von Thomas Kaufmann
In der Geschichte der frühen Reformation kommt dem Jahr 1522 eine besondere Bedeutung zu. Denn die dynamische Entwicklung der Wittenberger Reformen, die in Abwesenheit Luthers vorangegangen waren, fand mit dessen Rückkehr von der Wartburg ein jähes Ende. Karlstadt, der sich als einziger der Exponenten der sogenannten Wittenberger Bewegung einer Unterwerfung unter Luthers Führungsanspruch versagte, geriet zusehends in Isolation und suchte immer deutlicher nach alternativen Betätigungsmöglichkeiten außerhalb der kursächsischen Universitätsstadt. Wie in keinem der vorangegangenen Jahre klaffen im Textmaterial in einigen Phasen dieses Jahres, vor allem zwischen Frühjahr und Herbst, erhebliche Überlieferungslücken.
In und um Wittenberg wurden im Sommer 1521 die ersten Priesterehen geschlossen – und Karlstadt war einer der frühesten und wirkungsreichsten Apologeten dieses Aktes, der den Bruch mit dem kanonischen Recht symbolisierte wie kaum ein zweiter. In einer in sieben Drucken verbreiteten Beschützrede für Bernhardi (KGK 213), die zum Teil unabhängig voneinander entstandene deutsche Versionen der lateinischen Apologia Bernhardi () vom Spätjahr 1521 darstellten, wurde die Priesterehe verteidigt. Im Text selbst rechtfertigte Bernhardi seine Eheschließung unter Rekurs auf Paulus; das kanonische Recht sei nicht bindend, da die Heilige Schrift die Ehe vorsehe, sofern jemand nicht über die Gabe der Keuschheit verfüge. Der Brisanz des Themas entsprach eine komplexe, auch handschriftliche Überlieferungslage, so dass kursierende Manuskripte die Grundlage auch der Überlieferung der gedruckten Texte bildeten. Unter den dem Wittenberger Druck beigegebenen historischen Quellen der mittelalterlichen deutschen Geschichte befinden sich insbesondere solche, die den Zölibat infrage stellen. Dabei zog die Wittenberger Publizistik auch die Zölibatskritik des Erasmus in ihr Kalkül. Dass neben Karlstadt auch andere Wittenberger Akteure an dieser Kompilation beteiligt waren, besitzt größte Wahrscheinlichkeit. Drei Ausgaben (Speyer, Straßburg, Augsburg) dürften auf eine dem Urtext nahestehende handschriftliche Version zurückgehen. Die deutschen Ausgaben aus Colmar und Straßburg entstammen einer eigenen lateinischen Straßburger Texttradition. Die maßgeblichen Adressaten der Verteidigungsrede des angeklagten Priesters Bernhardi sind die Laien. Das Netzwerk an Druckern, das die deutsche Beschützrede für Bernhardi verbreitete – Maler in Erfurt, Prüß in Straßburg, Eckhart in Speyer, Farckall in Colmar und Ramminger in Augsburg – war auch bei anderen Schriften Karlstadts aktiv.
Bernhardi verteidigte sich konsequent mittels biblischer Argumente, wandte also das Schriftprinzip an; die Ehe sei Klerikern und Laien gleichermaßen geboten. Auch der Kampf gegen die repressive Kirchenhierarchie, die die Priester zum Zölibat zwingt, wird vor allem mit biblischen Waffen, aber auch solchen des kanonischen Rechts, bestritten. Aus der Nauklerschen Chronik beigefügtes historisches Material bezeugt, dass die Zölibatspolitik des gregorianischen Reformpapsttums eine Neuerung darstellte, die nur gegen massive Widerstände durchgesetzt werden konnte. Die Quellen dokumentieren, dass sich aus dem päpstlichen Verbot, Sakramente von »nikolaitischen« Priestern zu empfangen, aufruhrartige Konfliktszenarien ergaben. In ihren diversen Kompilationsformaten bildeten die Drucke der Überlieferung der Beschützrede für Bernhardi ein materialreiches Informationsmedium zu allen möglichen Fragen der Priesterehe und ihrer Fraglichkeit; zwischen 1522 und 1524 fanden sie in der Flugschriftenpublizistik breite Aufmerksamkeit.
Auch Karlstadts persönlicher Entscheidung zur Eheschließung, die in gewisser Weise aus seinem vielfältigen einschlägigen publizistischen Engagement in der Sache (vgl. KGK IV, Nr. 181, 185, 189, 190, 203 u. 211) folgte, wurde erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Eine in sechs nicht-firmierten Drucken erschienene Schrift (KGK 215) ließ ihn als Vorbild erscheinen, um Mönche und Priester zum Bruch des Keuschheitsgelübdes zu ermutigen. Die Schrift enthielt die öffentliche Bekanntmachung seiner Verlobung mit Anna von Mochau und die öffentliche Einladung zu seiner Hochzeit und kann als Parteinahme zu der auch im Augustinerkloster diskutierten Frage der Legitimität eines Gelübdebruchs gedeutet werden. Ob Karlstadt mit dem zuerst in Erfurt erschienenen Druck der Schrift verbunden war, ist freilich unklar. Dass die Beschlüsse, die die Augustinereremiten am 6. Januar 1522 verabschiedet hatten, wegen der Ermöglichung des Klosteraustritts in die Publikation aufgenommen wurden, deutet wohl auf Johannes Langs Beteiligung an der Drucklegung hin. Karlstadts Eheschließung erscheint in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Ordensgenossen Luthers. Durch diesen publizistischen Kontext erhielt Karlstadts Hochzeit überregionale Aufmerksamkeit. Dem Druck sind detaillierte Informationen über die Geschicke ausgetretener Mönche zu entnehmen. Bei der fingierten, hier nicht edierten Brautmesse zu Karlstadts Hochzeit dürfte es sich um einen studentischen Scherz handeln. Dass Karlstadt den Kurfürsten persönlich zu seiner Hochzeit einlud (KGK 216), unterstreicht, wie ernst es ihm um den Öffentlichkeitscharakter dieser Handlung war. Sie sollte eine biblische Lebensform reinstallieren und so die Umgestaltung der Kirche vorantreiben.
In einer Disputation widmete sich Karlstadt dem Jubel- oder Erlassjahr (KGK 214). Sie hängt thematisch eng mit der auch in der Bilderschrift behandelten Armenfürsorge zusammen (KGK 219) und wird in den Januar 1522 zu datieren sein. Aus den mosaischen Bestimmungen zum Erlassjahr folgert Karlstadt, dass ein Christ seinem bedürftigen Bruder jederzeit Unterstützung durch zinslose Leihe zu Teil werden lassen soll. Im Fall wirtschaftlicher Gesundung sind die Schuldner zur Zurückzahlung verpflichtet und können dazu von der städtischen Obrigkeit gezwungen werden.
Einige der Editionseinheiten betreffen die mit der reformatorischen Stadtordnung vom 24. Januar 1522 (Beilage zu KGK 219) verbundenen politischen Verwicklungen und weitergehenden Impulse, zu denen nicht zuletzt Karlstadts Schrift zur Bilderfrage (KGK 219) gehörte. Dass Karlstadt als maßgeblicher Mitverfasser der Stadtordnung zu gelten hat, ist seit jeher bekannt. Nachdem der kurfürstliche Rat Hugold von Einsiedel von den Vorgängen in Wittenberg Kenntnis erhalten hatte, nahm er insbesondere an den Predigten der als Agents provocateurs verdächtigen Gabriel Zwilling und Karlstadt Anstoß. Einsiedel forderte deshalb Karlstadt direkt in einem Brief auf, seine aufrührerischen Predigten, zu denen er von Amts wegen nicht befugt sei, zu unterlassen (KGK 217). Aus der Sicht reformkritischer Stimmen stellt sich die Lage in Wittenberg Anfang 1522 in der Tat als brisant dar: Es war zu Bildentfernungen gekommen; die Laien kommunizierten sub utraque; Sondermessen waren abgeschafft worden, ebenso die Beichte. Und Karlstadt schien mit all diesen Entwicklungen engstens verbunden zu sein. Dennoch sollte man seine Haltung nicht zu sehr von derjenigen Melanchthons abrücken. In seiner Antwort (KGK 218) insistierte Karlstadt gegenüber Einsiedel auf der Notwendigkeit, sich bei der Frage der Gestaltung des Gottesdienstes allein an die Schrift zu halten. Aufruhr zu predigen, ja zur Predigt nicht berechtigt zu sein, wies Karlstadt unter Verweis auf sein Archidiakonat nachdrücklich zurück.
Karlstadts Bilderschrift (KGK 219) ist sein bis heute wohl bekanntester, für sein Image als »Bilderstürmer« wirkungsreichster Text. Er veröffentlichte ihn wenige Tage nach der Verabschiedung der Stadtordnung, um zwei der darin behandelten Themen – die Neuordnung des Bettels und die Abschaffung der Bilder – ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und forciert umzusetzen. Da die Wittenberger Ordnung außerhalb der Stadt und zwar anonym in Augsburg, Speyer und Bamberg gedruckt wurde, musste Karlstadt einer breiteren Öffentlichkeit als einziger oder doch als der maßgebliche Bilderfeind der Wittenberger Reformation erscheinen. Die Bilder der Heiligen, die »Ölgötzen«, Skulpturen und Gemälde auf den Altären gefährden nach Karlstadt die im 1. Gebot geforderte Monolatrie; nach Maßgabe der Heiligen Schrift seien sie abzuschaffen. Auch Frömmigkeitspraktiken wie Votivgaben oder Wallfahrten seien zutiefst mit Bilderverehrung verbunden und deshalb durch geordnete Maßnahmen der weltlichen Obrigkeit abzuschaffen. Durch die Bildentfernung könnten auch die obsessiven inneren Bilder, von denen besetzt zu sein Karlstadt selbst bekennt, überwunden werden. Unter Christen solle es keine Bettler geben; deshalb solle es eine prospektive Absicherung des Lebensunterhalts der in Not geratenen Bürger der eigenen Stadt geben. Die Verteilung der Spenden solle in der Hand des Stadtrates liegen; da für einen Christen alle Zeit ein Jubeljahr sei, seien Gaben für Bedürftige nicht zurückzufordern. Karlstadts Impulse bezüglich der Neuordnung der Armenfürsorge dürften erheblich gewesen sein. Der innere Zusammenhang der Bilder- und der Armenthematik bestand in der Umwidmung von Mitteln insbesondere der Bruderschaften zugunsten karitativer Verantwortung. Dass darin erhebliches Konfliktpotential liegen sollte, zeigte die weitere Entwicklung in Wittenberg und auch außerhalb Sachsens. In Bezug auf die Ordnung der Stadt Wittenberg (Beilage KGK 219), die als eine der ersten reformatorischen Kirchenordnungen überhaupt gelten kann, wird gründlicher als bisher zu fragen sein, inwiefern sie in ihrer publizierten Form gegebenenfalls andernorts modellbildend wirksam geworden ist, auch wenn Luther nach seiner Rückkehr nach Wittenberg ihrer Geltung entgegentrat.
Seit Dezember 1521 befand sich Wittenberg verstärkt im Visier der kurfürstlichen Administration. Sie nahm Anstoß an den unterschiedlichen Positionen, die Vertreter des Stiftes und der Universität zu den drängenden Fragen der Gottesdienstreformen einnahmen. In einem von Einsiedel aufgesetzten Memorandum (vor 13. Februar 1522; KGK 220) wird die Position des Hofes deutlich: von sichtbaren Veränderungen sei abzusehen; allenfalls Disputationen könnten über mögliche Reformen durchgeführt werden; Aufruhr sei zu vermeiden. Karlstadt wird als Ursache plötzlicher und unzeitiger, die »Schwachen« nicht schonender Veränderungen identifiziert und inkriminiert, womit Luthers Verhaltensweisen nach seiner Rückkehr quasi prädisponiert waren.
Die Beratungen der Vertreter der Universität mit den kurfürstlichen Räten in Eilenburg am 13. Februar 1522 (KGK 221), an denen Karlstadt teilnahm, bestätigten gegen das Allerheiligenstift im Wesentlichen den mit der Stadtordnung eingeschlagenen Weg und zielten auf eine einheitliche Messpraxis, eine Neuordnung des Bettels sowie eine obrigkeitlich initiierte und überwachte Bildentfernung ab. Hinsichtlich des Ritus der Messe (KGK 222) galten den Wittenberger Professoren die deutschen Einsetzungsworte, die Deutung des Abendmahls als Erinnerungsakt und der Verzicht auf die Elevation als essentiell. Sollte die Darreichung des »Sacraments« im Sinne der communio sub utraque zu verstehen sein, hätte Karlstadt zu diesem Zeitpunkt in allen wesentlichen Aspekten seines Abendmahlsverständnisses die Zustimmung Jonas', Amsdorfs und Melanchthons besessen. Die Räte aber bestanden offenbar darauf, die Änderungen weitgehend rückgängig zu machen und setzten eine entsprechende Messordnung für die Stadtkirche auf (KGK 223). Freilich wurde auf den Canon Missae verzichtet und die deutschen Einsetzungsworte gesichert; die Elevation sei lediglich ein »Zeichen«, aber dennoch beizubehalten; die zentrale Bedeutung des Wortes wurde aufgenommen.
Karlstadts Auslegung des Propheten Maleachi (KGK 224), deren Widmungsbrief auf den 18. Februar 1522 datiert ist, legt dessen Verständnis eines allgemeinen Priestertums aller Christen erstmals umfassend dar. Wie Maleachi, ein einfacher Mann aus dem Volk, von Gott zum Predigtdienst berufen sei, sei dies jeder Christ bzw. Hausvater, der vor Familie und Gesinde das Gotteswort auslegen solle. Dass der Papst sich als privilegierter Schriftausleger begreife, widerspreche der Ordnung Gottes. Wenn Gott einem erwählten Verkündiger sein Wort in den Mund lege, trete das, was ein Mensch von sich aus zu sagen habe, immer deutlicher in den Hintergrund. Wohl erstmals hier entfaltete Karlstadt seine Vorstellung einer unmittelbaren Geistbegabung der Laien, die gemeinhin als »spiritualistisch« bezeichnet und später von Luther massiv attackiert wurde. Mit Maleachi gilt es, die biblischen Gesetze zu beachten und also auch die soeben erst in Wittenberg durchgesetzte Kultreform nach Maßgabe der Bibel zu akzeptieren. Die römische Geistlichkeit weist Karlstadt scharf wegen ihrer Entmündigung der von der Bibel ferngehaltenen Laien zurück. Die Auslegung vermittelt einen interessanten Eindruck von Karlstadts Versuch, den Gehalt biblischer Texte der nicht-gelehrten Bevölkerung Wittenbergs nahezubringen, wie er es auch in einer bezeugten, aber nicht überlieferten volkssprachlichen Auslegung des Deuteronomiums betrieb. Die offenbar intensiven Verbindungen nach Joachimsthal dürften damit zusammenhängen, dass sich Karlstadt dort analoge Reformprozesse wie in Wittenberg erhoffte. Die Gabe des göttlichen Wortes vermittelt Gelassenheit (s. auch ). Die Maleachi-Auslegung ist das letzte eindeutig vor Luthers Rückkehr nach Wittenberg am 6. März 1522 zu datierende Zeugnis Karlstadts.
Die 47 Thesen über das Geschick wandernder Seelen (KGK 225) sind anonym überliefert und in ihrer Zuschreibung an Karlstadt umstritten. Möglicherweise spiegeln sie die Virulenz des Themas der verstorbenen Seelen nach dem Tod in der Wittenberger Diskussionslage des Jahres 1521/22. Die Kernaussage der Thesen, dass jedweder Verkehr mit der Seele eines Verstorbenen ausgeschlossen sei, dürfte Gemeingut der Wittenberger Theologen gewesen sein. Nach dem Tod gehe die Seele unmittelbar in Himmel oder Hölle ein; der Zwischenort des Fegefeuers ist damit abgelehnt. Dies entspricht nicht der Lehre von Karlstadts auf den Herbst 1522 zu datierendem Sermon vom Fegefeuer (KGK 233). Doch möglicherweise liegt hier eine Art Vorstudie vor, die im Kontext der Gattung Disputation bestimmte Ideen zuspitzte.
In einem Brief an Hektor Pömer in Nürnberg gab Karlstadt eine interessante Einschätzung der mit Luthers Rückkehr nach Wittenberg eingetretenen Entwicklungen (KGK 226). Er konnte sich Luthers Ablehnung der Wittenberger Reformen, in denen er selbst eine Umsetzung gemeinsamer Vorstellungen sah, schlechterdings nicht erklären. In falsch verstandener Rücksicht auf die sogenannten Schwachen werde Luther sich selbst untreu, ja verrate ihre gemeinsame Sache. Dass Luther im Zusammenhang des Messritus Dinge zu ertragen bereit sei, die er selbst als blasphemisch bezeichnet habe, war für Karlstadt unerträglich. Deshalb fürchtete er den Zorn Gottes. Luthers öffentliche Positionierung gegen wesentliche Teile der seit Herbst 1521 durchgeführten Wittenberger Reformen, die Karlstadt umso mehr isolierte, je länger er sie vertrat – alle anderen Mitreformer (Melanchthon, Jonas, Amsdorf, Zwilling) unterwarfen sich dem Rückkehrer – bildet den Nukleus einer fundamentalen und tiefgreifenden Spaltung der Wittenberger Reformation, deren Folgen für die reformatorischen Entwicklungen im Reich und in Europa unübersehbar waren. Bis zu seiner Ausweisung aus Sachsen im Herbst 1524 war Karlstadt der wichtigste Repräsentant eines alternativen und konkurrierenden Reformationskonzepts in Sachsen.
Dass sich Karlstadts Situation in Wittenberg nach der Rückkehr Luthers zusehends als schwierig darstellte, zeigte sich vielleicht zuerst daran, dass seine gegen Emser gerichtete Schrift über die Heiligenverehrung der Wittenberger Universitätszensur anheimfiel (KGK 228). Offenbar hatte Karlstadt in dieser verschollenen Schrift auf Emsers Kritik an seiner Bilderschrift repliziert. Eine gegen den Leipziger Theologieprofessor Hieronymus Dungersheim gerichtete Schrift über die Messe (KGK 227) fiel ebenfalls der Universitätszensur zum Opfer; Teile des Inhalts haben sich allerdings in Form eines Exzerpts erhalten, mittels dessen der Kurfürst durch Rektor und Senat der Universität über Karlstadts Schrift informiert worden ist. Offenbar waren bereits sieben Bögen der Schrift gedruckt, als die Zensur griff. 28 Seiten waren zum Zeitpunkt der Konfiskation noch handschriftlich erhalten. Karlstadt hatte offenbar den Druck weiterbetrieben, obwohl die Vorzensurkommission dagegen entschieden hatte. Die Kontrolle der Drucker, denen fortan untersagt war, Unzensiertes zu drucken, übernahm der Wittenberger Stadtrat. Anlass für die Polemik gegen Dungersheim war dessen Teilnahme an einer Visitation, die der Bischof von Meißen Anfang April 1522 auf kursächsischem Gebiet durchführen ließ, um jeglichen reformatorischen Neuerungen entgegenzutreten. Im Kern ging es in Karlstadts Schrift um die Einrichtung einer biblischen Gottesdienst- bzw. Abendmahlsordnung und die Abschaffung der Beichte vor der Kommunion. Interessanterweise betrachtete der Kurfürst die Zensur als Angelegenheit der Universität und ließ keinerlei Tendenz erkennen, dieses Institut in seine eigene Vollmacht zu bringen. Der Grund für eine Zensur dieser Karlstadtschrift wird darin bestanden haben, dass er hier seine Vorstellungen einer angemessenen Abendmahlsgestaltung besonders ausführlich und prägnant dargestellt hatte. Vermutlich bedeutete Karlstadts Angriff auf Dungersheim eine indirekte, implizite Invektive gegen Luther, der wesentliche Elemente der Wittenberger Gottesdienstreform (obligatorische Nießung unter beiderlei Gestalt; Abschaffung lateinischer Texte und Gesänge; Preisgabe des Messgewandes) wiederhergestellt hatte.
Eine dritte kontroverstheologische Schrift, die abermals gegen Ochsenfart gerichtet war, gelangte in einen Wittenberger Druck (KGK 229). In dieser Bitte an Ochsenfart möglicherweise eine revidierte Version der konfiszierten Schrift zu sehen, erscheint nicht unangemessen. Aussagen zur Abschaffung der Bilder und der Elevation vermeidet er darin allerdings. Karlstadt richtet sich gegen Predigten Ochsenfarts; er legt in moderaterem Ton die Grundlagen seines Verständnisses der Messreform dar und verficht das Schriftprinzip. Dieser Vorgang dürfte zeigen, dass Karlstadt auch nach Luthers Rückkehr nicht jede publizistische Wirkungsmöglichkeit verwehrt war. Möglicherweise verrät auch eine Information Luthers über Karlstadts Korrespondenz (KGK 230), dass der Kontakt zwischen beiden führenden Exponenten der Wittenberger Reformation noch nicht völlig abgerissen war.
Aus Karlstadts Lehrtätigkeit des Jahres 1522 ist kaum mehr als seine in handschriftlichen Aufzeichnungen Johannes Bugenhagens fragmentarisch überlieferte Jeremia-Vorlesung bekannt (KGK 231). Für Karlstadts Sicht auf das Jeremiabuch scheint die doppelte Struktur von Heilsverheißung und Strafandrohung charakteristisch. Der Prophet ist von Gott für seinen Dienst erwählt und aus der Menge ausgesondert. Gott redet sein Wort unmittelbar durch ihn. Gott straft sein untreues Volk; um schlimme Sünden zu verhindern, müssten Bilder entfernt werden. Der Kampf gegen die eigenen Begierden sei das Fegefeuer des menschlichen Lebens. Die Auserwählten sind von Gott geliebt und umsorgt und werden durch das Opfer seines Sohnes zum Heil geführt. Polemik gegen Schriftgelehrte und Priester, die die göttliche Lehre vernachlässigen, schließt Karlstadts fragmentarische Überlieferung Bugenhagens im Zuge der Kommentierung von Jer 2 ab.
Ende September 1522 hielt Karlstadt eine von Stephan Roth mitgeschriebene Predigt in Joachimsthal (KGK 232), ein Ort, an dem er möglicherweise eine Pfarrstelle oder eine Führungsrolle bei den reformatorischen Entwicklungen zu übernehmen hoffte. Die Bezüge zwischen Wittenberg und Joachimsthal, aber auch zwischen Karlstadt, etlichen Joachimsthaler Bürgern und den Herren von Schlick waren eng; inhaltliche Bezüge zu der Elbogener Kirchenordnung von 1522 sind evident. Der Predigt lag Mt 18,1–10 zugrunde. Aus Anlass des Michaelisfestes argumentierte Karlstadt gegen die Verehrung von Engeln um der Gottesmonolatrie willen. Festtage seien allein zur Verehrung Gottes und der Erholung der Menschen zu nutzen. Christen sollen gelassen werden, d. h. allen menschlichen Willen und alles Begehren abtöten und sich klein machen wie die Kinder; sie sollen den Armen und Notleidenden leben. In der Joachimsthaler Predigt macht sich verstärkt mystische Terminologie geltend, die ab 1523 in Karlstadts Schriften dominierend hervortreten wird. Da diese Predigt für den Zeitraum zwischen Mai und November 1522 das einzige überlieferte Textzeugnis ist, zeigt sie Karlstadts Theologie in einem bewegenden Übergang. Jeder Christ habe einen Zugang zu Gottes Lehre; der Heilige Geist führe die Christen in die Schule Gottes, wo ihnen die Lehre Christi ins Herz geschrieben werde.
Karlstadts Sermon vom Fegefeuer (KGK 233), mit sieben Drucken eine seiner erfolgreichsten Schriften überhaupt, kam im Erstdruck in Nürnberg, in der Offizin des Johann Stuchs heraus und eröffnete eine Phase der außerhalb Wittenbergs erschienenen Publikationen Karlstadts. Der Predigt liegt 1. Thess 4,12–17, der Perikopentext für Allerseelen (2.11.), zugrunde; wahrscheinlich hielt Karlstadt sie in der Wittenberger Stadtkirche. In kritischer Wendung gegen die römische Kirche polemisiert er gegen die Seelenmessen und das Fegefeuer, die dem klerikalen Geiz dienten und die Laien einschüchtern sollten. Die Schrift hingegen vermittele den Trost, dass die in Christus Verstorbenen im Jenseits bei Gott aufgehoben seien. Dort schlummerten sie in Abrahams Schoß, bis zum Jüngsten Tag. Die Auferstehung am Jüngsten Tag sei kein körperlicher, sondern ein rein geistiger Vorgang. Die in Christus verstorbenen Seelen bedürften keiner Zuwendungen durch Opfer, Ablässe etc.; den verdammten Seelen aber sei nicht zu helfen. Jede irdische Einwirkung auf die postmortale Sphäre sei unmöglich. Im Zusammenhang der eschatologischen Thematik entfaltete Karlstadt eine stufenweise Theorie der Gotteserkenntnis im irdischen Leben, nach dem Tod und in der himmlischen Gottesnähe. In den als Aufstieg verstandenen Stufen verliere die Seele immer mehr des menschlichen Selbst, werde gelassen und – wie ein geistiges Reinigungsfeuer – Gott ähnlicher. Als materiellen Ort lehnt er ein Fegefeuer ab; es ist brennend-reinigendes Gottesverlangen, welches das Selbst in die Gelassenheit führt. Einige Seelen müssten nach dem Tod ihre Gotteserkenntnis mehren; es sei mit ruhelos umherwandernden Seelen zu rechnen. Demnach geht Karlstadt nicht davon aus, dass das Gericht unmittelbar nach dem Tod eintrete. Bei der Transformation der traditionell materiellen Fegefeuervorstellung in die Idee der purgierenden Sehnsucht der Gotteserkenntnis scheint Karlstadt Anleihen bei mystischen Gedankengängen Wessel Gansforts gemacht zu haben.
Noch Anfang November unterstützte Karlstadt gemeinsam mit Luther, Melanchthon und Amsdorf eine Petition beim Kurfürsten zugunsten einer Anstellung des Mediziners Heinrich Stackmann an der Universität Wittenberg (KGK 234). Die letzten Wittenberger Thesen Karlstadts stammen vom Ende November 1522 (KGK 235) und behandeln den Gegensatz zwischen der menschlichen Natur unter der Sünde und dem durch die Gnade erneuerten Geist. Der spirituell erneuerte geistliche Mensch treibe die Abtötung des leiblichen Menschen stetig voran. Nur der geistliche, innere Mensch könne Gottes Wesen verstehen. Karlstadts Anthropologie trägt dualistische Züge. Die menschliche Vernunft vermag Gottes Willen nicht zu erfassen; die wenigen, die Gott zum Heil bestimmt hat, werden mit besonderen geistlichen Gaben bedacht. Die Vorherbestimmung Gottes vernichtet den menschlichen Willen; Gelassenheit ist der Weg der Willenskonformität des Frommen mit Gott. Die Bekehrung ist ein längerfristiger Läuterungsprozess, der das menschliche Herz mit Liebe zu Gott und dem Willen, Christus nachzufolgen, erfüllt.
Die in der Einleitung zu KGK 234 edierten Einträge Karlstadts als Dekan im Liber Decanorum bezeugen seine fortschreitende Entfremdung vom Universitätsbetrieb, die in seiner Weigerung, sich an Promotionsverfahren zu beteiligen, gipfelte. Luther fügte eine wertende Bemerkung hinzu, die für das Ende des Wintersemesters 1522/23 einen irreparablen Grad der kollegialen Zerrüttung markiert und konstatiert, dass Karlstadts Theologie aus einem falschen, aufrührerischen Geist gespeist sei.
Das letzte Dokument des Jahres 1522 ist das erste eindeutige Zeugnis eines Kontaktes Karlstadts mit Thomas Müntzer – ein Antwortschreiben Karlstadts auf einen heute verschollenen Brief Müntzers, den er zum Anlass nahm, ihn einzuladen (KGK 236 und 237). Einig ist man sich offenbar hinsichtlich einer kritischen Sicht auf die »Zwickauer Propheten«. Persönlich wolle er gerne auch über Träume und Visionen als geistliche Erkenntnisquellen sprechen – ein Thema, das Müntzer angestimmt hatte. Der Ton des Briefes dürfte eine erhebliche Vertrautheit spiegeln; die Verwurzelung beider in mystischen Traditionen wird man wohl im Sinne einer längeren geistigen Weggenossenschaft dieser prominentesten Dissidenten der »Wittenberger Schule« zu verstehen haben. Im Folgejahr 1523 wird auch Karlstadts äußere Trennung vom Wittenberg Luthers erfolgen.
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