1. Überlieferung
Schreiben des Nördlinger Stadtpredigers Theobald Billican (um 1493–1554) an den Crailsheimer Pfarrer und Reformator Adam Weiß (um 1490–1534) vom 12. Februar 1525: »[…] Ad Carolostadium scripsi tertio Idus Februar. Ann. M D XXV. ut ad me concedat, mecum habitet diem unum aut alterum, aut plures etiam, si queat sanari, an sit venturus, ignoro, opto autem omnium maxime. […]«.
Beilage: Theobald Billican an Adam Weiß in Crailsheim, Nördlingen, 1525, 12. Februar
- Haußdorff, Lebensbeschreibung, 225–227f. Anm. (+).
Literatur:
- Barge, Karlstadt 2, 244f.
- Simon, Humanismus, 79–81.
2. Inhaltliche und historische Hinweise
Der Brief des reichsstädtischen Predigers Theobald Billican, eines engen Freundes Philipp Melanchthons aus Heidelberger Studienzeiten,2 an den Crailsheimer Pfarrer Adam Weiß berichtet davon, dass Billican Karlstadt – der sich heimlich in Rothenburg ob der Tauber aufhielt – mit einem Brief am 11. Februar 1525 eingeladen habe, für einen oder mehrere Tage zu ihm nach Nördlingen zu kommen. Billican hoffte inständig, durch den sich bei diesem (erneuten) Besuch ergebenden theologischen Gedankenaustausch Karlstadt von seinen Irrtümern zu »heilen«. Zugleich bezweifelte Billican, dass Karlstadt der Einladung nach Nördlingen Folge leisten würde.
Der aus Kursachsen ausgewiesene Karlstadt war vor Mitte Dezember 1524 nach Rothenburg ob der Tauber gelangt.3 Mit der Unterstützung Rothenburger Anhänger reiste er – da ihm ein sicheres Unterkommen durch den mehrheitlich gegen die Reformation eingestellten reichsstädtischen Rat verwehrt blieb – allem Anschein schon nach kurzer Zeit weiter. Zunächst suchte Karlstadt den ihm offenbar persönlich noch unbekannten vormaligen Mainzer Theologiedozenten Adam Weiß auf. Dieser wirkte in der etwa 40 km südwestlich von Rothenburg gelegenen brandenburg-ansbachischen Landstadt Crailsheim als Pfarrer im Sinne der Reformation.4 Karlstadt begab sich sodann weiter in die gut 50km südöstlich, nicht mehr im unmittelbaren Machtbereich Markgraf Kasimirs von Brandenburg-Ansbach liegende Reichsstadt Nördlingen.5 Entsprechendes meldete Joachim Camerarius nach Wittenberg.6 Den seit Ende 1522 in der Nördlinger Stadtpfarrkirche St.Georg angestellten Prädikanten Theobald Billican hatte Karlstadt bis dahin wohl ebenfalls noch nicht persönlich kennengelernt.7 Gewiss beabsichtigte Karlstadt, Weiß und Billican über seine von Luther abweichenden theologischen Überzeugungen, seine Sicht der Reformation und seine neue Abendmahlslehre zu unterrichten sowie ihnen seine Publikationen bekannt zu geben.8
Die Rückkehr Karlstadts in das gut 75 Kilometer von Nördlingen entfernte Rothenburg ob der Tauber erfolgte offenbar spätestens Mitte Januar 1525. Dies geht aus dem Brief des würzburgischen Juristen Eucharius Steinmetz an den Rothenburger Stadtschreiber Thomas Zweifel vom 24. Januar (Beilage 1 zu KGK 285) hervor. Daneben berichtete der Ratsherr Ehrenfried Kumpf später, dass Karlstadt seit dem Erlass des Edikts des Rothenburger Rats am 27. Januar 1525 (Beilage 2 zu KGK 285) dauerhaft in der Reichsstadt geblieben sei.9
Die Forschung ging bisher davon aus, dass Karlstadt die besagte Reise nach Crailsheim und Nördlingen später unternahm, nämlich erst nach dem Erlass des Edikts am 27. Januar 1525 (Beilage 2 zu KGK 285) und nach der Ablehnung von Karlstadts Bittgesuch an Markgraf Kasimir am 1. Februar 1525 (Beilage 3 zu KGK 285). Da der hier als Beilage vorgelegte Brief Billicans an Adam Weiß vom 11. Februar 1525 von einer Einladung an Karlstadt spricht, nahm man an, dass Karlstadt erst daraufhin nach Nördlingen gegangen sei. Freilich blieb so unbeachtet, dass Billican nur von einer ausgesprochenen Einladung an Karlstadt schrieb, nicht aber von einem tatsächlich stattgefundenen Besuch. Die Zurückweisung von Karlstadts Bittgesuch an Markgraf Kasimir (Beilage 3 zu KGK 285) und die Einladung Billicans können nicht als Beleg für einen Besuch Karlstadts bei Billican in Nördlingen im Februar 1525 gelten. Die Auskünfte von Camerarius und Kumpf sprechen vielmehr für eine Reise Karlstadts nach Nördlingen bereits Mitte Dezember 1524 und der Brief von Eucharius Steinmetz vom 24. Januar (Beilage 1 zu KGK 285) für eine Rückkehr Karlstadts nach Rothenburg ob der Tauber spätestens Mitte Januar 1525.10 Es liegen auch keine Indizien dafür vor, dass Karlstadt der Einladung Billicans vom 11. Februar 1525 tatsächlich Folge geleistet und sich nach seinem Besuch um den Jahreswechsel über alle Verbote hinweg erneut auf den gefährlichen, weil weithin durch markgräflich-ansbachisches Territorium führenden Weg nach Nördlingen begeben hat. Eine solche Reise zu diesem Zeitpunkt, nach der Ablehnung seines Bittgesuches durch die Ansbacher Regierung, ist eher unwahrscheinlich. Die in Billicans Brief geäußerten Zweifel über Karlstadts Kommen bringen dies auch zum Ausdruck.
Aufschlussreich für das Verständnis der Rolle Billicans scheint nun das Faktum, dass dieser just am 12. Februar 1525, dem Tag des Schreibens an Adam Weiß in Crailsheim, auch das Vorwort zu der in den Druck gegebenen Renovatio ecclesiae Nordlingiacensis unterfertigte.11 Mit dieser Schrift legten Billican und seine Mitarbeiter in der Nördlinger Stadtpfarrkirche St.Georg Rechenschaft über ihren Glauben und ihr reformerisches Tun ab, um Kritik und Verunglimpfungen zu begegnen. Die lateinische Publikation richtete sich an die Gelehrten, vor allem die ebenfalls reformatorisch gesinnten Theologen: Nördlingen sollte als »Beispiel für benachbarte Kirchen« präsentiert werden.12
Die Renovatio ecclesiae Nordlingiacensis wandte sich in manchen Argumenten auch in auffälliger Schärfe gegen Karlstadt, etwa gegen seinen »furor«, seine angebliche erneute Hinneigung zum »judaismus« und das Bilderverbot, seine Abwertung der Sprachen im Gottesdienst und gegen seine neue strikt kommemorative Abendmahlsauffassung mit ihrer Ablehnung des Realpräsenzdogmas. Die Kritik Billicans an Karlstadt verrät bereits unverkennbar den Eindruck von Luthers Polemik Wider die himmlischen Propheten, deren beide Teile Ende Dezember 1524 und Ende Januar 1525 erschienen. Luther wies auf diese Veröffentlichung am 5. März 1525 hin, als er Billicans Anfrage über Karlstadts Lehre beantwortete.13
Billican sah sich nach Bekanntwerden von Luthers Abrechnung mit Karlstadt anscheinend zu einer öffentlichen Distanzierung von Karlstadt gezwungen.14 Im Brief an Adam Weiß hob Billican vor allem den subversiven Charakter von Karlstadts Wirken hervor.15 Damit nahm er eine pauschale negative Kennzeichnung auf, die Luther auch im Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist verbreitete.16 Billicans polemische Aussagen über Karlstadts Aktivitäten bezogen sich allem Anschein nach gar nicht auf eine konkrete Predigttätigkeit in den Gebieten der kleinen Reichsstädte Dinkelsbühl und Bopfingen oder der Fürstpropstei Ellwangen und der Grafen von Oettingen, die auf dem Weg zwischen Crailsheim und Nördlingen zu durchqueren waren. Billicans Äußerungen dienten wohl nur dazu, seine Absage an Karlstadt – im Gefolge von Luthers Abrechnung – drastisch zu unterstreichen. Die Publikation der Renovatio ecclesiae Nordlingiacensis stellte jedenfalls Billicans Haltung gegenüber den »Pseudolutheranern«,17 wie er Karlstadt und alle weiteren Kritiker Luthers auf evangelischer Seite bezeichnete, unmissverständlich klar.
Vor diesem Hintergrund lässt sich Billicans Brief an Adam Weiß verstehen. Billican war offenbar Karlstadt bei dessen Besuch in Nördlingen im Dezember 1524 noch aufgeschlossen begegnet.18 Eine gewisse Relativierung der Bedeutung der Kommunion, die auch nicht – eine auffällige Übereinstimmung mit Karlstadt – die Sündenvergebung mitteile, sowie der Praxis der Säuglingstaufe deuten darauf hin. In seinem Schreiben vom 12. Februar 1525 sprach Billican davon, dass auch sein vormaliger Heidelberger Lehrer Johannes Oekolampad einem Irrtum aufgesessen sei,19 und bekundete seinerseits die Sorge, dass Adam Weiß, der Adressat seines Schreibens, den »Gottlosen«, zu denen Billican offenbar Karlstadt bereits zählte, zu nahe stehen könnte.20 Verbunden mit dieser drastischen Warnung teilte er Weiß mit, er habe Karlstadt zum theologischen Gespräch nach Nördlingen eingeladen, um ihn von seinen Irrwegen abzubringen.
Auf Billicans theologische Kritik reagierte Karlstadt in dem Traktat Von dem neuen und alten Testament (KGK 290).
KGK 285
Transkription
