von »Ankleblikait« (d. h. dem »Ankleben« an sich selbst) und »war gelassenheit«. Register 1, Nr. 23f. mit Verweis auf Tauler, Sermones (1508), fol. 166vb. Das Exemplar Karlstadts befindet sich in RFB Wittenberg, H Th fol. 891.
21Mit Seufzen und lauter Stimme, vgl. Karlstadts Hervorhebungen in Tauler, Sermones (1508), fol. 32rb: »ipse spiritus interpellit gemitibus«; »parus clamor«. Zur Bedrängnis s. Tauler, Sermones (1508), fol. 31vb; 32ra. Vgl. Hasse, Tauler, 40. Hasse, Tauler, 47 weist darauf hin, dass für Tauler Demütigkeit einen entscheidenden Oberbegriff darstelle, Gelassenheit dagegen äußerlich bleibe, während Karlstadt in der Gelassenheit die zentrale Tugend erkannte.
22Tauler, Sermones (1508), fol. 32rb »De nihil«. Nach Tauler entspricht das Fegefeuer (als eine Form der Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit) dem »gedräng« und Leiden, das der Vernichtung des Selbst folgt. Vgl. Karlstadts Register 1, Nr. 14 mit Verweis auf Tauler, Sermones (1508), fol. 105ra. Hierzu Hasse, Tauler, 36 Anm. 21.
26Vgl. Tauler, Sermones (1508), fol. 32rb.
27Vgl. hierzu Karlstadts Aussage: »Dan betruͤbtnus/ anfechtung/ und vorsuchung ist mir das allernehest/ nichts ist mir neher/ dan angst« (KGK 166 (Textstelle)). Hierzu sei verwiesen auf folgende Annotation Karlstadts zu Taulers 35. Predigt: »corripit deus hominem«. (Tauler, Sermones (1508), fol. 80rb u. 80va). In dieser Predigt ist von den Strafen Gottes die Rede, die den Menschen in Gelassenheit, Geduld und Demut führen. Erst durch innere und äußere Anfechtung ruhe der Geist des Menschen in Gottes Geist, wo alle Anfechtung überwunden sei. Vgl. Hasse, Tauler, 36f.

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