1. Überlieferung
Handschrift:
zeitgenössische Abschrift unbekannter Hand.
Die Thesenreihe ist in der handschriftlichen Thesensammlung aus dem Besitz des Breslauer Reformators Johannes Hess1 überliefert.2Hess hat die Hauptbegriffe lex factorum (These 1) und lex fidei (These 6) unterstrichen und diese Begriffe am unteren Rand von fol. 76v in einem Schema herausgehoben. Die Thesenreihe befindet sich im dritten Teil der Thesensammlung, in der der Schreiber elf Thesenreihen für Zirkulardisputationen zusammengestellt hat3. In diesem Teil gehen der vorliegenden Thesenreihe zunächst acht Thesenreihen für Zirkulardisputationen voraus (von Justus Jonas 1, Johann Dölsch 4, Johann Briesmann 3), gefolgt an neunter Stelle von sieben Thesen Karlstadts über den Zölibat (20./21. Juni 1521)4. Ein Verfassername fehlt sowohl bei den Zölibatsthesen als auch bei der folgenden zehnten Thesenreihe, die hier Karlstadt zugewiesen und ediert wird. Sie trägt lediglich die Überschrift: »Alia Posicio Circularis«. Auf sie folgt abschließend noch eine weitere Thesenreihe des Justus Jonas.
Edition:
- Kolde, Disputationsthesen, 471, Nr. XXII.
2. Inhalt und Entstehung
Die aus dem Römerbrief (Röm 9,27) stammenden Hauptbegriffe dieser Thesenreihe, lex factorum (»Gesetz der Taten«) und lex fidei (»Gesetz des Glaubens«) hat der Verfasser dieser Thesenreihe über die Augustinschrift De spiritu et littera aufgegriffen5. Karlstadt ging in seinem gedruckten Kommentar zu dieser Schrift in c. 10 und am Anfang von c. 11 auf die von Augustin diskutierte Bedeutung jener paulinischen Begriffe ausführlich ein6. Ferner hat er am Schluss seines Augustinkommentars, dessen Druckfassung mit Kapitel 12 endet, im Kontext eines Vorblicks auf die von ihm geplante Fortsetzung des Kommentars mitgeteilt, dass er im »zweiten Teil« der Augustinschrift, nämlich zu den Kapiteln 13–177, die der Unterscheidung von lex factorum und lex fidei gewidmet sind, auf das Thema zurückkommen werde8. In der vorliegenden Thesenreihe finden sich inhaltliche Bezüge sowohl zu den genannten Augustintexten als auch zu Karlstadts darauf bezogenem Kommentar. In diesem Licht liegt es nahe, Karlstadt als Verfasser des anonym als Thesenreihe für eine Wittenberger Zirkulardisputation überlieferten Textes zu betrachten. Ergänzend kann darauf aufmerksam gemacht werden, dass vorliegende Thesenreihe in der handschriftlichen Überlieferung auf Karlstadts sieben Thesen De coelibatu presbyterorum folgt. Der Ersteditor des vorliegenden Textes, Theodor Kolde, hat ohne Anführung von Argumenten die Frage aufgeworfen, ob Johannes Dölsch der Verfasser der Thesen sein könnte9. Dichte inhaltliche Bezüge der Thesen zu den erhaltenen Texten Dölschs ließen sich jedoch nicht nachweisen. Näher läge es, als möglichen Verfasser auch Martin Luther in Erwägung zu ziehen, da er sich ebenfalls intensiv mit AugustinsDe spiritu et littera befasst hatte. Doch ist die Thesenreihe in keiner der ab 1530 erschienenen Sammelausgaben von Luthers Thesenreihen10, an deren Herausgabe Luther beteiligt war, enthalten. Zudem existiert von Luther eine andere Thesenreihe aus dem Jahr 1519, in der die Unterscheidung von lex factorum und lex fidei thematisiert wird11.
Karlstadts Vorlesung über c. 10 und 11 von De spiritu et littera dürfte zwischen Januar und März 1519 stattgefunden haben. Die Zirkulardisputation über lex factorum und lex fidei wird der Einübung dieses Stoffes in Verbindung mit Karlstadts Vorlesung gedient haben. Die Konzeption von Karlstadts Einblattdrucken Currus bzw. Wagen ist von De spiritu et littera c. 10 angeregt worden. Hypothetisch wird daher vorgeschlagen, vorliegende Thesenreihe, die ebenfalls von c. 10 jener Augustinschrift inspiriert ist, chronologisch hinter die Einblattdrucke einzuordnen.
In der vorliegenden Thesenreihe, in der das Verhältnis des Gesetzes der Werke zum Gesetz des Glaubens bestimmt wird, reflektierte Karlstadt die Position weiter, die er in den 151 Conclusiones vom 26. April 1517 zur Diskussion gestellt hatte12. Die Thesenreihe für die Zirkulardisputation eröffnete er mit der allgemeinen Feststellung, dass das Gesetz der Werke keineswegs nur im Judentum Geltung habe (Th. 1). In den 151 Conclusiones hatte er ausgeführt: »Das alte Gesetz enthielt solche Gebote der Gerechtigkeit, deren Einhaltung uns auch jetzt geboten ist.« (Th. 10813). Dazu hatte Karlstadt die Gebote des Dekalogs mit ausdrücklicher Ausnahme des Sabbatgebots genannt (Th. 10114). Für die Christen gelte allerdings auch das Gesetz des Neuen Testaments, wofür Karlstadt das höchste Gebot der Gottes- und Nächstenliebe nach Mt 22,37–39 angeführt hatte (Th. 10215). Diese Sicht gipfelte 1517 in dem Satz: »Das geschriebene Gesetz des Evangeliums ist alt« (Th. 10916). Damit ist nach Karlstadt das Gesetz Gottes, soweit es im biblischen Kanon enthalten ist, für die Christen verbindlich unabhängig davon, ob es im Alten oder im Neuen Testament überliefert ist. Dem Buchstaben nach sind Gottes Gebote unerfüllbar, nur mit dem Geschenk des Heiligen Geistes können sie erfüllt werden (151 Conclusiones, Th. 105f. mit 141f.17). Deshalb kann Karlstadt sagen: Das »Gesetz des Glaubens ist die Mutter der guten Werke und Taten« (Zirkulardisputation Th. 7), und insofern könne man das »Gesetz des Glaubens« auch als »geistliches Gesetz der Taten« bezeichnen (Th. 6).
Beide Thesenreihen Karlstadts, die 151
Conclusiones18 wie die vorliegende Zirkulardisputation, zeigen, wie er die
Beziehung zwischen Buchstabe und Geist, Gesetz und Evangelium, Werke und
Glaube systematisch reflektiert hat. Dass er mit diesen Bemühungen Glied der
Diskussionsgemeinschaft an der Universität Wittenberg war, zeigt
der Vergleich mit einer bislang nicht im Horizont der internen Wittenberger
Diskussionen interpretierten Thesenreihe Luthers, die ins Jahr 1519 datiert ist19 und in der ebenfalls
die paulinische Unterscheidung von lex factorum und
lex fidei erörtert wird20. Im Ergebnis ist Luther mit Karlstadt einig: »Denn was durch das
Gesetz der Taten unmöglich war, wurde möglich gemacht im Gesetz des
Glaubens.«21 Doch gibt es einen Unterschied in der Argumentation der beiden: Karlstadt hatte in den 151 Conclusiones die Unterscheidung von lex factorum und lex fidei
in einem Paradox zugespitzt:
Luther wollte diese dialektische Argumentation zwar vermeiden: »Non ideo sequitur, Deum impossibilia mandasse.«23, räumte jedoch mit seiner Schlussthese die Schwierigkeit ein, die die erörterte Thematik bereitete: »Christus also sei der Ruhm, uns die Verwirrung.«24