1. Überlieferung
Editionen:
- Olearius, Scrinium (1671), 69–74.
- Olearius, Scrinium (1698), 69–74.
- Gerdes, Scrinium, 335–338.
Literatur:
- Olearius, Scrinium (1671), 195.
- Jäger, Carlstadt, 139f.
- Barge, Karlstadt 1, 185.
- WA.B 2, 188, Anm. 4.
- Hasse, Tauler, 120f.
2. Inhalt und Entstehung
Hintergrund des vorliegenden Briefes ist eine Passionspredigt, die Martin Luther an Karfreitag (6. April) 1520 in Wittenberg gehalten hatte1 und auf die Karlstadt an zwei Stellen seines am selben Tag geschriebenen Briefes Bezug nimmt. Spalatin hatte jene Predigt entweder selbst gehört oder von Hörern der Predigt2 etwas über ihren Inhalt erfahren. Ob er daraufhin einen Brief an Karlstadt geschrieben oder ihn mündlich auf Luthers Predigt angesprochen hatte, bleibt offen.3Luther wird in der Predigt eine Aussage gemacht haben, die Spalatin veranlasste, Karlstadt nach dessen Verständnis zweier Formulierungen Christi zu fragen: »Meine Seele ist betrübt bis an den Tod« (Mt 26,39) und »Vater, alle Dinge sind Dir möglich; wenn es möglich ist, möge dieser Kelch an mir vorübergehen – doch nicht wie ich will, sondern wie du willst« (Mt 26,39). Damit sei der Wille Christi »verschieden« vom Willen seines Vaters gewesen. Karlstadt spitzt zu: beide Willen hätten im Widerspruch zueinander gestanden. Nach seinem Willen wollte Christus nicht sterben, nach des Vaters Willen wollte er es. Indem Christus jedoch danach sein Leben hingab, habe er uns – in Karlstadts Worten – ein »nachahmenswertes Vorbild« (exemplum imitabile) gegeben. Daraus entwickelt Karlstadt die These: Wenn der sündlose Christus sein Leben liebte, dürfen auch wir – ohne dass es eine Sünde darstellt – unser Leben so lieben, dass wir nicht sterben wollen. Im Folgenden nähert sich Karlstadt der Form einer literarischen Disputation, indem er nacheinander mögliche Einwände erörtert. Seiner These stünden die Weisungen Christi entgegen, die dazu auffordern, das eigene Leben zu verachten, und die mahnen, das eigene Leben nicht retten zu wollen. Christus habe sich dem Willen des Vaters unterworfen, aber wir würden – sollten wir mit Hilfe der Gnade dasselbe wollen – dennoch sündigen, weil wir nach der Natur nicht sterben wollten. Karlstadt lässt diese Aporie zunächst unaufgelöst und legt die Weisungen Christi (Mk 8,35 par) mit Hilfe eines synoptischen Vergleiches aus. Am schärfsten formuliere es Markus: »[…] wer sein Leben verliert um meines und des Evangeliums willen, der wird es retten.« In diesem Sinn sei die Aussage »Christi und die seines Predigers Martin« klar. Unser Leben sei mit Christi Leiden zu umhüllen; wir sollten beten »Dein Wille geschehe« (Mt 6,10)4 und zu sterben bereit sein. Karlstadt verbindet nun die schon angeschnittene Frage nach der bleibenden Sündhaftigkeit des Menschen mit Jesu Bitte in Gethsemane durch Rückgriff auf die paulinische Formulierung (Röm 8,3), Christus sei »in similitudinem carnis peccati« (»in Ähnlichkeit des sündigen Fleisches«) gekommen, doch – so merkt Karlstadt im Blick auf die Sündlosigkeit Christi an – nicht »in veritatem« der Sünde. Die Sünde, die Christus wegtrug, sei unsere Sünde gewesen. Christus habe sich in Gethsemane die Schwäche unseres menschlichen Lebens zu eigen gemacht, damit sie uns nicht schade. Karlstadt fasst zusammen: »Es war unsere Schwäche, nicht die Schwäche Christi.«Spalatin wisse, dass Karlstadt an Martins Predigt Gefallen finde. Er betont, den Knoten des erörterten Problems nicht durchschnitten zu haben und erklärt seine Bereitschaft zu weiteren Ausführungen.
Die Fragestellung, ob Christus sich dem Willen seines Vaters widersetzte, als er bat, der Kelch des Todes möge an ihm vorübergehen, wurde in der Scholastik im Anschluss an Petrus Lombardus, III Sent. d. 175 erörtert. Insofern war dadurch an der Universität Wittenberg, in der die Sentenzen des Lombardus als Lehrbuch für angehende Sententiare der Theologie offiziell noch nicht abgeschafft waren, ein formaler Anknüpfungspunkt für eine Zirkulardisputation gegeben, die im Sommer 1520 unter Karlstadts Vorsitz über die Frage »an Christus in passione etiam reluctatus fuerit voluntati patris« stattfand.6 Das aktuelle Interesse an einer solchen Disputation war allerdings durch die von Karlstadt erwähnte Predigt Luthers von Karfreitag 1520 und die Reaktionen darauf gegeben.
Für die Erörterung der Thematik im vorliegenden Brief hat Karlstadt offenbar nicht mehr auf Petrus Lombardus zurückgegriffen, da sich zum einen in seinem Exemplar der Sentenzen keine handschriftliche Notiz Karlstadts zu der genannten distinctio findet7 und er zum anderen die von Lombardus gebotenen Autoritäten zum Verständnis von Mt 26,39 – Augustin, Hieronymus, Ambrosius und Hilarius – nicht diskutierte. Er griff – neben den nicht erhaltenen Ausführungen Luthers in seiner Karfreitagspredigt – Gedanken aus anderen Quellen auf, von denen bislang die SermonesJohannes Taulers8 und die Disputatiuncula de taedio, pavore, tristitia Iesu des Erasmus9 anhand von Karlstadts Handexemplaren10 dieser Texte nachgewiesen werden konnten.11 Im Vordergrund steht jedoch die Erörterung der zahlreichen Bibelstellen, die Karlstadt aus den Evangelien und den neutestamentlichen Briefen zum Thema herangezogen hat.