Einleitung in die Kritische Karlstadt-Gesamtausgabe (KGK), Teil III

von Thomas Kaufmann

Der dritte Teilband der Karlstadt-Edition umfasst 29 Editionseinheiten (KGK 144-172), die die literarische Produktion der Jahres 1520 spiegeln. Die zentrale Bedeutung dieses Entscheidungsjahres der Reformation trat auch in Karlstadts Biographie deutlich hervor. Neben der Fortsetzung seiner Auseinandersetzung mit Eck, ja aus ihr heraus, ergaben sich fundamentale theologische Klärungen zum Verständnis des Wortes Gottes und zur Bedeutung des biblischen Kanons für die Autoritätenfrage. Auch zahlreiche innerwittenbergische Lehrpräzisierungen in Form von Disputationen sowie der definitive Bruch mit der Papstkirche fallen in dieses Jahr. Die seit Jahresbeginn 1520 vor allem in Folge der Ansiedlung der Lotterschen Filiale in Wittenberg stabilisierte typographische Infrastruktur sicherte auch Karlstadts Publikationsmöglichkeiten. In seiner literarischen Produktion trat die Volkssprache immer deutlicher hervor, freilich noch ohne – wie bei Luther – dominant zu sein.

Erneut bildete die Korrespondenz mit dem kursächsischen Sekretär Georg Spalatin ein strukturbildendes Moment der Überlieferung. Im Januar 1520 bezog Karlstadt Spalatin erneut in seine literarische Kontroverse mit Eck ein; die Andeutung, dass es Einschränkungen von Karlstadts Publikationsmöglichkeiten geben sollte (KGK 144), erscheint wie ein noch weithin undeutliches Vorzeichen künftiger Repressionen. Sodann zeichnet sich ab, dass Versuche Spalatins, mäßigend auf die Wittenberger im Allgemeinen, auf Karlstadt im Besonderen einzuwirken, in der überhitzen Debatte mit Eck nicht mehr oder nur noch eingeschränkt verfingen (KGK 147f). Wie tastend sich Karlstadt zwischen dem zusehends radikaler argumentierenden Augustinereremiten Luther und der Tradition zu bewegen versuchte, zeigt sein dissimulierender Umgang mit der von Spalatin an ihn gerichteten Frage nach der communio sub utraque specie (KGK 145). Überlegungen Karlstadts, literarisch gegen das Urteil der Löwener Fakultät vorzugehen (KGK 151), zeigen zum einen, welches Vertrauen er zu Spalatin hatte, verdeutlichen zum anderen, wie eng der in die Erwerbslogiken eines Weltpriesters verstrickte Theologe sein eigenes Schicksal mit dem Luthers verbunden sah. Dass Karlstadt einen verschollenen Dialog gegen die Löwener abfasste (KGK 152), zeigt, dass er bereits zu diesen Zeitpunkt eine besondere Affinität zu der in Wittenberg ansonsten nicht besonders geschätzten literarischen Gattung besaß, derer er sich später im Zusammenhang der innerreformatorischen Auseinandersetzungen über Abendmahl und Taufe bedienen sollte. Anhand der Korrespondenz über ein von Luther in einer Predigt aufgeworfenes Problem zum Willen Christi im Verhältnis zum Willen Gottvaters (KGK 154) wird deutlich, wie eng auch eine diesem Problem gewidmete Disputation (KGK 155) auf die sonstigen Kommunikationsprozesse in Wittenberg bezogen sein konnte. Ein durch die Textüberlieferung eindeutig auf 1520 datierter Brief an Spalatin ist aufgrund inhaltlicher Gesichtspunkte nunmehr ins Jahr 1518 zu setzen (KGK 156 = KGK I.2, 77A) und gehört in den Zusammenhang der frühen humanistischen Studienreform. Auch persönliche Befindlichkeiten (Krankheit; Depression; Engagement Karlstadts für einen Immobilienkauf seiner verwitweten Patin) sind Gegenstand der Korrespondenz mit Spalatin (KGK 158; 159).

Aus einer zunächst wohl ‚privaten‘ Korrespondenz heraus entstand Karlstadts Schrift gegen den Annaberger Franziskaner Franziskus Seyler, in der er sich erstmals öffentlich gegen den Ablass positionierte (Von Vermögen des Ablass, KGK 161). Durch diese Schrift wird Karlstadts engere Verbundenheit mit Anhängerkreisen in den Bergbauorten Annaberg und Joachimstal greifbar. Der Sache nach wies er – in Abwehr von Angriffen gegen ‚die Wittenberger‘ bzw. »meyn[en] doctor Martinus« als »falsche propheten« – den Ablass in strikter Anwendung des Schriftprinzips zurück. Die für Karlstadt charakteristisch werdende Argumentation mit der Normativität der kanonischen Schriften, die seiner Schrifthermeneutik ein spezifisches Profil verlieh, zeichnete sich ab. Mit seiner zweiten deutschen Flugschrift gegen Seyler (Von geweihtem Wasser und Salz, KGK 162) nahm er eine en passant seitens des Annaberger Franziskaners fallen gelassene Bemerkung zur selbstverständlichen Geltung biblisch nicht fundierter kirchlicher Traditionen auf und widersprach ihr im Namen seines Schriftprinzips. Diese zweite Schrift gegen Seyler bescherte Karlstadt als Autor in der Volkssprache erstmals ein über Wittenberg hinausstrahlendes publizistisches Echo; insgesamt vier Ausgaben erschienen von dieser Schrift. Interessanterweise schrieb er sie in verschiedenen Stufen fort, in denen er thematisch selbständige Zusätze anfügte. Zugleich nutzte er allegorisierende Auslegungen biblischer Belege zum Gebrauch von Wasser und Salz, um sie einer internalisierenden Deutung im Sinne von Bußernst und Sündenvergebung zuzuführen.

In akademischen Disputationen in Wittenberg behandelte Karlstadt wahrscheinlich das siebte Gebot (»Du sollst nicht stehlen«) unter Bezug auf Vermächtnisse und die Stiftung von Altären und Messen (KGK 172). Dabei verstand er »Diebstahl« außerordentlich breit, indem er unterlassene Hilfeleistung bzw. das Aufschieben notwendiger Unterstützung einbezog. Auch die Stiftung von Altären und Memorien auf dem Sterbebett, die den lebendigen Heiligen Hilfen entziehe, die Kumulation von Pfründen von Weltpriestern und sonstigen Geistlichen u.a. deutete er als Verstoß gegen das siebte Gebot. Implizit wird hier bereits ein Programm der prophylaktischen Armenfürsorge erkennbar, das schließlich in der Wittenberger Beutelordnung (1520/21) bzw. der Stadtordnung vom Januar 1522 und im zweiten Teil von Karlstadts »Bilderschrift« umgesetzt wurde. Zugleich macht diese erstmals Karlstadt zugeschriebene Thesenreihe deutlich, wie eng er sich auf Themen und Thesen aus Luthers Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation aus dem Sommer des Jahres 1520 bezog.

In sieben Thesen über Sünde und Genugtuung (Conclusiones de peccato et satisfactione, KGK 170) führte Karlstadt im Kontext des Wittenberger Disputationsbetriebes die mit Eck begonnene Auseinandersetzung weiter und richtete sich gegen jede Rechtfertigung aufgrund des Ablasses und kirchlicher Verdienstoptionen. Christus allein habe die Sünde auf sich genommen, da er für die Gerechtfertigten zur Sünde gemacht wurde. Der Glaube sei der einzig angemessene Apperzeptionsmodus der Christus widerfahrenden Gerechtigkeit. Die 33 Thesen über Anfechtung und Vorherbestimmung (33 Conclusiones de tributatione et predestinationis materia, KGK 164) stehen in einem engen Zusammenhang mit Karlstadts sonstigen Schriften zu Ablass, Weihe, Gelassenheit, den Kanon usw. Indem Karlstadt aufgrund prädestitianischer Überlegungen die Wirksamkeit des kirchlichen Bannes bestritt, konzentrierte er sich auf die Bewährung im Leiden. Zugleich fügen sich die Thesen in seinen Kampf gegen die Bannandrohungsbulle ein. Durch die Aufnahme der zu den Thesen verfassten probationes in Karlstadts Loci tres (September 1521) wurde diese Auseinandersetzung mit dem Kampf gegen den Ablassbetrieb in Halle verbunden. Durch Bedrängnis erfolgt nach Karlstadt die Erkenntnis der Gnade; die tribulatio versteht er geradezu als Sakrament. Die Prädestination sieht Karlstadt vor allem als Kraft der Infragestellung des außerhalb Christi konstituierten Menschen an. Die Auslegung der in sich klaren Schrift in die Muttersprache der Gläubigen sei das entscheidende Heilsmittel.

In seiner Schrift Verba Dei (KGK 146) von Anfang Februar 1520 führte Karlstadt seine Kontroverse mit Eck weiter. Besonders Ecks am 17.7.1519 am Rande der Leipziger Disputation auch in Gegenwart Luthers und Johannes Langs vertretene These, vor Laien und auf der Kanzel könne das Wort Gottes anders gelehrt werden als gegenüber Gelehrten im Hörsaal, fand Karlstadts vehementen Widerspruch. Überdies hatte Eck entgegen dem Stand der zeitgenössischen historischen Erkenntnis eine pelagianische Schrift auf der Kanzel Augustin zugeschrieben und dieses Verfahren mit dem Recht der Gelehrten, geheime Erkenntnisse dem Volk vorzuenthalten, begründet. Karlstadt rückte mit diesem Text in engem Anschluss an Erasmus das Bibelstudium aller Christen beiderlei Geschlecht ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Den Predigern obliege es, allein das Wort Gottes zu verbreiten; Eck sei ein falscher Prophet, gegen den Karlstadt alttestamentliche Propheten, Christus, Paulus, Augustin, das Deuteronomium, das Evangelium und Erasmus ins Feld führte. Die Lehren aus Altem und Neuem Testament sah Karlstadt engstens beieinander. Beider Testamente doctrina seien dem Kirchenvolk vollständig und klar darzulegen. Der Vermischung von heidnischer Wissenschaft und christlicher Tradition widersprach Karlstadt, erneut in Anschluss an Erasmus, aufs Entschiedenste. Ansonsten propagierte er einen Primat der Kirchenväter gegenüber den Scholastikern.

Die in Leipzig aufgeflammte Debatte, ob die Gnade völlig (totum), aber nicht vollständig (totaliter) von Gott gewirkt werde oder ein Rest an Kooperation zwischen freiem Willen und Gott verbleibe, bildet auch den Gegenstand einer weiteren Streitschrift Karlstadts gegen Ecks Verteidigungsschrift (Confutatio … adversus defensivam epistolam … Eckii, KGK 150) aus dem März 1520, mit der Karlstadt sein publizistisches Scharmützel mit dem Ingolstädter Kollegen definitiv beendete. Aus der Entstehungszeit der Schrift ist bekannt, dass Karlstadt wegen Ecks Invektive außerordentlich erregt war; Versuche Luthers und Spalatins, ihn zu beruhigen und zu mäßigen, liefen ins Leere. Die theologischen Themen, die Karlstadt in dem fiktiven Dialog abhandelte (Ekklesiologie; Bußlehre; Anthropologie; Gelassenheit), waren bereits vorher im Schwange. In Reflektionen über die Textfassungen bestimmter Kirchenväterzitate und den Umgang mit mehrsinnigen Lesarten der Schrift klingen die Karlstadt damals besonders beschäftigenden Fragen an.

Mit seiner Schrift De canonicis scripturis (KGK 163) vom September 1520 legte Karlstadt seine umfänglichste, hermeneutisch und theologisch gehaltvollste Schrift dieses Jahres vor. Inhaltlich führte sie die vor allem in der Auseinandersetzung mit Eck aufgebrochenen Fragen der Autorität der kanonischen Schriften der Bibel und der Grundsätze ihres Verstehens in prinzipieller Perspektive weiter. Seit seiner Hinwendung zur Gnadentheologie Augustins im Jahre 1517 hatte sich Karlstadt immer deutlicher für den Vorrang der Bibel vor den Lehren der Kirche, einschließlich der Väter, ausgesprochen. Die auch in Verba Dei und der Confutatio zu Jahresbeginn angesprochene Thematik der Geltung der Bibel handelte Karlstadt als erster Theologe der Reformation nun systematisch konsequent in kanonstheologischer Perspektive ab; es galt, die kanonischen Schriften als einzige Quelle des Wortes Gottes für Prediger und Laien zu erweisen. Der biblische Kanon alten und neuen Testaments bilde das entscheidende Wahrheitsfundament des christlichen Glaubens und enthalte die Prinzipien angemessener Schriftauslegung. In Ausführungen zur Kanonizität des Jakobusbriefes wird Karlstadts durchaus kämpferische Positionierung auch gegenüber Luther deutlich, der diesen Text aus rechtfertigungstheologischen Gründen zurückwies. Die unbestreitbar wahre Schrift sei jedem Menschen zugänglich; sie sei klar und vollkommen. Anderer Wahrheitsinstanzen bedürfte es nicht. Die Superiorität der Schrift bewies Karlstadt aus im Decretum Gratians aufgenommenen Augustinzitaten, d. h. mittels der Tradition. Die nur in Ansätzen greifbaren hermeneutisch-kanonstheologischen Dissonanzen mit Luther, die an der Kanonizität des Jakobusbriefs aufbrachen, wurden wohl vor allem durch studentische Hörer von Karlstadts Vorlesung zum Jakobusbrief angefacht. Karlstadts Argumentation zugunsten der Integrität des Kanons zielte darauf ab, dessen inhaltliche Kohärenz mit anderen biblischen Schriften zu sichern und den Konflikt mit Luther zu begrenzen. Durch eine an der Sicherheit bzw. Wahrscheinlichkeit der apostolischen Verfasserschaft orientierte dreistufige Rangfolge unter den biblischen Büchern beider Testamente mit einer klaren Prävalenz des Pentateuch und der Evangelien versuchte Karlstadt eine methodisch operationalisierbare hermeneutische Kriteriologie für Bibelleser aller Bildungsstände zu liefern. Luthers kanonstheologische Reflektionen der Jahre 1521/2 dürften als Gegenentwurf zu Karlstadt zu interpretieren sein. Karlstadts durch exzessive Kirchenväterreferenzen fundierter Umgang mit der Schrift war fortan tiefgreifend von der in De canonicis scripturis zugrunde gelegten hermeneutischen Konzeption bestimmt.

Die Schrift Welche Bücher biblisch sind (KGK 171) hat als volkssprachliches Pendant zu De canonicis scripturis zu gelten und trägt der immensen theologischen Aufwertung Rechnung, die den Laien seit Sommer 1520 in Karlstadts Werk zuteilwurde. Der volkssprachliche Traktat zeigt seine Bemühungen um eine adressatenkonforme literarische Vermittlungsarbeit. Allen christlichen Lesern soll nahegebracht werden, welche biblischen Bücher als verbindlich und kanonisch zu gelten haben, wie sie gelesen und argumentativ verwendet werden können und welche Autoritätsgrade ihnen jeweils zukommen. Erneut werden die biblischen Schriften beider Testamente in drei Rangfolgen eingeordnet. Die kanonischen Schriften des Alten Testaments werden mit Hieronymus am biblischen Kanon definiert, entsprechend auch die Hagiographen und die normativ abgestuften Apokryphen. Kanonizität impliziert Autorität. In Bezug auf das Neue Testament setzte Karlstadt gleichfalls drei Rangstufen an, forderte aber eine explizit auf Christus und sein Wort zentrierte hermeneutische Orientierung. Frömmigkeitspraktisch lag ihm daran, gleichermaßen Texte aus den Evangelien und dem Pentateuch – insbesondere Matthäus und das Deuteronomium – zu lesen und zu bedenken. In einem auf die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine bezogenen Passus schärfte Karlstadt ein, dass der Papst und die Konzilien der Schrift nachgeordnet seien. Die Unvereinbarkeit der Bibel und der päpstlichen Dekrete und Bullen mündet für Karlstadt in die Erkenntnis, dass das Papsttum vom Teufel sei.

Im Herbst 1520, in der Zeit also, in der Luthers und seiner Anhänger Verurteilung durch den römischen Papst in Sachsen bekannt wurde, verdichteten sich die literarischen Aktivitäten Karlstadts, in denen er sich seinerseits definitiv gegenüber der Papstkirche positionierte. Gewiss trug der Umstand, dass Eck in Wahrnehmung einer besonderen Vollmacht vor allem auch Karlstadts Namen auf die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine hatte setzen lassen, zu diesem Schritt bei. Karlstadts früheste Reaktion bestand in einem formalrechtlichen Einspruch bzw. einer Protestation (Bedingung, KGK 165) gegen den Ketzerprozess unter Rekurs auf die Unkenntnis der heiligen Schriften bei den römischen Prälaten und die Gefahren eines Geleitbruchs bei der Reise zu einer Disputation. Die Bedingung wurde wohl publiziert, bevor Karlstadt der Text der Bannandrohungsbulle vorlag. Die Rechtsvorbehalte, die er seiner Verurteilung entgegensetzte, basierten auf dem kanonischen Recht, der unbedingten Geltung der Bibel, der sinnerschließenden Bedeutung Christi und der geforderten Urteilskompetenz gelehrter Laien, der Ablehnung voreingenommener Richter aus den Bettelorden sowie Prinzipien des Personenschutzes.

In Von päpstlicher Heiligkeit (KGK 167) aus dem Oktober 1520 replizierte Karlstadt auf die Bannandrohungsbulle und führte zugleich eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Amt und den Autoritätsansprüchen des Papsttums. Die auch mit autobiographischen Hinweisen durchsetzte Schrift markiert Karlstadts gegenüber Luthers Haltung ‚verzögerte‘ Entwicklung, die mit dem nun vollzogenen Bruch und seinen Übertritt in ein antipäpstliches Lager ihren Abschluss fand. Mit der Widmung der Schrift an ein Glied der Familie von Thüngen knüpfte Karlstadt erneut an sein fränkisches ‚Netzwerk‘ an. Die Irrtumsfähigkeit des Papstes lasse es abwegig erscheinen, ihn über andere Menschen zu erheben. In der Darstellung der Missstände des Papsttums legte Karlstadt auch dessen ökonomische Basis einschließlich des Ablasshandels offen und brandmarkte – seiner notorischen Feindschaft gegen die Bettelorden entsprechend – die unheilvolle Allianz von Papsttum und Mendikanten. Die »Heiligkeit« des Papstes attackierte Karlstadt einerseits von einem auf Willensentäußerung (»Gelassenheit«) abzielenden, internalisierenden Verständnis von Heiligkeit aus, andererseits dadurch, dass der Papst ein Sünder sei und durch von Karlstadt narrativ ausgebreitete hochmütige Inszenierungen und Rituale einer perfiden Selbstüberhebung huldige und ein Gegenbild zum demütigen Christus abgebe. Ähnlich wie Luther in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation argumentierte auch Karlstadt gegen einen Primat der päpstlichen gegenüber der weltlichen Obrigkeit. Er selbst legte den Titel eines päpstlichen Vicecomes, den er im Zuge seines Romaufenthaltes erworben hatte, in dieser Schrift nieder. In Bezug auf seine Vorstellungen von Kirche und der Rolle der Laien werden die Konturen einer für ihn fortan prägenden, höchst eigenständigen theologischen Orientierung sichtbar. Dass er sich dabei auch kanonistischer Traditionsbestände bediente, markierte eine gewisse Differenz gegenüber Luther, der das Kirchenrecht fundamentaler angriff und radikaler ablehnte als der gelehrte Jurist Karlstadt.

Ansonsten traten in Von päpstlicher Heiligkeit eine ganze Reihe gemeinreformatorische, aber auch von Autoren wie Ulrich von Hutten vertretene Motive der Kirchen- und Papstkritik hervor, die zeigen, dass Karlstadt in engster Verbindung zum zeitgenössischen publizistischen Diskurs stand. Die formalrechtlichen Beanstandungsgründe der von Eck eigenmächtig getätigten Nennung seines Namens auf der Bannandrohungsbulle führten Karlstadt zu der Forderung nach einem eigenen Prozess. Er empfand es offenbar als unwürdig, lediglich im Schatten der causa Lutheri abgeurteilt zu werden. Auch Karlstadt sah im von ihm in der Widmung exemplarisch adressierten Adel diejenige Instanz, die den wahren Glauben zu verteidigen und die korrupte kirchliche Hierarchie zu beseitigen bzw. zu reformieren habe.

In einer Appellation (KGK 168), die in einem unmittelbaren chronologischen und sachlichen Zusammenhang mit der Bedingung und Von päpstlicher Heiligkeit stand, einem notariell bestätigten Zeugnisdokument, sicherte sich Karlstadt juristisch gegen den in Exsurge Domine angedrohten Bann ab. Auch dieses Dokument zeigt, dass der studierte Jurist Karlstadt noch zu einem Zeitpunkt auf die kanonischen Rechtsmittel vertraute, als Luther diese längst aufgegeben hatte. Im Kern legte Karlstadt durch die Appellation Beschwerde dagegen ein, dass seine Lehre als ketzerisch verurteilt worden war, ohne ihn vorgeladen und ihm eine angemessene Verteidigung ermöglicht zu haben. Die Bibel wie das natürliche Recht sehen ein Recht auf Selbstverteidigung gegen den Vorwurf der Ketzerei vor. Die Biblizität der Lehre Karlstadts hätte niemals zu ihrer Verurteilung durch die Papstkirche führen dürfen. Der Papst habe keine angemessene Prüfung der Lehren Karlstadts vorgenommen, sondern sei blind Eck gefolgt; auch die Frist sei falsch gesetzt worden. Karlstadt unterstellte sich einem zum Schutz angerufenen Konzil, das allerdings an biblischer Sachautorität gemessen werden müsse.

Neben der juristischen und der publizistischen Ebene in der Volkssprache führte Karlstadt die Auseinandersetzung mit dem Papsttum und seinem Recht auch akademisch in Gestalt einer Disputation weiter (KGK 169). In zehn Thesen De pontificum decretis führte Karlstadt zwischen dem Eintreffen der Bannandrohnungsbulle in Wittenberg (Anfang Oktober 1520) und der Verbrennung derselben (10.12.1520) vor, dass Konzilien irrtumsfähig seien und ihre Canones nicht mit dem göttlichen Recht übereinstimmten. Päpste, die Konzilsbeschlüsse in päpstliches Recht übernähmen, hätten selbst als exkommuniziert zu gelten. Auf diese Weise musste die Karlstadt selbst treffende Exkommunikation unwirksam werden. Geistliche Dinge seien nicht mit menschlichen Traditionen und Maßen zu messen. Zugleich leuchtet hier eine allein auf Schrift und Evangelium gegründete Ekklesiologie auf. Anhand einer radikalen Fortschreibung, die wohl von fremder Hand dem Druck der Thesen in Form von Glossen beigegeben wurde, zeigte sich, dass schon gegen Ende des Jahres 1520 eigenwillige Rezeptionsprozesse der Wittenberger Theologie im Allgemeinen, Karlstadts im Besonderen eingesetzt hatten.

Als Indiz von Karlstadts Wirken als erfolgreicher, mehrfach an weit gestreuten Orten nachgedruckter volkssprachlicher Publizist kann auch seine im Oktober 1520 erschienene Missive von der Tugend Gelassenheit (KGK 166) stehen. Von dem Erstdruck sind Exemplare erhalten, in denen mutmaßlich auf Karlstadt zurückzuführende handschriftliche Korrekturen eingetragen wurden. Den Anlass der Schrift bildete Karlstadts Exkommunikation, auf die der in Anfechtung gefallene Sohn der römischen Kirche mit ‚Gelassenheit‘ antworten wollte. Adressiert an seine Mutter, Verwandte und Freunde versucht der ehedem treue Priester der römischen Kirche Verständnis für seinen Bruch mit dieser und die Niederlegung seiner Ämter zu erwecken. Die Trübsal, der Karlstadt verfallen sei, lasse ihn den Weg der Kreuzesnachfolge gehen und sei ein paradoxes Indiz seiner Erwählung. Mit seiner eingangs gebetsweise vorgetragenen Konzeption der Gelassenheit knüpfte Karlstadt direkt an Tauler an. In Leid und Beklemmung erfährt der Christ im Spiegel dieser kreuzestheologischen Konzeption Gottes trostreiche Annahme in Gestalt gelassener Glaubenszuversicht, die durch die Zusage im Wort empfangen wird. Karlstadt selbst betonte seine verpflichtende Bindung an die Heilige Schrift, der er in einem Schwur seine Treue bekundet habe.

Im Ganzen repräsentiert die literarische Hinterlassenschaft Karlstadts aus dem Jahr 1520 eine für die weitere Entwicklung wegweisende Neuorientierung: Der Wittenberger Theologieprofessor tritt in kontroverstheologische Auseinandersetzungen in der Volkssprache ein, vollzieht den offensiven Bruch mit traditionellen Frömmigkeitsformen und -praktiken, exponiert die Laien als besondere Träger religiöser Erkenntnisse und hermeneutischer Zugänge zur Heiligen Schrift und verwirft die ihn verurteilende Papstkirche und ihre juristischen Autoritäts- und Legitimationsinstrumente. In deutlichem Unterschied zu Luther bedient sich der Jurist Karlstadt auch in dem nun einsetzenden offenem Kampf gegen das Papsttum juristischer Mittel und Argumente. Das Zentrum seiner theologischen Arbeit ist auf das Verständnis des biblischen Kanons als infallibler Norm gerichtet. Die einschlägigen Schriften erwachsen aus der in der Debatte mit Eck aufgeworfenen Autoritätenfrage, wurden aber von Karlstadt auch vor dem Hintergrund des innerwittenbergischen Dissenses in der Beurteilung des Jakobusbriefes systematisiert und im Sinne einer tragfähigen Konzeption prinzipalisiert. Dadurch leistete Karlstadt einen fundamentalen hermeneutischen Beitrag zum Aufbau eines evangelischen Kirchenwesens bzw. einer diesem verpflichteten reformatorischen Theologie. Die tiefgreifenden theologischen Differenzen in der Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium, Glauben und Werken, Christus als Unterpfand des Heils und Lehrer des neuen Gesetzes, kirchlichem Amt und laikaler geistlicher Vollmacht, die sich bald innerhalb des »Wittenberger Lagers« zeigen sollten, entstanden oder brachen auf, weil Luther sich durch Karlstadt herausgefordert und zur Präzisierung seiner eigenen Position gedrängt sah. Sowohl in Bezug auf das Verhältnis zur Papstkirche als auch in Hinblick auf die innerreformatorischen Entwicklungen bildeten die im Laufe des Jahres 1520 erkennbar werden Konstellationen den Nukleus der weiteren Reformationsgeschichte.


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