Nr. 214
10 Conclusiones: De iubileo et anno remissionis
[[Wittenberg]], [[1522, Januar]]

Einleitung
Bearbeitet von Harald Bollbuck

1. Überlieferung

Frühdruck:

[A:]Karlstadt, Andreas Bodenstein von
DE IVBILEO ET ANNO ∥ Remißionis. ∥
in:
Luther, Martin; Melanchthon, Philipp; Karlstadt, Andreas Bodenstein von
LVTHERI , ∥ MELANCH. CAROLOSTADII &c. ∥ PROPOSITIONES, VVITTEM⸗∥BERGAE uiua uoce tractatæ, in hocq́; ple∥ræq; æditæ ab auctorıbus,ut uel nos abſentes ∥ cum ipſis agamus,uel certe ut ueri⸗∥tatis, & ſeductionum ad∥moneātur boni. ∥ Sunt autem id genus, ∥ De ∥ Miſſa & celebratione eius. ∥ Sacramento panis & uini. ∥ Promißione & præcepto. ∥ Fıde & operibus. ∥ Cantu Gregorıano. ∥ Coniuratıone ſpirituum. ∥ Cœlıbatu preſbyterorum. ∥ Decımis ac uotis. &c. ∥ BASILEAE. M. D. XXII. ∥ [Am Ende:] BASILEAE. ANNO ∥ M. D. XXII. ∥
Basel: [Adam Petri], 1522, fol. F8v.
8°, [56] Bl., A8–G8, fol. A1v und G8v leer.
Editionsvorlage:
BSB München, Polem. 3020, 13.
Weitere Exemplare: ÖNB Wien, 77.Cc.281. — RFB Wittenberg-Luthergedenkstätten, Ag 8 548d. — RFB Wittenberg-Luthergedenkstätten, SS 1516. — RFB Wittenberg-Luthergedenkstätten, SS 2272. — RFB Wittenberg-Evangelisches Predigerseminar, LC590/1. — RFB Wittenberg-Evangelisches Predigerseminar, NH C13/3.
Bibliographische Nachweise:

Handschrift:

Handschrift:

[a:]KBSG, Ms. 266, fol. 295v
Edition:

Literatur:

2. Entstehung und Inhalt

Inhaltlich und thematisch sind die 10 Conclusiones de iubileo et anno remissionis eng mit Karlstadts Schrift Von Abtuung der Bilder verbunden. Sie wurden Karlstadt zuerst von Ulrich Bubenheimer zugewiesen.1 Auf Grund dieser Nähe sind sie höchstwahrscheinlich im Januar 1522 entstanden, gehören sie doch inhaltlich »in den Zusammenhang der Neuregelung des Armenwesens in Wittenberg«2 in dieser Zeit. Im Kontext der im Wintersemester 1521/22 gehaltenen Deuteronomiumvorlesung3 befasste sich Karlstadt eingehend mit der Auslegung der Erlassjahrbestimmungen aus 5. Mose 15, dessen Exegese ebenso im Zentrum der Schrift Von Abtuung der Bilder steht.4 Letztlich schuf die am 24. Januar 1522 verabschiedete neue Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung mit der Forderung nach dem Ende der Bettelei sowie der Aufhebung der Mess-Stiftungen und Altarpfründen im Sterbefall von Priestern eine neue Situation, die zum Einbruch der Legate und Zinsen und einer vollkommenen Neuordnung des Armenwesens führte. Die vorliegende Thesenreihe diskutiert im Vorfeld der Durchsetzung der Stadtordnung diese Positionen zur Zins- und Schuldenfrage.

(Th. 1–2) Die ersten beiden Thesen stellen den Wortgebrauch des Jubeljahres in der päpstlichen Theologie als Ablass, der materiellen Gewinn abwirft, dem biblischen im Sinne eines brüderlichen Erlassjahres gegenüber, der sowohl wörtlich (als materieller Ablass) als auch geistlich (als Erlass der geistigen Schuld) zu verstehen sei.5 (Th. 3) Die Christen sollten die mosaischen Bestimmungen des Erlassjahres beachten, wobei für sie nicht nur jedes siebte Jahr, sondern stets Erlassjahr sei.6 (Th. 4) Daher sei dem bedürftigen Bruder leihweise zu geben und für die Leihe weder Zins noch Kapital zu erheben.7 (Th. 6) Es sollten nicht einmal die Schulden zurückgefordert werden.8 (Th. 5) Stattdessen sei dem aus dem Dienst entlassenen Knecht zusätzlich ein Reisegeld mitzugeben.9 (Th. 7) Sobald der Schuldner aber mithilfe der Leihe ein kleines Vermögen erlangt hat, soll er den Leihenden zufriedenstellen.10 (Th. 8) Somit löst sich nicht das Recht des Gläubigers auf das Eintreiben (der Schulden) auf, sondern die Schuldner sind (im Vermögensfall) zur Ablösung verpflichtet.11 (Th. 9–10) Die städtische Obrigkeit hat die Aufgabe, aus Geiz und Habgier säumige Schuldner mit dem Recht des Schwertes zur Rückzahlung zu zwingen, da ihr neben der Rechtsprechung eine gerechte Güterverteilung obliege.12


1Siehe Bubenheimer, Scandalum, 333 f.
2Bubenheimer, Scandalum, 334. Dort heißt es weiter: »Der Hinweis auf die Verpflichtung der Obrigkeit, kraft ihres ius gladii für eine gerechte Güterverteilung (These 9 f.), d. h. für eine auskömmliche Versorgung der Armen zu sorgen, entspricht der Regelung des Armenwesens in der ›Ordnung der Stadt Wittenberg‹ […].«
3Laut Brief Sebastian Helmans an Johannes Hess vom 8. Oktober 1521, s. Müller, Wittenberger Bewegung, 19 Nr. 4. Die Vorlesung währte mindestens bis Februar 1522, s. Karlstadts auf den 18. Februar 1522 datierte Vorrede der Maleachi-Predigt (KGK 224); vgl. Bubenheimer, Scandalum, 276 Anm. 52 u. 334.
5Siehe KGK 214 (Anmerkung); KGK 214 (Anmerkung). Die Betonung der literalen und spiritualen Lesart erinnert an die in De legis litera (KGK IV, Nr. 197) entwickelte Methode.
6Eine ähnliche Deutung des Erlassjahres im christlichen Sinne findet sich bereits in Welche Bücher biblisch sind: »Das Deuteronomium ym. xv. capittel dem sybende iar/ und vorgeben gelt schulden hat gesagt/ das sollen die Christen alle tag halten.« (KGK III, Nr. 171, S. 539, Z. 15–17). In seiner Vorlesung zum 2. Korintherbrief plädierte Melanchthon in Bezug auf 2. Kor 8,1 für ein geistliches Verständnis von Erlass- und Jubeljahr (MWA 4, 120,3 f.). Gemäß Maurer, Melanchthon 2, 560 Anm. 121 las er in der ersten Februarhälfte über 2. Kor 8, sodass auch diese Lektionen in unmittelbare zeitliche Nähe zu den vorliegenden Thesen und zur Schrift Von Abtuung der Bilder fielen. Vgl. Bubenheimer, Scandalum, 334 Anm. 25. S. auch Aussagen in Luther, Kleiner Wuchersermon (WA 6, 3,31–4,3; s. KGK 214 (Anmerkung)).
7Siehe KGK 214 (Anmerkung). Dort auch hinsichtlich der zinslosen Leihe unter Christen die Verbindung zu Luthers Wucherschriften und der Abhandlung Von der Freiheit eines Christenmenschen (WA 6, 3,31–4,3; 41,16 f.; WA 7, 37,16–34).
8Siehe KGK 214 (Anmerkung). Luther hatte schon in seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen gefordert, dass der Christ die Dinge frei weggeben solle, damit andere genau so viel davon haben, sodass auf diese Weise die Güter Gottes frei fließen und gemeinschaftlich werden sollten (WA 7, 37,16–34).
10Aufgenommen in Artikel 9 der Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung; s. KGK 214 (Anmerkung). Vgl. auch KGK 219 (Textstelle); KGK 219 (Textstelle); KGK 219 (Textstelle).
12Anliegen der Wittenberger Stadt- und Kirchenordnung ist die Neuordnung des Armenwesens. Vgl. KGK 214 (Anmerkung). Die kurz darauf verfasste Beutelordnung gab die Ausführungsbestimmungen zur Regelung der Güterverteilung. Vgl. die Einleitung zu KGK 219. S. auch Aussagen in Von Abtuung der Bilder (KGK 219 (Textstelle); KGK 219 (Textstelle)).

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