Einleitung in die Kritische Karlstadt-Gesamtausgabe (KGK), Teil IV

von Thomas Kaufmann

Dieser vierte Band unserer Karlstadt-Edition enthält in 40 Editionseinheiten die Schriften und Briefe des Jahres 1521 (KGK 173–212). Die Rahmenbedingungen sind durch einen kurzfristigen Ortswechsel Karlstadts nach Kopenhagen und die Entwicklung der reformatorischen Prozesse im Reich und in Wittenberg, letzteres im Zeichen der Abwesenheit Luthers (Wormsreise 2.4.–4.5.1521; Wartburg ab 4.5.1521–Anfang März 1522; Zwischenbesuch in Wittenberg 4.–9.12.1521) geprägt. In diesem Jahr 1521 erreichten die seit vier Jahren von Wittenberg ausgegangenen theologischen Impulse den Charakter einer von breiter Publizistik flankierten Bewegung. Zugleich traten erste innerreformatorische Dissoziationsprozesse, in die Karlstadt in zentraler Rolle involviert war, deutlich ans Licht. Dass Karlstadt keine Randfigur der Wittenberger Reformation war, sondern in deren Zentrum stand, zeigte sich vielleicht nie deutlicher als in diesem Jahr 1521.

Zu Beginn des Jahres führte Karlstadt seine Kontroverse mit Johann Fritzhans fort (KGK 173), der im Vorjahr als Verteidiger seines Leipziger Ordensbruders Augustin von Alveldt aufgetreten war. Karlstadts Kontoverse mit Seiler (KGK 161 f.) bildete den Anlass einer Schrift Fritzhansens gegen ihn. Im sachlichen Kern geht es um biblische Beispiele für Wasser als heilsames Element. Karlstadt bestreitet eine besondere Kraft geweihten Wassers. Er versteht das Wasser als Symbol der Läuterung und Rechtfertigung des Sünders. Fritzhans warf er wegen dessen Verhaftung am Äußerlichen und Rituellen vor, in einem »Judischen und affterglaubischen Glauben« zu verharren. Das Wachstum des Karlstadttextes ergab sich interessanterweise aus praktisch-typographischen Handlungslogiken.

Dass Karlstadt noch 1521 selbstverständlich in das zeitgenössische Pfründenwesen involviert war, zeigt sein Bemühen um ein mit Henning Gödes Tod freigewordenes Lehen (KGK 174 f.) – nicht das Propstamt –, mit dem er einen Schreiber zu finanzieren gedachte. Über dieser Pfründenfrage scheint auch die langjährige, vertrauliche Korrespondenz mit Spalatin an ihr Ende gekommen zu sein. Das letzte erhaltene Stück (KGK 176) handelt von einer anonymen Fehdeschrift, die angeblich zwanzig Adlige gegen Emser verfasst hatten – ein Phänomen, das wohl in die studentische Rezeptionsgeschichte der Adelsschrift hineingehört und ähnlich auch im Kontext des Wormser Reichstages begegnet. Karlstadt korrespondierte auch mit einem nach Worms gereisten Wittenberger Studenten (KGK 177).

Unter den Wittenberger Theologen der Jahre 1521/22 war Karlstadt wohl derjenige, der am intensivsten an den Disputationen beteiligt war. Überlieferungsgeschichtlich ist entscheidend, dass seine Thesen neben denen anderer Wittenberger Kollegen in außerhalb Wittenbergs (Leiden, Paris, Basel) erschienenen Sammelausgaben herauskamen. Einige dieser allein anhand der Bibel plausibilisierten Thesen standen in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklungsdynamik der Reformationsprozesse in Wittenberg, die man unter den Begriff der »Wittenberger Bewegung« zu subsumieren pflegt. In Karlstadts Wirken ist ein besonders enger Zusammenhang zwischen den Themen der Disputationen und seinem reformerischen Handeln zu beobachten. Die Edition dokumentiert die interessante Nutzung des Diskursinstruments »Disputation« und Karlstadts erst im Wintersemester 1522/23 final vollzogenen Abschied vom Disputationswesen. Der im Zusammenhang der ersten Thesenreihe über Gebet und Glauben (KGK 178) präsentierten Übersicht über Karlstadts Disputationen bis zum Februar 1523 kommt eine zentrale Orientierungsfunktion zu. Gebete sollen nach Karlstadt nicht als Werk verstanden werden. Das Heil, das den Glauben vermittelt, gründet in Christus. Die Thesen thematisieren auch die Frage der Wirkkraft der Sakramente im Verhältnis zum Glauben, die nicht zuletzt durch Luthers epochale Sakramentsschrift De captivitate Babylonica (Oktober 1520) im Raum stand.

Zwei ausschließlich in einem handschriftlichen Sammelband aus dem Besitz Christoph Schappelers überlieferte Thesenreihen Karlstadts über die Gelübde (KGK 179 f.) wurden in unserer Edition zum Anlass zu grundlegenden Ausführungen über die Struktur von Konvoluten Wittenberger Thesen genommen. Die Schappelersche Sammlung bezeugt jedenfalls, dass dieser in einem engeren Zusammenhang mit der Wittenberger Theologie gestanden haben muss als allgemein bekannt und quellenmäßig belegt. Die von dem Augustinereremiten Jakob Probst disputierten Thesen zu den Gelübden fügen sich in eine seit dem Vorjahr inaugurierte Diskussionslage ein, zu der auch Luthers De captivitate Babylonica einen substantiellen Beitrag darstellte. Der Glaube ziehe von äußeren Werken wie Gelübden ab. Die Wahrheit bezüglich der Gelübde könnten alle Christen aufgrund der Schrift erkennen. Den Gelübden schreibt Karlstadt eine negative Sogwirkung hinsichtlich der Entstehung von Werkgerechtigkeit zu. Wahre, geistliche Gelübde entsprängen allein dem Glauben. Unter demselben Datum (13.5.1521) führte Karlstadt offenbar noch eine zweite, nur acht Thesen umfassende Disputation über Gelübde durch (KGK 180). In Fortführung und Radikalisierung des Gegensatzes von innerem Glauben und äußeren Vollzügen, der für Karlstadts Theologie charakteristisch ist, opponiert er gegen die Vorstellung, äußere Gelübde könnten dem Glauben etwas hinzufügen. Gott gezieme allein eine geistliche Anbetung; Heiligen gegenüber Gelübde abzulegen, wird klar abgewiesen. Nur Bußfertige, im Glauben Gerechtfertigte, können geistliche Gelübde ablegen.

Karlstadt gehörte zu jenen Wittenbergern, die – gewiss anknüpfend an Luther und auch Erasmus – den Zölibat offen attackierten und durch ihr eigenes Verhalten grundsätzlich in Frage stellten. Karlstadts Thesen zum Zölibat waren einer seiner verbreitetsten Texte überhaupt. Mit dieser Disputation vom Juni 1521 (KGK 181) knüpfte er an seine bisherige Tätigkeit beinahe nahtlos an, obschon er zwischen Mitte Mai und Mitte Juni 1521 eine Reise nach Dänemark durchgeführt hatte (KGK 182). Möglicherweise nahm Karlstadt dort Einfluss auf ein Landesgesetz, das die Eheschließung von Geistlichen vorsah. Der Dänemarkaufenthalt Karlstadts wird aber nur ca. drei Wochen gedauert und vor allem der näheren Erkundung der dortigen Verhältnisse gedient haben. Nach seiner Rückkehr wollte Karlstadt Bedingungen für einen einjährigen Dienst beim dänischen König Christian II. aushandeln. Das entsprechende Memorandum (KGK 182) ist überliefert und handelt vor allem von den ökonomischen Bedingungen eines befristeten Transfers. Mit Rücksicht auf die religionspolitischen Rahmenbedingungen könnte er an dem dänischen Einsatz doch noch gehindert worden sein. Die eigentlichen Gründe aber liegen im Dunkeln.

Schon wenige Tage nach seiner Rückkehr disputierte Karlstadt in Wittenberg. In der theologischen Begründung eines von ihm intendierten Verbots des Zölibats, das er im Juni 1521 disputieren ließ (KGK 181), werden Differenzen zu Luther deutlich. Der Bruch des Keuschheitsgelübdes, dessen sich alle, die im Sinne von 1. Kor 7,9 »brennen«, schuldig machen, erscheint Karlstadt als angemessen; ja er fordert sogar, dass die Bischöfe die Priester zur Ehe zwingen.

Mit Karlstadts Abendmahlsschrift Von den Empfängern des Sakraments (KGK 183) aus dem Sommer 1521 beginnt sich das Profil seiner künftigen Abendmahlstheologie deutlicher abzuzeichnen. Dabei setzt er zunächst so an, dass er die »heilige Scheu« der Laien vor dem Mahl zu reduzieren versucht. Die Sünde stelle keinen Grund dar, nicht am Mahl teilzunehmen; wer das Sakrament im Glauben an die Sündenvergebung nießt, empfängt es würdig. Die Zusage der Vergebung und das Vertrauen darauf bilden das Zentrum des Abendmahls, nicht die äußerliche Nießung des bekräftigenden Zeichens. Die Identität des Zeichens (Brot und Wein) mit dem Leib und Blut Christi war Karlstadt nicht zweifelhaft. Die Disputationsthesen 31 Conclusiones de sacramento panis (KGK 184) nehmen den Gehalt des Abendmahlstraktates auf und führen die Diskussion im gelehrten Kontext fort. Allerdings sind in dem Themenblock drei einzelne Thesenreihen enthalten, die in drei unterschiedlichen Disputationen behandelt wurden. Die Disputation der Thesen über die Beichte hatte der Hof wohl vorher erfolglos zu verhindern versucht. Die Abendmahlsdisputation bestätigt, dass das Sakrament dem Sünder dient und dass der Glaube an die Verheißung die entscheidende Würdigung darstellt; eine kultische Verehrung des Sakraments sei unangemessen. Glauben und Sündenbekenntnis sind eine würdige Disposition zum Sakramentsempfang. Ohne Glaube und Verheißung sei das Fleisch im Sakrament nutzlos. Bei den Thesen zum Gelübde konzentriert sich Karlstadt auf die sich aus der Rechtsstellung der Frau ergebende Unwirksamkeit der Gelübde, die er als Argument gegen die Klostergelübde anführt. Offenbar versuchte Karlstadt hier eine sehr spezielle rechtstheoretische Argumentation gegen die ja auch von Luthers Seite ins Visier geratenen Gelübde zu entwickeln. In den Thesen über die Beichte nimmt Karlstadt zunächst die im IV. Laterankonzil kodifizierte allgemeine Beichtpflicht ins Visier. Nach göttlichem Gesetz könnten auch Laien die Beichte abnehmen; die päpstlichen Vorschriften sind abzulehnen.

Im Kontext seines Kampfes gegen den Zölibat sandte Karlstadt gemeinsam mit Melanchthon und Agricola (KGK 185) – und nach Rücksprache mit dem Hof – einen Brief an den Meißner Bischof Johann, der einen verheirateten Priester namens Jakob Seidler gefangen hielt. Auf Bitte von Familienangehörigen des Inhaftierten engagierten sich die Professoren der Universität für ihren ehemaligen Studenten. Seidler brachte in seinem Agieren Positionen zum Tragen, die er in Wittenberg, vor allem bei Luther und Karlstadt, kennengelernt hatte. Gegenüber dem Bischof bestehen die Professoren darauf, dass ausschließlich biblische Argumente in Lehrfragen verwendet werden dürfen. Das Dokument verdeutlicht, in welcher breiten Front im Sommer 1521 von Wittenberg aus gegen bestimmte Traditionen und überkommene Rituale gekämpft wurde.

In einer Reihe über die vollkommene Reinheit der Seele (KGK 186) verbergen sich drei unterschiedliche, freilich thematisch verbundene Thesenreihen. Sie handeln von der Frage der Vollkommenheit der Heilung der Seele durch Christus, die mit schmerzhaften Leiden über die Sünden verbunden ist. Der zweite Teil der Thesen handelt von den Teilnehmern am Abendmahl. Karlstadt identifiziert sich mit der utraquistischen Tradition, verschärft diese aber erstmals hier dahingehend, dass besonders sündige, wer nur sub una kommuniziere. Weitere acht Thesen behandeln die Werkgerechtigkeit; allen Werken ist die Predigt des Wortes Gottes vorgeordnet. Gegen den Papst und die Scholastik ist Gottes Reich allein in der Schrift zu finden. In Thesen über das Stundengebet und das Altarsakrament (KGK 187) nimmt Karlstadt eine radikale Konzentration auf den wahren Inhalt des Abendmahls vor. Wehklagen über die eigene Sünde, Bitte und Dank sind die maßgeblichen Funktionen des Gebets; alles andere, insbesondere Gebete als verdienstliche Frömmigkeitsübungen, sind Aberrationen, zu denen das Volk vom Klerus verführt worden sei. Die innere Haltung im Gebet sei entscheidend. Die Elevation der Hostie und die Aufbewahrung und Anbetung konsekrierten Brotes lehnt Karlstadt ab, ebenso Bilder in den Kirchen und Prozessionen mit Aussetzungen der Hostie. Als Zeichen der Vergebung der Sünden und des ewigen Lebens ist das Abendmahl zwingend unter beiderlei Gestalt auszuteilen. In dieser Thesenreihe, die in der Allerheiligenkirche disputiert wurde, eben an einem Ort, an dem die inkriminierten religiösen Praktiken regelmäßig vollzogen wurden, kündigt sich eine radikale Dynamik an, die im weiteren Verlauf des Jahre 1521 zunehmen sollte.

Eine aus nur zwei Thesen bestehende Disputation zu Beichte und Reich Gottes (KGK 188) fügt sich wohl in den Diskussionszusammenhang des Sommers ein. Entgegen der römisch-katholischen Pflichtbeichte will Karlstadt die Privatbeichte auf Vergehen, derer man sich bewusst ist, eingrenzen. In Bezug auf das Reich Gottes nach Mt 11,12 befand sich Karlstadt in einer Suchbewegung, die dann in einer eigenen Schrift (KGK 191) abgeschlossen wurde. Die gleichfalls wohl im Juli 1521 disputierten Thesen zum Priesterzölibat (KGK 189) fügen sich in die publizistischen Anstrengungen zu dieser Thematik, die im Sommer 1521 in Wittenberg greifbar werden, ein. Bei der Zölibatsthematik war der Zusammenhang zwischen theologischen Debatten und kirchenveränderndem Handeln besonders evident. Die Thesen bieten eine kompakte, gegenüber der römisch-kanonistischen Tradition kämpferische Zusammenfassung der einschlägigen Argumente. Keuschheit wird als göttliche Gabe, nicht aber als dem Menschen eigene Möglichkeit begriffen. Der Vorrang des Gehorsams gegenüber aller Tradition und allen menschlichen Gesetzen bildet das theologische Kriterium in Karlstadts Zölibats- und Gelübdekritik. Gelübde, die Gottes Wort widersprechen, sind null und nichtig und können, ja müssen gebrochen werden. Dass Gott größeren Gehorsam verdient als menschliche Gebote, bildet auch das Thema einer einschlägigen Schrift zu Zölibat und Klosterstand (KGK 190), die eine ausführliche Kommentierung der sieben Zölibatsthesen (KGK 181) darstellt. Karlstadt hat diese Schrift in erweiterter Form im selben Jahr in den Druck gegeben. Die mit 18 Blatt für diese Lebens- und Arbeitsphase eher ungewöhnlich lange Schrift kann als ein Schlüsseldokument des reformationszeitlichen Zölibatsdiskurses angesehen werden. Zwischen Karlstadts Schrift und Melanchthons Behandlung der Thematik in den Loci sind Beziehungen greifbar, ebenso zur Adelsschrift und zu der von Luther im Vorjahr herausgegebenen Epistola Hulderichi. In der exegetischen Fundierung differierten Luther und Karlstadt; die Auseinandersetzung mit Karlstadt floss in Luthers De votis ein. Gegen die durch den widernatürlichen Zölibat erzwungenen Verfehlungen (Konkubinat; Hurerei; Selbstbefriedigung) zog Karlstadt mit moralischem Furor her. Unter 60 sollte niemand zum Zölibat zugelassen werden; Väter dürfen die Gelübde ihrer Töchter, Kirchenobere sollen die ihrer Priester auflösen. Karlstadts Schrift war darauf ausgerichtet, möglichst viele Priester zur Heirat zu veranlassen.

In seiner Schrift Das Reich Gottes leidet Gewalt (KGK 191) legt Karlstadt, zentriert auf Mt 11,12, dar, dass Christus, der Arzt, allen Sündern seine Gnade anbietet. Die Christen sollen sich allein an ihn halten und seine Lehre im Glauben annehmen. Ähnlich wie Luther lehnt Karlstadt eine disponierende Beichte als Bedingung eines würdigen Abendmahlsempfangs ab. Karlstadt selbst schlägt, in kritischer Abgrenzung von der Tradition, eine Auslegung von Mt 11,12 vor, der zufolge die Gewalt gegenüber dem Reich Gottes eine böse Tat sei, die die göttliche Strafe verdiene. Jede pelagianisierende Deutung sucht Karlstadt abzuweisen. Er rückt die Verfolgung der Gläubigen, die zu Christus und seinem Reich gehören, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Doch je mehr das Reich Gottes verfolgt werde, desto deutlicher breite es sich aus.

Im Falle der 46 Thesen über Glaube und Werke aus dem Sommer 1521 (KGK 192) führt vor allem die Einbettung in vergleichbare Texte Karlstadt zu einer plausiblen Zuschreibung. Insbesondere der Gedanke eines freundschaftlichen Verhältnisses zum Gesetz und dem freiwilligen Dienst ihm gegenüber markiert eine auch innerhalb Wittenbergs spezifische Position. Dies wird auch und gerade vor dem Hintergrund der Bezüge zu Luther und Melanchthon deutlich. Karlstadt lag an einer Harmonisierung von Gebots- bzw. Gesetzesobservanz und sola fide, Freiheit und dienstbarem Gehorsam. Die Heilsgewissheit gründe sich auf die Verheißung Gottes, die im Glauben angenommen werde.

Die unter dem Pseudonym »Lignatius Stürll« verbreitete Glosse des Ablasses zur Ablasswerbung des Hallenser Reliquienfestes, die seit einer Zuschreibung Ulrich Bubenheimers mit Karlstadt in Verbindung gebracht wird (KGK 193), dokumentiert den fortlaufenden Konflikt mit Albrecht von Brandenburg, in den Karlstadt offenbar stärker involviert war als bisher bekannt geworden ist. Auch die klaren inhaltlichen Bezüge der Schrift fügen sie kongenial in Karlstadts Werk ein. In seiner pseudonymen Tarnung griff er aber gezielt den verantwortlichen Stiftsklerus an. Dass er wegen eines der inhaftierten verheirateten Priester die Fehde ankündigte, wirft ein instruktives Licht auf sein subversives Potential.

In einer nur fragmentarisch überlieferten Schrift (KGK 194) über die Loci »Trübsal, Vorherbestimmung und Gebet« (tribulatio, praedestinatio, oratio) lieferte Karlstadt Thesen und Begründungen (probationes), die die Ablassthematik erneut aufgriffen und weiterführten. Vermutlich war es der Brisanz der gegen den Ablass und das Sanktusläuten aus Anlass der Elevation der Hostie bei Ablassumzügen gerichteten Thesen geschuldet, dass der Druck abgebrochen wurde. In Thesen zur Bußtheologie führte Karlstadt den Heiligen Geist als entscheidende Instanz gegen die Anfechtung an. Der Anfechtung kommt allerdings eine wichtige soteriologische Funktion zu. Zur Prädestination lehrt Karlstadt, dass ihre Kenntnis aus der Schrift zu gewinnen und nützlich sei. Das Wissen um die Prädestination demütigt und führt der Gelassenheit zu. Die Ausformung seiner Bußlehre vollzog Karlstadt in stetiger Auseinandersetzung mit Augustin. Sündenerkenntnis qua Prädestinationszweifel führt dazu, sich der Gelassenheit hinzugeben. Seine 13 Thesen über den Anstoß (scandalum) und die Messe (KGK 195) sind gegenüber der bisherigen Forschung vorzudatieren und bezeugen, dass liturgische Gestaltungsfragen (Elevation) im Diskussionsraum der Wittenberger Universität erörtert wurden, bevor ihre konkrete Umsetzung erfolgt ist. Spannungen gegenüber sonstigen weniger radikalen Äußerungen Karlstadts dürften den jeweiligen kommunikativen Kontexten bzw. Gattungen geschuldet sein. Was definitiv zum göttlichen Recht gehöre, sei bindend, auch wenn es Ärgernis hervorrufe. Die Messe als Opfer zu begehen, bedeute, Christi Kreuzestod zu entweihen.

In der Korrespondenz mit Albrecht von Brandenburgs gelehrtem Rat Wolfgang Fabricius Capito (KGK 196) trat noch einmal die Hallenser Handlungsebene hervor; zum anderen offenbarte sie ein noch offenes Ringen um das Alte Testament. Karlstadt insistiert auf der Fortgeltung des Gesetzes auch für die Christen. Die Geltung des Alten Testaments war in den zeitgenössischen Wittenberger Debatten virulent. Im Kontext der Auseinandersetzungen verstanden es die Wittenberger Parteigänger Justus Jonas und Karlstadt, die Konzentration auf das glaubenweckende Evangelium vor dem Verdacht der Auflösung aller Ordnung zu schützen. Die Bedeutung des Gesetzes, vor allem seines Geistes, bildet auch das Thema der Schrift De legis litera (Vom Buchstaben des Gesetzes, KGK 197). Der Geist des Gesetzes, der dem Willen Gottes entspricht, ist durch die Seele erfassbar und als Wirkung Gottes im Herzen zu beschreiben. Im Geist des Gesetzes zu wirken sei wahre Freiheit. Der Glauben, der Gottes Willen erkennt, entspricht dem Gesetz Gottes. Karlstadts Schrift markiert die Abkehr von einer am Buchstaben des Gesetzes orientierten Bibelauslegung. Ein Zusammenhang der Schrift mit dem Besuch Capitos in Wittenberg und dessen Warnungen von Antinomismus (s. KGK 196) ist wahrscheinlich. Der Gedankengang findet auch in einer einschlägigen Thesenreihe (KGK 198) seinen Niederschlag. Karlstadt lag offenbar daran, seine geistliche Interpretation der Gesetzesobservanz einer kritischen Auseinandersetzung mit den Wittenberger Kollegen auszusetzen. Allein im Geist wird das Werk des Gesetzes in angemessener Weise betrieben; es dient der Erkenntnis der Sünde und schließt Gerechte und Ungerechte zusammen; das Gesetz rechtfertigt nicht.

Erste Änderungen in der Abendmahlspraxis in Form der Nießung unter beiderlei Gestalt seit Anfang Oktober im Augustinerkloster zu Wittenberg wurden in einer sehr umfangreichen Thesenreihe erörtert (KGK 199). Gabriel Zwilling, einer der agents provocateurs der sogenannten Wittenberger Bewegung, hatte die bisherige Abendmahlspraxis einer grundlegenden Kritik unterzogen und angekündigt, dass sich seine Ordensbrüder von der Abhaltung der Privatmessen zurückzögen. Karlstadt gehörte einer Universitätskommission an, die moderat agierte, aber die Abschaffung der Sakramentsanbetung billigte. Karlstadts Thesen bildeten die Grundlage für ein universitäres Gutachten zur Messe. Das abendmahlstheologisch hoch komplexe Dokument zeigt den engen Zusammenhang zwischen Disputationswesen und Reformprozessen; gegenüber der Abschaffung der Privatmessen und der Verehrung der Hostie argumentiert Karlstadt weiterhin moderat, bleibt also hinter der Radikalität Zwillings und der Augustinereremiten deutlich zurück. Die Orientierung an der biblischen Überlieferung wird freilich streng durchgeführt. Als strittig erwies sich auch die Frage, wer Subjekt der Veränderungen, also des Prozesses der Reformation, sein solle. Für die Frage der Positionierungen vor Luthers Rückkehr von der Wartburg ist die große Thesenreihe zum Abendmahl und zu Gesetz und Evangelium ein Schlüsseldokument. Gemeinsam mit Melanchthon, Jonas und Amsdorf gab Karlstadt gegenüber dem Hof eine gutachterliche Stellungnahme zu den Veränderungen der Messe bei den Augustinereremiten ab. Die Schrift wurde, ausgehend von Bamberg, insgesamt fünf Mal gedruckt, erreichte also eine erhebliche Resonanz (KGK 200). Der Vorgang verdeutlicht, dass die Augustinermönche, angeführt von Zwilling und theologisch sekundiert von Heinrich von Zütphen (Beilage zu KGK 200: Thesen gegen die Privatmesse) Schrittmacher der Bewegung waren und von dem Universitätsausschuss, dem Karlstadt angehörte, unterstützt wurden. Indirekt war wohl auch Luther mit einer Schrift über die Abschaffung der Privatmesse involviert. Bei der communio sub utraque und der Ablehnung der gestifteten Opfer- und Seelenmessen stimmt der Universitätsausschuss den Augustinern zu; bei der Abschaffung der Privatmessen unterblieb die explizite Billigung. An Zütphens Argumentation gegen die Opfermesse ist vor allem die Orientierung am Empfang und die sich darauf ergebende Veränderung in der Sicht auf Klerus und Laien entscheidend. Ähnlich wie Karlstadt betonte auch Zütphen die gemeinsame Verantwortung von Priester und Gemeinde. Die Instruktion, mit der der Kurfürst reagierte (KGK 201), rückte vor allem den allgemeinen Sakramentsbrauch der ganzen Kirche ins Zentrum und betonte, dass die Aufhebung der traditionellen Messstiftungen die Finanzierung der Klöster gefährde. Die Wittenberger brächten sich in den Geruch des Aufruhrs. Universität und Allerheiligenstift sollten sich auf eine gemeinsame Linie einigen. Doch der Ausschuss, dem Karlstadt angehörte, beharrte vorerst auf seiner Position.

Ende Oktober disputierte Karlstadt 26 Thesen über 2. Kor. 3 (KGK 202), das Verhältnis von Geist und Buchstabe – ein Thema, das für ihn seit den Anfängen seines intensiveren Augustinstudiums 1517 zentral war. Karlstadt entwickelt das Amt des Apostels aus dem Gebot der Evangeliumsverkündigung, das ganz von der Gnade Gottes abhängt. Mit natürlichen Kräften kann sich der Mensch nicht auf das Heil zubewegen. Altes und Neues Testament werden von Karlstadt in ein deutliches Überbietungsverhältnis gerückt. Allein in Christus wird die Decke, die auf dem mosaischen Gesetz liegt, aufgelöst und überwunden. Möglicherweise stellt die hier vertretene Konzeption, die das Gesetz als Mittel der Verdammnis dem Evangelium als Instrument der Gnade schroff gegenüberstellt, eine weitere Antwort auf Capitos Vorwurf des vermeintlichen Wittenberger Antinomismus dar.

Zu den virulenten Themen der Wittenberger Diskussionen des Spätjahres 1521 gehörte abermals die Gelübdefrage. Karlstadt griff sie auch in einer längeren volkssprachlichen Schrift (KGK 203) auf. Der ursprüngliche Entstehungskontext gehört in den Sommer (s. KGK 181 und 190), d. h. in die Zeit der ersten Priesterehen und ihrer publizistischen Verteidigung. Karlstadts Schrift steht in einem engen Zusammenhang auch mit Texten Luthers und Melanchthons. Seine Idee, dass es besser sei das Gelübde zu brechen als in Unzucht zu leben, teilte Luther nicht. Freilich war für diesen nur ein aus evangelischer Freiheit eingegangenes Gelübde bindend. Im Herbst 1521 wurde die Thematik der Auflösung geistlicher Versprechen auch in Form von Klosteraustritten akut. Für Karlstadts Argumentation spielte die sich von aller Kreaturenliebe lösende geistliche Beschneidung des Herzens eine wichtige Rolle. Innerlich die Keuschheit nicht halten zu können, da man »brenne«, sei eine größere Sünde als der Bruch eines mehr oder weniger erzwungenen Gelübdes.

Zum Jahresende 1521 führte Karlstadt auch seine abendmahlstheologische Positionierung in volkssprachlichen Texten weiter (KGK 204 f.), gipfelnd in der Weihnachtsfeier (KGK 210). In der Schrift über die Anbetung und Ehrerbietung der Zeichen des Neuen Testaments trat Karlstadt gegen Zwilling für die Anbetung der Abendmahlselemente ein. Den mit Leib und Blut identischen Elementen Ehre zu erweisen, heiße vor allem, Christus zu ehren. Denn die Zeichen seien als Zeichen göttlicher Zusagen mit dem für uns leidenden Christus identisch. Hinsichtlich der communio sub utraque aber nahm Karlstadt eine forciertere Position ein. In seiner ausführlichen Schrift Von beiden Gestalten der Messe (Mitte Dezember; KGK 205) entfaltete er eine Abendmahlskonzeption, die die einsetzungsgemäße Nießung beider Gestalten nicht nur – wie Luther – für dringend geboten, sondern für heilsnotwendig und also schlechterdings unverzichtbar erachtete. Gott macht seine Zusage durch Zeichen gewiss. Brot und Wein sind unterschiedliche Zusagen zugeordnet. Das Brot bezeichnet die Zusage der Hingabe von Christi Leib für uns, der Wein bekräftigt die Zusage der Sündenvergebung. Beide Zeichen und ihre Bedeutung im Vollzug der Messe aufrechtzuerhalten, sei zwingend geboten. Der Glaube gilt Karlstadt als entscheidende Würdigung der Zusage. Implizit lehrt er schon in dieser Schrift, dass den Laien beide Elemente des Altarsakraments zu nehmen geboten ist. Insofern gründete die spektakuläre Abendmahlsfeier des 25.12.1521 in entsprechenden theologischen Überzeugungen.

Aufgrund eines (verschollenen) Dokuments (KGK 206) kann als sicher gelten, dass die internen Differenzen der Wittenberger in der Abendmahlsfrage auch von außen wahrgenommen wurden. In der Tat stemmten sich einige Stiftsherren und Universitätsangehörige gegen jede Änderung der Messpraxis, was wiederum den seit Oktober 1521 untätigen Ausschuss auf den Plan rief. Auch wenn man eine kleine Gruppe vertrete, so müsse doch die Wahrheit in Sachen Messe durchgesetzt werden. Dass es Widerstand und Beschwer (scandalum) gegen die Abschaffung der Missbräuche in der Messpraxis geben werde, sei billigend in Kauf zu nehmen. Die altgläubigen Stiftsherren des Allerheiligenkapitels opponierten scharf. Der Kurfürst untersagte Änderungen am Messritus. Mit seiner Ankündigung einer Abendmahlszelebration unter beiderlei Gestalt trat Karlstadt in offenen Widerspruch gegen den erklärten Willen des Landesherrn. In der Phase der wachsenden Polarisierung im Dezember 1521 veröffentlichte er einen Sendbrief zu 1. Kor. 1 (KGK 208). Er betont darin, dass der Grund für Uneinigkeit und Konflikte bei den Anhängern der alten Kirche liege. Einzig das biblische Wort Gottes komme als Urteilsinstanz infrage. Im Falle falscher Interpretationen des Wortes Gottes seien Sektenbildungen, wie sie Paulus in Korinth erlebt habe, unvermeidlich. Gegen die Bindung an Traditionen solle man sich allein am Evangelium orientieren. Den Annaberger Adressaten der Schrift signalisierte Karlstadt, dass eine Reform der liturgischen Praxis dringend geboten sei.

Eine Thesenreihe Karlstadts über den gregorianischen Gesang (KGK 209) gehört hinein in die gegen Jahresende 1521 forcierten Wittenberger Debatten um die Liturgie. Im Unterschied zum Gebet dient der Gesang nach Karlstadt nicht der Erhebung des Geistes zu Gott. Der gregorianische Gesang halte den Geist des Sängers von Gott fern, da sich dieser eher mit der musikalischen Notation befasse als mit dem Inhalt der gesungenen Worte. Der gregorianische Gesang erscheint Karlstadt als unnötiger Prunk; auch Instrumente wie Orgeln, Trompeten und Flöten wollte er an die Fürstenhöfe verbannt wissen. Die Umarbeitung weltlicher Lieder zu geistlicher Musik brandmarkte er scharf. Die Kirche solle den Psalter in den jeweiligen Nationalsprachen singen. Lediglich einstimmiger Gesang sei in der Kirche akzeptabel. Artifizielle musikalische Lautmalereien, die das klar artikulierte Wort verachteten, finden Karlstadts entschiedene Zurückweisung.

Karlstadts Weihnachtspredigt Vom Empfang des Heiligen Sakraments (KGK 210) stellt den Bruch mit dem kurfürstlichen Verbot, Änderungen in der Messliturgie durchzuführen, dar. Nachdem Karlstadt am 22.12.1521 angekündigt hatte, am Neujahrstag sub utraque kommunizieren zu lassen, führte er diese Neuerung bereits bei einem vertretungsweise übernommenen Gottesdienst am 25.12. durch. Die umgehend in den Druck gegangene Weihnachtspredigt Karlstadts hob das Begehren des Sakraments als hinreichende Würdigung hervor. Der feste Glaube an Gottes Verheißungen sei eine effiziente Disposition. Die Brotzusage verheiße einen unschädlichen Tod und Auferstehung, die Weinzusage Reinigung und Vergebung der Sünden. Die Pflicht zur Ohrenbeichte sei abzuschaffen.

Die Apologia Bernhardi für den in den Ehestand getretenen Priester Bartholomäus Bernhardi (KGK 212), die gegen Jahresende 1521/22 erschien, gehört zu Karlstadts verbreitetsten Schriften. In der Abfassung der Apologie, die ursprünglich aus dem Sommer stammte, waren wohl Karlstadt, Spalatin und Melanchthon, auch die Juristen involviert. Das verwickelte Verfahren, in dem der Kurfürst Bernhardi zu einer Stellungnahme aufforderte, gelangte als Sammeldruck im Umlauf. Die Zuschreibung der Apologie an Karlstadt kann aufgrund inhaltlicher Übereinstimmungen mit seinen Schriften erfolgen. Karlstadts Verteidigung für Bernhardi ergab sich wohl auch aus seiner Rolle als Archidiakon am Allerheiligenstift. Eine enge inhaltliche Abstimmung mit Melanchthon ist allerdings wahrscheinlich. Die Priesterehe wird in der Apologie als schriftgemäße Lebensform verfochten. Die päpstliche Zölibatspflicht nötigt den Betroffenen Täuschung und Heuchelei auf. Bezüglich der breiten historischen Argumentation gegen den Zölibat wird Karlstadt Anregungen Dritter aufgenommen haben. In einem in den Druckprozess gelangten Brief Bernhardis an Kurfürst Friedrich eignete er sich die Inhalte der Apologie an.

15 Thesen zum Zehnten (KGK 212) schließen Karlstadts literarische Produktion des Jahres 1521 ab. Er legte hier dar, dass eine Begründung des Zehnten aus dem Neuen Testament problematisch sei. Einer christlichen Herde den Zehnten abzuverlangen, sei nicht angängig. Abgaben sollten den Armen, nicht aber den Priestern zukommen. Unter den reformatorischen Stimmen gegen die Zehntabgaben zugunsten kirchlicher Ämter ist Karlstadts eine der frühesten. Eigene Umbrüche in der Lebensführung, die dann 1522 vollzogen werden, deuten sich massiv an.


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