1. Überlieferung
Frühdruck:
Auſzlegung vnnd ‖ Leꝛvterung etzlicher heyligenn ge=‖ſchrifften/ So dem menſchen dienſtlich vnd ‖ erſchieſzlich ſeint zu Christlichem lebē. kurtz‖lich berurth vnd angetzeichēt in den figurn ‖ vnd ſchrifften der wagen. ‖ In ſonderheit. ‖ Des creutzes/ tzu welchem vnſer goth vnd ‖ herr/ den menſchen berufft. ‖ Bediengung vnd vorꝛvort. ‖ Romischer Chriſtlicher kirchen/ wil ich in aller gut=‖willigkeit/ alletzeit gewertig/ gehorſam/ vnd geuolgig sein. ¶ Laſze mich auch/ ein kindt weyſzen. Doch ‖ lawts vnd inhalts heyliger schriefft .Der ich mich ‖ in eydes crafft verbunden/ vnd mein pflicht/ auff ge=‖meindſchafft vñ gelupt Chriſtlicher Sacramenten ‖ betewrt hab. ‖
[Leipzig]: [Melchior Lotter d. Ä.], 1519.
4°, 26 Bl., Sign.: A4, B6, C4, D6, E6 (letzte Seite leer).
Editionsvorlage:
SUB Göttingen, 8° Theol.mor. 198/7.Weitere Exemplare: [ASch] Familienbibliothek Scheurl Fischbach, Neue Nr. 333. — [ALH] Lutherhaus Wittenberg, Kn B49/323. — KB Kopenhagen, 24,-159. 4°. — BL London, 3906.d.16. — ULB Halle, Ji 3139 (1). — HAB Wolfenbüttel, A: 98.12 Theol. (11). — HAB Wolfenbüttel, H: G 702.4° Helmst. (4). — HAB Wolfenbüttel, H: Yv 2386.8° Helmst. — ZB der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz Berlin, Bibliothek Kaspar von Köckritz, Sammelband I, 9.
Bibliographische Nachweise:
- Freys/Barge, Verzeichnis, Nr. 15.
- Köhler, Bibliographie, Nr. 1854.
- Zorzin, Flugschriftenautor, Nr. 12A.
- VD 16 B 6113.
Auf dem Titelblatt der Auslegung Wagen wurden drei unterschiedlich Schwabacher Auszeichnungstypen verwendet: 1 (erste Zeile), 2 (zweite, siebte und zehnte Zeile) und 3 (dritte bis sechste, achte und neunte Zeile) dazu eine Schwabacher Texttype 1 (elfte bis siebzehnte Zeile), die auch für den laufenden Text verwendet wurde. Die Marginalien wurden in einer kleineren Texttype 2 gesetzt. Im laufenden Text wurden Zwischentitel1 und Hervorhebungen2 in der Auszeichnungstype 2 wiedergegeben.
Wahrscheinlich wünschte sich Karlstadt im Schriftbild der Auslegung Wagen eine Hervorhebung der Wagen-Sprüche unter Beibehaltung ihrer Paarreimstruktur. Die dafür verwendete Auszeichnungstype 2 erschwerte das jedoch, besonders bei Sprüchen mit längeren Reimzeilen.3 Auf fol. D1v wurde ausnahmsweise für den 8-zeiligen Reimspruch Nr. [12] die Texttype 1 benutzt; dadurch blieb in diesem Fall seine Struktur in vier Paarreimen erhalten und konnte mittels Zentrierung hervorgehoben werden. Gegen Ende der Auslegung Wagen (ab fol. D4v) verbessert sich die Wiedergabe der mit Auszeichnungstype 2 gesetzten Reimsprüche.4 Es lässt sich aber weiterhin nicht übersehen, dass die Anforderungen an die Textgestaltung den Setzern der Lotterschen Offizin in Leipzig Schwierigkeiten bereitet haben.5 Festzuhalten ist, dass im Druck der Auslegung Wagen die Texte der Wagen Flugblatt-Sprüche in ihrer ursprünglichen Form erhalten sind. Auf dem Flugblatt wurden sie zur Einpassung in den auf dem Holzstock dafür zur Verfügung stehenden begrenzten Raum gekürzt.
Auf dem Titelblatt von ASch findet sich eine Dedizierung Karlstadts an Scheurl (»Egregio et Magnifico D'omino' Christofer[o] | Scheurlino I'uris' V'triusque' doctori | celeberrimo Syndico Nurmb'ergensi' | patrono et amico suspiciend[o]«).6 Im Druck wurden Fehler von einer zeitgenössischen Schreiberhand mit schwarzer Tinte korrigiert. Auch das Exemplar [ALH] enthält Korrekturen und Randnotizen von einer zeitgenössischen Schreiberhand mit roter und schwarzer Tinte. Überwiegend stimmen sie mit den Korrekturen in ASch überein; zusätzlich wurden noch zwei Verweise auf Tauler und einige Bibelstellen eingetragen. Im Exemplar der EKiBO-Zentralbibliothek, aus dem Bücherbestand des Kaspar von Köckritz7 war eines der beiden erhaltenen B Exemplare vom Wagen-Bildblatt eingelegt.
Literatur:
- Barge, Karlstadt 1, 147f.
- Bubenheimer, Andreas Rudolff Bodenstein, 22–28.
- Hasse, Tauler, 110–113.
- Kotabe, Laienbild, 93–113 u. 124–126.
2. Inhalt und Entstehung
Im Brief vom 20. März 1519 an Spalatin berichtet Karlstadt von Schwierigkeiten bei der Drucklegung einer volksprachlichen Fassung des Wagen-Flugblattes. Er hatte dazu deutsche Reimtexte (»Sprüche«) verfasst, für die jedoch der Platz in den vorhandenen Textfeldausschnitten zu knapp war, um die jeweils nötige Typenmenge darin unterzubringen. Karlstadt war davon ausgegangen, dass »[…] an zweyfel. welche dieße wagen. mitsampt eyngeleibten schrifften betrachten. werden. ersynnen und bschlisszen. das reeden. des obersten wagen. Christlicher tzucht erschießlich. wortlin des understen. undienlich und schedlich [sind […]]«.8 Dieser Erwartung waren die notwendig gewordenen Textkürzungen der Reime abträglich.9 Wohl auch deshalb war Karlstadt vorgeschlagen worden, eine andere Lösung zu suchen »als jene geschriebenen Sprüchlein zu beschneiden«.10 Der Zusatz in den Überschriftszeilen des Wagen-Bildblattes: »Will Gott. Szo wuͤrt vortewtschte erklerung. beder wagen. mit yren anhengigen spruchen. kurtzlich gedruckt außgen. Auß welcher. yeglicher wol ermessen mag. was yedenn Christglaubigen zu wisszen. not ist.«11, zeigt, dass sich Karlstadt entschied, das Problem zu lösen, indem er einerseits die Sprüche für die Bildblattfassung kürzen ließ und andererseits eine erläuternde Flugschrift zum Wagen-Bildblatt schrieb. Zwischen dem 3. und dem 18. April 151912 verfasste er daraufhin seine erste deutsche Schrift.13 Die Fertigstellung des Druckes dieser Auslegung Wagen bei Melchior Lotter d. Ä. in Leipzig zog sich jedoch fast einen ganzen Monat bis Mitte Mai 1519 hin.14 Am 17. Mai konnte Karlstadt ein erstes druckfrisches Exemplar des Traktats an Spalatin senden. Von den vielen Mängeln, die dem Drucker darin unterlaufen waren, zeigte sich Karlstadt enttäuscht.15 Er sandte Spalatin vorläufig ein unkorrigiertes Exemplar und versprach ihm, ein verbessertes zu schicken sobald er seine Textvorlage (aus Leipzig) zurückerhalten habe.16
Seine erste Verwendung der deutschen Sprache in einer Publikation begründete Karlstadt damit, dass die Heilige Schrift allen Christen gemein sei und es fruchtbringend wäre, wenn sie jeder täglich zuhause lese oder vorgelesen bekäme.17 Im Titel seines Traktates kommt das zum Ausdruck. Karlstadt will eine Auslegung und Erläuterung von Bibeltexten (»heyligenn geschrifften«) bieten, die kurz in den Abbildungen (»figurn«) und Texten (»schrifften«) des Wagen-Bildblattes berührt werden. Entsprechend bietet eine große Anzahl von Marginalien die Stellenangaben zu den reichlich in den Text eingeflochtenen Bibelzitaten.18 Mit seiner ersten volksprachlichen Flugschrift strebte Karlstadt jedoch mehr als nur die Kommentierung der Figuren und Bildinhalte des Wagen-Flugblatts an. Ursprünglich von Karlstadt nicht vorgesehen, sollte seine nun nötig gewordene erste deutsche Flugschrift Leser und Hörer sowohl mit biblischen Texten bekannt und vertraut machen, als ihnen auch wichtige Aspekte der in Wittenberg vertretenen und gelehrten Kreuzes- und Rechtfertigungstheologie nahebringen.
In seinem auf den 3. April 1519 datierten Widmungsbrief an den kurfürstlichen Kämmerer Degenhart Pfeffinger begründete Karlstadt die »Ursach gegenwertiger declaration« damit, dass ihm wohlgesinnte Personen zu verstehen gegeben hatten, »[…] das wenig [Betrachter] solche meinung aus den schriefften des obersten wagen fassen konnen/ und haben derhalben ein erleuterung begert/ […]«.19 Die dieser Begründung vorausgehende Passage lässt erkennen, dass Karlstadt nicht auf Verständnisschwierigkeiten bezüglich der gesamten oberen Bildhälfte angesprochen worden war, sondern allein auf den für ihn zentralen Aspekt der Sündenerkenntnis und Selbstverurteilung des Sünders, des »scharfen, ängstigenden und niederdrückenden Urteils« des Büßenden über eigene Sünden und Mängel. Für Karlstadt stand fest, dass im Menschen keine lebendigen und wahrhaftigen Werke vor Gott aufwachsen können ohne vorausgehende, strengste Selbstverurteilung. Wolle jemand einen gottgefälligen Dienst erbringen, dann müsse er sich »[…] mit seinem urteyl feegen«.20 Es war dieser wichtige Aspekt21, auf den »freundliche Gönner«Karlstadt im Zusammenhang mit dem Bildblatt angesprochen hatten. Deshalb nimmt er sich vor, die für sein Buß- und Rechtfertigungsverständnis mit der Kreuzerfahrung verbundene Heilsdynamik in einem Traktat darzulegen. Als intendierte Zielgruppe erwähnt er die (studierende) Jugend, welche von den die Heilige Schrift mit scholastischen Lehren vermischenden »Theolügen« unbelastet ist, bzw. all jene, die diesen scholastischen Lehrern »noch […] nachvolgig seint«.22 Damit verfolgt sein Traktat eine ähnlich Zielsetzung wie das mit dessen Entstehung parallel verlaufende Kolleg über die Epitome.23
In der Auslegung Wagen legt Karlstadt im Widmungsbrief an Pfeffinger mit Zitaten aus Hiob und Paulusbriefen sein Verständnis der vom Sünder zu vollziehenden, schonungslosen Offenlegung seiner Vergehen vor Gott dar.24 Im daran anschließenden Hauptteil25 entfaltet er dann weitere, in der oberen Hälfte des Wagen-Bildblatts mit dem »Urteil« des Sünders verbundene theologische Schwerpunkte. Seine Ausführungen behandeln zuerst das Kreuz26, danach den bußbereiten Sünder im Wagen zu Christus27, darauf Sprüche zwischen Wagen und Kreuz28, und abschließend einige Sprüche des unteren Wagens29. Dabei stellt Karlstadt folgende Aspekte in den Vordergrund: Gottesliebe und Gehorsam des bußbereiten Sünders Gott gegenüber30 – Einübung in Gelassenheit31 – Fall in den Abgrund eigener Nichtigkeit32 – Widerstand gegen den Teufel im Kampf des Fleisches gegen den Geist33 – Leidensbereitschaft und Feindesliebe in Verfolgung34 – die Heilige Schrift als Gesetz, das der Sünde überführt35 – Reue und sühnendes Leiden als Gnadengaben Gottes36 – Einsicht, dass eigene Kräfte nicht zu Gott führen und eigener Wille ohne göttliche Gnade sündigt37. In seiner fortschreitenden Besprechung immer neuer Wagen-Reimsprüche geht Karlstadt wiederholt auf einige dieser Aspekte ein; insgesamt ist wahrhafte Buße und Gelassenheit des Eigenwillens die allem anderen übergeordnete Thematik.
Auf die Textfelder des unteren Bildteils geht Karlstadt nur vereinzelt ein38, da für ihn »Leser und Hörer« bei aufmerksamer Betrachtung und Beschäftigung mit dem Bildblatt selbst in der Lage seien, den Kontrast des positiven oberen zum negativen unteren Bildteil für sich zu erschließen.39 Der Autor scheint also eine kommunikative Dynamik vorauszusetzen, die nicht nur einzeln lesende Rezipienten40, sondern auch Vorlesende und ihnen zuhörende Rezipienten-Gruppen einschließt.41
Die Abfolge der drei zusammengehörenden Druckwerke (CurrusKGK 110, WagenKGK 120 und Auslegung Wagen) lässt in ihrem Entstehungsprozess und ihrer Verbindung untereinander deutlich werden, wie Karlstadt als erster Wittenberger den publizistischen Versuch unternahm, traditionelle Bildelemente und großflächige Drucktechnik zur Vermittlung reformatorischer Inhalte anzuwenden. In seinem originellen Vorstoß werden sowohl dessen experimenteller Charakter als auch die Grenzen dieses Mediums erfahrbar. In Karlstadts Herantasten an die Möglichkeiten, die ihm das illustrierte Flugblatt anbot, ist v. a. seine Übertragung des traditionellen, vertikal statischen Gegenübers von Himmel und Hölle in eine horizontal gegenläufige Heils- bzw. Verderbensdynamik innovativ. Hinzu kommt, besonders im Vergleich mit den Bildflugblättern Schiff des Heils42 und Schiff der Hl. Ursula43, dass die dort zentral mit dem Kreuz Christi verbundene sakramentale Heilsvermittlung an die Sünder im Wagen-Bildblatt keine Rolle spielt. Karlstadts Entscheidung, zwei vollkommen konträre Überzeugungen und Lebensoptionen auf ein und derselben Bildfläche unterzubringen, war ambitioniert: Oben reformatorisch-paulinisch fundierte Kreuzesfrömmigkeit, unten eine ironisch-satirische Attacke und Abrechnung mit scholastischer Willenslehre und den Gegnern der Wittenberger. Beides könnte, trotz antithetischen Aufbaus, im Anspruch, den es (besonders in der volkssprachlichen Variante) an nichtakademisch geschulte Rezipienten stellte, diese überfordert haben. Karlstadt hat sich an ein originelles und zugleich riskantes Projekt gewagt, bei dem typographische Schwierigkeiten gepaart mit einer sich schnell ändernden Gesamtlage in Richtung auf das folgenschwere Ereignis der Leipziger Disputation, ein weiteres »Nachjustieren« des von ihm kreativ erprobten Mediums kaum mehr möglich machten (u. a. wohl auch wegen der vom Autor dabei selbst zu tragenden hohen Kosten).