Nr. 155
Verschollen: Thesen zu einer Wittenberger Zirkulardisputation
[Wittenberg], [1520, nach 6. April]

Einleitung
Bearbeitet von Ulrich Bubenheimer und Alejandro Zorzin

1. Referenz

Martin Luther berichtet am 28. September 1520 an Günter von Bünau: »De Disputatione sic habet: praesidebat Carlstadius, ego cum caeteris more solito arguebam. Erat tum quaestio, An Christus in passione etiam reluctatus fuisset voluntati patris. petivit enim aufferri calicem1, quod utique est nolle et reluctari. Deinde profecit argumentum, ut nolens possit dici odiens et rebellis, quae ut negabantur, ita nec probabantur. Nihil enim assertum est, sed tantummodo controversum familiariter. […] Quid ergo insaniunt illi homines mendaciis suis dicentes me asseruisse, cum argumentandi ritu oppugnarem dumtaxat, nihil asserens, imo palam confitens, me non intelligere omnia mysteria passionis Christi? Nescio an simul illud Apostoli et alia tractaverimus: ›Eum, qui non novit peccatum, fecit peccatum‹2 et alia quaedam quae Christo peccatum, maledictum, desperationem tribuunt, qualia solet paulus et prophetae, quae cum nondum capiamus, iustum est, ut nihil asseramus. Ego plane de ista materia dolorum Christi nihil unquam publice disputavi, sicut nec scio praeter id argumenti quod supra dixi. Si quis aliud de me dixerit, poteris constanter eum mendacii arguere, teste vel toto auditorio nostro.«3

Literatur:

2. Inhaltliche Hinweise

Günther von Bünau, Domherr in Merseburg4, hatte Luther über Gerüchte informiert, wonach der in einer Disputation eine Behauptung aufgestellt habe, die ihm von unbekannten Kritikern als christologische Ketzerei ausgelegt wurde. Luther weist diesen Vorwurf in seinem Antwortschreiben an Bünau als Lüge zurück und gibt einen kurzen Bericht über die betreffende Disputation. Unter Karlstadts Vorsitz sei über die Frage disputiert worden, ob Christus in der Passion dem Willen seines Vaters widerstrebt habe. Denn nach Mt 26,39 habe er seinen Vater gebeten, ihm den Kelch (des Todes) zu ersparen. Dabei wurde – möglicherweise von Luther – das Argument vorgebracht, Christi Bitte könne als Widerstand gegen den Willen Gottes verstanden werden. Dieses Argument sei weder widerlegt noch als richtig bewiesen worden. Er habe – entsprechend den Ritualen einer Disputation – keine feste Behauptung aufgestellt, sondern nur ein mögliches Argument eingebracht. Vielmehr habe er die Beantwortung der Frage offen gelassen mit dem Bekenntnis, er verstehe nicht alle Geheimnisse der Passion Christi. Luther gibt zu erkennen, dass die aufgeworfene Frage das christologische Dogma, Christus sei ohne Sünde gewesen, in Frage zu stellen schien. Er erinnere sich allerdings nicht mehr, ob in der Disputation auch die paulinische Formel zur Sprache gekommen sei, nach der Gott Christus, der »Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht hat« (2. Kor 5,21).

Die nur aus Luthers Brief bekannte Disputation, für die nach den Regeln jener Zeit Karlstadt als Praeses die – heute verschollenen – Disputationsthesen aufgestellt haben wird, hatte eine Vorgeschichte. Die in jener Disputation thematisierte Problematik war von Karlstadt bereits in einem am Karfreitag (6. April 1520) geschriebenen Brief an Georg Spalatin ausführlich erörtert worden.5 Anlass für diesen Brief Karlstadts war eine Anfrage Spalatins, die ihrerseits ausgelöst worden war durch eine am selben Tag gehaltene Passionspredigt Luthers, die nicht überliefert ist. Karlstadt stellte sich gegenüber Spalatin hinter Luther: »[…] die Aussage Christi und die seines Predigers Martin, meines sehr gelieben Bruders, die heute in der Kirche verkündet wurde war klar«.6Spalatin wollte nach Luthers Predigt Karlstadts Verständnis von Mt 26,39 erfahren. Karlstadt gibt Spalatins Problemanzeige folgendermaßen wieder: »Christus, der, so sagst Du [näml. Spalatin], keine Sünde begangen hat […], hatte [nach Mt 26,39] einen anderen Willen als sein Vater, der gerechte Gott«.

Für die Beantwortung der in diesem Satz implizierten Rückfrage nach der Sündlosigkeit Christi konnte Karlstadt sowohl auf die verschollenen Explicationes7 zu seinen 151 Conclusiones8 als auch auf seinen Augustinkommentar9 zurückgreifen. In Kapitel 1 von »De spiritu et littera« war Augustin auf die Sündlosigkeit Christi zu sprechen gekommen. Christus habe in seinem Leiden das Menschliche durchlitten »in similitudine carnis peccati«10 (»in Ähnlichkeit des sündigen Fleisches«), womit Augustin eine Formulierung aus Röm 8,3 aufgriff. Diese Formel hat Karlstadt in seinem gedruckten Augustinkommentar eingehend interpretiert11 und seine Ausführungen in der Vorlesung in der Distinktion zusammengefasst, Christus habe gelitten in similitudine, jedoch nicht in proprietate (»in Eigentlichkeit«) des sündigen Fleisches.12 In seinem Brief an Spalatin geht Karlstadt über diese Distinktion hinaus. Einerseits spitzt er sie noch zu in der Aussage, Christus habe »similitudinem carnis peccati« angenommen, nicht jedoch »veritatem« der Sünde.13 Andererseits sagt er, Christus habe sich die menschliche Schwachheit »zu eigen gemacht« (suam propriam fecit), um allerdings sogleich klarzustellen: »Es war unsere Schwachheit, nicht diejenige Christi«.14 Möglicherweise hatte Karlstadt an dieser Stelle eine Aussage aus Luthers Predigt übernommen, denn er fuhr im brieflichen Dialog mit Spalatin fort: »Du weißt, dass mir Martins Predigt gefällt«.15

Karlstadt selbst stufte seine spannungsreichen Ausführungen als vorläufig ein und schloss mit der Feststellung, er meine nicht, den Knoten durchschnitten zu haben, und bot an, bei Bedarf weitere Erörterungen der Problematik folgen zu lassen.16 Er verfolgte die Thematik dann in einer Disputation weiter, an der auch Luther teilnahm. Dieser betonte in seinem Bericht über die Disputation, er habe die ihm von seinen Kritikern angelastete Behauptung nicht »öffentlich (publice) gemacht«, sondern in einer Disputation, in der »familiariter« disputiert worden sei.17 Damit schließt er aus, dass es sich um eine der feierlichen öffentlichen Disputationen gehandelt habe, zu denen auch Gäste eingeladen wurden und die die Professoren nach den Fakultätsstatuten mindestens einmal im Jahr abhalten sollten.18

Da der Inhalt von Luthers Predigt ein Diskussionsgegenstand geworden war, wie die Anfrage Spalatins bei Karlstadt und Karlstadts Antwort zeigt, kann vermutet werden, dass Karlstadt eine der wöchentlichen Zirkulardisputationen für die Disputation über die aktuelle Thematik genutzt hat. Dafür spricht auch eine nicht näher erforschte Verbindung zwischen Predigt- und Disputationswesen, die man in jenen Jahren in Wittenberg beobachten kann. So bezieht sich zum Beispiel Johannes Dölsch zu Beginn einer undatierten, für eine Zirkulardisputation bestimmten Thesenreihe in der ersten These explizit auf das Evangelium des der Disputation vorhergehenden Sonntags.19 Dabei zitiert er aus dem Evangelientext Lk 11,14–28, dem Evangelium für den Sonntag Oculi, was die Datierung der Disputation auf einen Freitag nach dem Sonntag Oculi ermöglicht. Eine überwiegend lateinisch überlieferte Predigt Karlstadts vom 2. Februar 1518 über das Evangelium von Mariä Lichtmess endet mit einigen Sätzen, die mit »Conclusiones« überschrieben sind20, was auch auf die Verbindung mit einer beabsichtigten Disputation hindeuten könnte. In unserem Fall war die Disputation, der Karlstadt präsidierte, inhaltlich verbunden mit Luthers Predigt an Karfreitag 1520.


1Vgl. Mt 26,39 Vg »Pater mi, si possibile est, transeat a me calix iste, verumtamen non sicut ego volo, sed sicut tu«.
2Vgl. 2. Kor 5,21 Vg »Eum qui non noverat peccatum, pro nobis peccatum fecit […].«
3WA.B 2, 187,6–23, Nr. 338.
4* ca. 1485–1547; zu ihm MBW 11, Personen A–E, 239.
5Vgl. KGK 154.
7Zu diesen s. KGK I.1, Nr. 62, S. 531f.
8Karlstadt sagt im Augustinkommentar, dass er in den Explicationes zur These 139 die von Augustin tradierte Regel, dass bei Christus und seiner Mutter Maria nicht von Sünde gesprochen werde dürfe, begründet habe (KGK I.2, Nr. 64, S. 572, Z. 11–20). Zur 139. These der 151 Conclusiones s. KGK I.1, Nr. 58, S. 510, Z. 39.
9KGK I.2, Nr. 64.
10KGK I.2, Nr. 64, S. 570, Z.8–10.
11KGK I.2, Nr. 64, S. 573, Z. 20–S. 578, Z. 12.
12Hsl. Randglosse im Exemplar der UB Heidelberg von Karlstadts Augustinkommentar, fol. A5v: »Nota textum In similitudine carnis peccati/ et non in proprietate carnis«. Entsprechend in den Exemplaren der UB Clausthal-Zellerfeld und der KB Kopenhagen. Zu den Exemplaren von Karlstadts Augustinkommentar mit studentischen Nachschriften s. KGK I.2, Nr. 64, S. 539–546.
17In den Statuten der theologischen Fakultät wird der Begriff »familiariter« in Bezug auf Disputationen nicht gebraucht.
18Die Statuten der theologischen Fakultät unterscheiden in c. 9 (»De officio theologorum«) zwischen (1) den öffentlichen, feierlichen Disputationsakten, (2) den Zirkulardisputationen und (3) den Prüfungsdisputationen (Kursivauszeichnung von den Bearbeitern): »quilibet magister preter examinatoriam publice, solenniter et ordinarie in anno semel disputet, circulariter autem disputent magistri omnes secundum eorum ordinem singulis sextis feriis […]. Examinatorie autem disputaciones habeantur sextis feriis […]« (UUW 1, 37).
19Die Thesenreihe, überschrieben »Alia: [scil. disputatio circularis] Iohan[nis] Doelicij:«, beginnt mit folgenden Thesen: »1. Quod deus superbis resistat humilibusque det gratiam. [e]vangel[ium] currentis dominice factum est nobis documento: 2. Nam cum euangelicus mutus. a domino mirabiliter curatur. turbe admirantur. feminaque in domini laudem vocem extollit:«, hier zitiert aus dem Exemplar in SB Berlin: Ms. theol. lat. oct. 91, fol. 74r. Vgl. die Edition von Kolde, Disputationsthesen, 467. Im Lichte der theologischen Laufbahn Dölschs hat Kolde die Thesenreihe auf Oculi (8. März 1522) datiert.
20KGK I.2, Nr. 67, S. 734, Z. 1–7.

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