Nr. 154
Andreas Karlstadt an Georg Spalatin
[Wittenberg], 1520, 6. April

Einleitung
Bearbeitet von Ulrich Bubenheimer und Alejandro Zorzin

1. Überlieferung

Editionen:

Literatur:

2. Inhalt und Entstehung

Hintergrund des vorliegenden Briefes ist eine Passionspredigt, die Martin Luther an Karfreitag (6. April) 1520 in Wittenberg gehalten hatte1 und auf die Karlstadt an zwei Stellen seines am selben Tag geschriebenen Briefes Bezug nimmt. Spalatin hatte jene Predigt entweder selbst gehört oder von Hörern der Predigt2 etwas über ihren Inhalt erfahren. Ob er daraufhin einen Brief an Karlstadt geschrieben oder ihn mündlich auf Luthers Predigt angesprochen hatte, bleibt offen.3 Luther wird in der Predigt eine Aussage gemacht haben, die Spalatin veranlasste, Karlstadt nach dessen Verständnis zweier Formulierungen Christi zu fragen: »Meine Seele ist betrübt bis an den Tod« (Mt 26,39) und »Vater, alle Dinge sind Dir möglich; wenn es möglich ist, möge dieser Kelch an mir vorübergehen – doch nicht wie ich will, sondern wie du willst« (Mt 26,39). Damit sei der Wille Christi »verschieden« vom Willen seines Vaters gewesen. Karlstadt spitzt zu: beide Willen hätten im Widerspruch zueinander gestanden. Nach seinem Willen wollte Christus nicht sterben, nach des Vaters Willen wollte er es. Indem Christus jedoch danach sein Leben hingab, habe er uns – in Karlstadts Worten – ein »nachahmenswertes Vorbild« (exemplum imitabile) gegeben. Daraus entwickelt Karlstadt die These: Wenn der sündlose Christus sein Leben liebte, dürfen auch wir – ohne dass es eine Sünde darstellt – unser Leben so lieben, dass wir nicht sterben wollen. Im Folgenden nähert sich Karlstadt der Form einer literarischen Disputation, indem er nacheinander mögliche Einwände erörtert. Seiner These stünden die Weisungen Christi entgegen, die dazu auffordern, das eigene Leben zu verachten, und die mahnen, das eigene Leben nicht retten zu wollen. Christus habe sich dem Willen des Vaters unterworfen, aber wir würden – sollten wir mit Hilfe der Gnade dasselbe wollen – dennoch sündigen, weil wir nach der Natur nicht sterben wollten. Karlstadt lässt diese Aporie zunächst unaufgelöst und legt die Weisungen Christi (Mk 8,35 par) mit Hilfe eines synoptischen Vergleiches aus. Am schärfsten formuliere es Markus: »[…] wer sein Leben verliert um meines und des Evangeliums willen, der wird es retten.« In diesem Sinn sei die Aussage »Christi und die seines Predigers Martin« klar. Unser Leben sei mit Christi Leiden zu umhüllen; wir sollten beten »Dein Wille geschehe« (Mt 6,10)4 und zu sterben bereit sein. Karlstadt verbindet nun die schon angeschnittene Frage nach der bleibenden Sündhaftigkeit des Menschen mit Jesu Bitte in Gethsemane durch Rückgriff auf die paulinische Formulierung (Röm 8,3), Christus sei »in similitudinem carnis peccati« (»in Ähnlichkeit des sündigen Fleisches«) gekommen, doch – so merkt Karlstadt im Blick auf die Sündlosigkeit Christi an – nicht »in veritatem« der Sünde. Die Sünde, die Christus wegtrug, sei unsere Sünde gewesen. Christus habe sich in Gethsemane die Schwäche unseres menschlichen Lebens zu eigen gemacht, damit sie uns nicht schade. Karlstadt fasst zusammen: »Es war unsere Schwäche, nicht die Schwäche Christi.« Spalatin wisse, dass Karlstadt an Martins Predigt Gefallen finde. Er betont, den Knoten des erörterten Problems nicht durchschnitten zu haben und erklärt seine Bereitschaft zu weiteren Ausführungen.

Die Fragestellung, ob Christus sich dem Willen seines Vaters widersetzte, als er bat, der Kelch des Todes möge an ihm vorübergehen, wurde in der Scholastik im Anschluss an Petrus Lombardus, III Sent. d. 175 erörtert. Insofern war dadurch an der Universität Wittenberg, in der die Sentenzen des Lombardus als Lehrbuch für angehende Sententiare der Theologie offiziell noch nicht abgeschafft waren, ein formaler Anknüpfungspunkt für eine Zirkulardisputation gegeben, die im Sommer 1520 unter Karlstadts Vorsitz über die Frage »an Christus in passione etiam reluctatus fuerit voluntati patris« stattfand.6 Das aktuelle Interesse an einer solchen Disputation war allerdings durch die von Karlstadt erwähnte Predigt Luthers von Karfreitag 1520 und die Reaktionen darauf gegeben.

Für die Erörterung der Thematik im vorliegenden Brief hat Karlstadt offenbar nicht mehr auf Petrus Lombardus zurückgegriffen, da sich zum einen in seinem Exemplar der Sentenzen keine handschriftliche Notiz Karlstadts zu der genannten distinctio findet7 und er zum anderen die von Lombardus gebotenen Autoritäten zum Verständnis von Mt 26,39Augustin, Hieronymus, Ambrosius und Hilarius – nicht diskutierte. Er griff – neben den nicht erhaltenen Ausführungen Luthers in seiner Karfreitagspredigt – Gedanken aus anderen Quellen auf, von denen bislang die Sermones Johannes Taulers8 und die Disputatiuncula de taedio, pavore, tristitia Iesu des Erasmus9 anhand von Karlstadts Handexemplaren10 dieser Texte nachgewiesen werden konnten.11 Im Vordergrund steht jedoch die Erörterung der zahlreichen Bibelstellen, die Karlstadt aus den Evangelien und den neutestamentlichen Briefen zum Thema herangezogen hat.


1Diese Predigt Luthers ist nicht erhalten (vgl. WA 59, Predigtübersicht 1510–1521, 342).
2Karlstadt bezieht sich im Brief auf »illi attenti auditores«; vgl. KGK 154 (Textstelle).
3Der Brief beginnt mit »Quaerit Dominatio Tua«. Spalatin könnte Karlstadt seine Frage mündlich oder schriftlich übermittelt haben.
4Vgl Wagen (KGK II, Nr. 120, S. 189, Z. 5) und Auslegung Wagen (KGK II, Nr. 124, S. 249, Z. 14–S. 250, Z. 9).
6Siehe KGK 155.
7Vgl. Karlstadts Exemplar: Petrus Lombardus, Sententiae (1507), ULB Halle: Ig 189.4°, 2. Ex.
8Tauler, Sermones (1508). Von Karlstadt annotiertes Exemplar in der RFB Wittenberg, Bestand Evang. Predigerseminar: fol. HTh 891. Vgl. dazu Hasse, Tauler.
9Vollständiger Titel: Disputatiuncula de taedio, pavore, tristitia Iesu, instante supplicio crucis, deque verbis quibus visus est mortem deprecari: Pater si fieri potest, transeat a me calix iste. Zu dieser Erasmusschrift, die zuerst 1503 im Druck erschien, vgl. die Einleitung von Heath, Debate, 1–8.
10Zu Tauler s. o. KGK 154 (Anmerkung). Aus Karlstadts Bibliothek ist ein von ihm glossierter Sammelband mit Erasmusschriften erhalten, der von Helmut Liersch und Ulrich Bubenheimer in der Bibliothek des Gleim-Hauses Halberstadt (Signatur: C9243) identifiziert wurde. In dem Band sind zwei im Jahr 1516 erschienene Drucke (VD 16 E 2747 und VD 16E 3184) zusammengebunden, die beide jeweils mehrere Erasmusschriften enthalten. Auf dem vorderen Vorsatzblatt (recto) findet sich eine von der Hand Karlstadts geschriebene Notiz über den Erwerb des Bandes: »7 g[rossos] pro libris | 4 g[rossos] compaginatori Ioanni apud Rotam | In die Cecilie anno MDXVII«. Demnach hat Karlstadt den Band am 22. November 1517 bei dem Buchbinder »Johannes apud Rotam« abgeholt. Die von Karlstadt (und einer zweiten unbekannten Hand) intensiv annotierte Disputatiuncula findet sich im ersten Druck des Sammelbandes: Erasmus, Lucubrationes (1516), 123–175.
11Siehe die Nachweise in den nachfolgenden Sachanmerkungen zum Brieftext.

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