von Thomas Kaufmann
Die in diesem Band vereinigten 44 Editionseinheiten (KGK II, Nr. 100–143) repräsentieren die literarische Überlieferung Karlstadt aus dem Jahr 1519. Im Ganzen spiegeln sie eine theologische Entwicklung, die immer stärker von der Bindung an die Bibel und die Kirchenväter, der Distanzierung von der Scholastik und der Konzentration auf das Kreuz Christi bestimmt ist. Auch, dass Karlstadt sich als »Erasmianer« empfand, wird immer deutlicher. Wie in den vorangegangenen Jahren bildet die Korrespondenz mit Georg Spalatin auch 1519 das maßgebliche Quellensegment der biographischen, literarisch-publizistischen und theologischen Kenntnisse, die wir von dem Wittenberger Theologieprofessor und Archidiakon Andreas Rudolff Bodenstein, genannt Karlstadt, besitzen.
Zu Beginn dieses Jahres war Karlstadt in die Vorgänge um die Klärung der Nachfolge für Johannes Böschenstein auf der Wittenberger Hebräischprofessur involviert (KGK II, Nr. 100–102; 111; 112); dieser Stelle kam im Kontext der humanistischen Reformstrategie der Universität Wittenberg eine wichtige Bedeutung zu. Karlstadts diesbezügliches Engagement unterstreicht, dass er in seiner Universität in hebraistischen Fragen als Autorität galt. Sodann verdeutlicht der Berufungs-Vorgang, ähnlich wie die sich um Karlstadts berühmten Einblattdruck (Currus/Wagen) rankende Korrespondenz (KGK II, Nr. 101; 108; s. u.), dass die Konkurrenz zwischen den Universitäten Wittenberg und Leipzig, aber auch die Beziehung der Wittenberger Professoren zu Leipziger Druckern strukturprägende Grundsachverhalte darstellten, die die gesamten frühreformatorischen Entwicklungen begleiteten. Werkbiographisch hängen Currus/Wagen und Epitome (Januar 1519; KGK II, Nr. 103) engstens zusammen.
Mit der vermutlich einem Privatkolleg zugrunde gelegten Epitome über die Rechtfertigung des Gottlosen erreicht Karlstadts theologische Profilbildung einen ersten Höhepunkt. Sein Handexemplar, das er wohl für die Vorbereitung einer Lehrveranstaltung benutzte, ist mit zahlreichen Annotationen versehen; in Verbindung mit zwei Mitschriften bildet es die Grundlage der Edition und eröffnet gewisse Einblicke in Karlstadts Lehrtätigkeit. Der als Erbauungsschrift für lateinkundige Laien konzipierte Traktat entfaltete das »urreformatorische« Thema der Buße allein von der Heiligen Schrift her. Insbesondere in der Analogisierung des Schicksals Christi und des Lebens des Christen bzw. der Abtötung des Gottlosen entwarf Karlstadt Konturen seines spezifischen Verständnisses der Rechtfertigung. Der Abschluss des Drucks der Epitome hing mit der Fertigstellung des letzten Teils von Karlstadts Augustinkommentar (KGK I.2, Nr. 64) zeitlich engstens zusammen (KGK II, Nr. 104). Die Epitome lieferte auch den Anlass eines weiterführenden theologischen Gesprächs mit Spalatin (KGK II, Nr. 109), das allerdings nur fragmentarisch überliefert sein dürfte. Klagen über fehlerhafte Drucke begleiteten Karlstadts gesamte frühreformatorische Publizistik.
Die Korrespondenz aus dem Zusammenhang der Veröffentlichung des Currus/Wagen (KGK II, Nr. 110; 120), Karlstadts in der Forschung am intensivsten beachteten Werks, offenbart sein enges Zusammenspiel mit Lukas Cranach d. Ä. Der lateinischen Ausgabe kommt gegenüber der deutschen die Priorität zu. Sein flankierender Briefwechsel veranlasst auch zu einer gewissen Zurückhaltung gegenüber der traditionellen Einordnung des Werks in die publizistische Vorgeschichte der Leipziger Disputation. Karlstadt zielte darauf ab, mittels des Text-Bildmediums Grundeinsichten seiner Gnaden- und Bußtheologie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Obschon die deutsche Fassung werkgeschichtlich sekundär ist, könnte sie bei der Konzipierung und Herstellung des Bildes doch bereits im Horizont gewesen sein. Die von Karlstadt intendierte Leserichtung des Blattes, der unsere Edition folgt, ergibt sich aus der volkssprachlichen Auslegung des Wagens (KGK II, Nr. 124). Bei der Verbreitung des Blattes spielte die kursächsische Kanzlei (Spalatin) eine wichtige Rolle (KGK II, Nr. 112; 121; 133). Karlstadt und Cranach lag offenbar daran, dass durch das illustrierte Flugblatt der Kontakt zu Albrecht Dürer hergestellt bzw. aktualisiert wurde (KGK II, Nr. 133).
Die Herstellung der deutschen Version (KGK II, Nr. 120) war aus drucktechnischen Gründen schwierig, was sicher auch mit den bescheidenen typographischen Möglichkeiten der Grunenbergschen Offizin zusammenhing. Da der deutsche Text in den insgesamt 53 Textfeldern mehr Platz benötigte als der lateinische, mussten Kompromisse gefunden werden (entstellende Kürzung der Texte; Verwendung der platzsparenderen Antiqua), die die Herstellung verzögerten, aber auch schwer verständliche Textpassagen erzeugten, die dann die in Leipzig gedruckte Auslegung des Blattes erforderlich machten. Die deutsche Version des Wagens scheint früher als die Auslegung vertrieben worden zu sein. In seiner deutschen Fassung kam dem ersten illustrierten Flugblatt der Reformation auch eine katechetisch-erbauliche Funktion zu. Karlstadt wollte allen Christen sein an Paulus, Augustin und Tauler orientiertes Verständnis des Kreuzes und der Buße nahebringen. Überdies setzte er mittels dieses Mediums seinen eigenen Bruch mit der scholastischen Theologie und ihren zeitgenössischen Vertretern wirkungsvoll ins Bild. Dies dürfte vor allem auf die studentische Jugend abgezielt haben und spielte in der nur fragmentarisch überlieferten lateinischen Version (KGK II, Nr. 110) eine entscheidende Rolle.
In der Auslegung des Wagens hat sich ein Teil der Textstücke in ihrer ursprünglich von Karlstadt intendierten Fassung, die er in den Textfeldern des Flugblattes aber nicht mehr unterbringen konnte, erhalten. Die Auslegung, Karlstadts erste deutsche Flugschrift überhaupt, wurde – gewiss aus kapazitären Gründen – nicht, wie der Currus/Wagen, bei Grunenberg in Wittenberg, sondern bei Lotter in Leipzig gedruckt. Diese Schrift erschließt insbesondere den kreuzestheologischen Gehalt des Wagens, will aber auch Zugänge zur laikalen Bibellektüre eröffnen. Offenbar hatte Karlstadts herbe Sündentheologie, die die Selbstverurteilung des Büßers einschloss, die Rückfragen einiger Rezipienten hervorgerufen, die er durch die Auslegung klären wollte. Überdies führte er den nicht-gelehrten Lesern seiner Auslegung die breite patristische Fundierung, auf der seine Gnadentheologie basierte, vor.
Den quantitativ und qualitativ größten Raum in Karlstadts literarischer Tätigkeit des Jahres 1519 nehmen Texte aus dem Vorfeld, zum Ereignis selbst und im Nachgang der Leipziger Disputation (27. 6.–15. 7. 1519) ein. Den Reigen eröffnet ein fingierter Brief Luthers an seinen Wittenberger Kollegen (Anfang Februar, KGK II, Nr. 105), den er seinen zwölf Gegenthesen gegen Eck voranstellte. Der Brief markiert Luthers öffentlichen Eintritt in eine Debatte, die Karlstadt inauguriert hatte, in der er durch seinen Wittenberger Kollegen aus dem Augustinereremitenorden und dessen scharfe Invektiven gegen Eck sukzessive an den Rand gedrängt werden sollte. Aus der Korrespondenz mit Spalatin geht hervor, dass Karlstadt Luther hinsichtlich des weiteren Vorgehens in der Auseinandersetzung mit Eck strategisch beriet (KGK II, Nr. 108). Bereits im Frühjahr 1519 verlagerte sich die Auseinandersetzung zwischen Karlstadt, Eck und Luther auf Betreiben aller drei Beteiligten primär auf die literarisch-publizistische Ebene.
Den Generationsgenossen Eck, Luther und Karlstadt war es durchaus ein gemeinsames Anliegen, die theologische Diskussion über den akademischen Rezeptionsrahmen hinaus zu tragen. Nach Eck und Luther publizierte auch Karlstadt seine Leipziger Thesen vorab. Im Vergleich mit dem Wittenberger Kollegen agierte er aber auch in seiner Publizistik defensiver. Die Autoritätsproblematik bzw. die Papstfrage in den Vordergrund zu schieben, wie Luther es tat, lag Karlstadt damals noch fern. An Eck nahm Karlstadt vornehmlich Ruhmsucht wahr; dass dieser ihn in einen offenen Gegensatz gegen den Papst zu treiben versuchte, wies er deutlich zurück. Karlstadt wollte die ihn umtreibenden Fragen zu Buße, Sünde, Willensfreiheit und Prädestination im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit Eck halten. Die damals vorhandenen strategischen Differenzen im Wittenberger Lager waren also deutlich. Der Korrespondenz mit Eck (KGK II, Nr. 127) ist zu entnehmen, dass die persönlichen Belastungen und Spannungen zunahmen, je näher die Veranstaltung rückte. Von Karlstadt war offenbar nie offiziell um eine Erlaubnis für die Disputation in Leipzig nachgesucht worden; Eck aber hatte dies für beide getan, Karlstadt danach Herzog Georg für sich und seine Begleiter um sicheres Geleit gebeten (KGK II, Nr. 128), das auch umgehend gewährt wurde (KGK II, Nr. 129). Wahrscheinlich hat Karlstadt auf diesem Wege auch Luthers sichere Anreise zu ermöglichen versucht; dessen Teilnahme an der Disputation war ja bis zuletzt ungeklärt geblieben. Am 24.6. trafen die Wittenberger in Leipzig ein; bei der Einfahrt in die Stadt brach ein Wagenrad von Karlstadts Kutsche; er fiel heraus und verletzte sich.
In einer zwischen Karlstadt, Eck und Luther nach und nach, in einem mehrstufigen Prozess getroffenen Vereinbarung (KGK II, Nr. 130) verständigte man sich über den Ablauf der Disputation und die Erstellung eines einheitlichen Protokolls auf der Basis der Mitschriften von vier amtlichen Notaren (26. Juni: Eck und Karlstadt; 4. Juli, Eck und Luther). Die Veröffentlichung sollte erst nach Vorlage eines Richtspruchs erfolgen (14. Juli). Die Deutung dieser Vereinbarung blieb allerdings zwischen den Disputanten umstritten. Eine definitive Entscheidung über die richterlichen Instanzen – die Theologen oder sämtliche Vertreter aller Fakultäten an den Universitäten Erfurt und Paris – wurde schließlich von Herzog Georg getroffen; er sollte sich für die Theologen und die Kanonisten entscheiden.
Die wirkungsreichste Quelle zur Verbreitung der Kenntnis der Leipziger Disputation bildete ein in seiner Entstehungs- bzw. Korrekturgeschichte komplizierter, unfirmierter Druck des Matthes Maler aus Erfurt, den vermutlich Luthers Ordensbruder Johannes Lang, möglicherweise in Abstimmung mit den Wittenbergern, veranlasst hat. Die Textgrundlage dieses Drucks bildeten private Mitschriften, nicht die als solche nicht überlieferten, nach der Disputation kollationierten Notariatsakten. Durch ein Freiberger Manuskript – vermutlich eine während der Disputation angefertigte Niederschrift, deren Verhältnis zu den offiziellen Notariatsprotokollen ungeklärt ist – und ein in Leipzig erhaltenes, reich glossiertes Exemplar des Erfurter Drucks werden aber zusätzliche, durchaus authentische Überlieferungsspuren zur Leipziger Disputation greifbar, die punktuell über die bisher bekannten gedruckten Quellen hinausführen.
Der Verlauf der zwischen dem 27 .6. und 3. 7. und am 14. / 15. 7. geführten Disputation (KGK II, Nr. 131) zwischen Karlstadt und Eck, der hier erstmals editorisch dokumentiert wird, ist weitestgehend rekonstruierbar. Zeitgenössische Stimmen bezeugen, dass Karlstadt zum Teil weniger souverän wirkte und sich – gegen Ecks Protest – gedruckter Hilfsmittel bediente. Ein kleiner Eklat ergab sich, als Eck unter Verweis auf den »italienischen Disputationsstil«, auf den man sich geeinigt habe, die Verwendung schriftlicher Hilfsmittel unterbunden sehen wollte. Freilich erwies sich die Frage der Buchverwendung während der Disputation zwischen den Parteien als strittig. Unmittelbar nach der Disputation zeigte sich, dass jede der Parteien Versionen des Wortlauts der Leipziger Disputation an sich zu bringen und im jeweiligen Eigeninteresse zu verbreiten begann. In inhaltlicher Hinsicht ging es in den Disputationsgängen zwischen Karlstadt und Eck um das gnadentheologische Zentralthema des freien Willens. Während Eck eine produktive Kraft des menschlichen Willens zu verdienstlichen guten Werken und ihr Zusammenspiel mit der Gnade vertrat, sah Karlstadt den Menschen lediglich in seiner Fähigkeit zu sündigen als frei an. Allein die von Christus im Menschen gewirkte Gerechtigkeit befähige dazu, ihn aus der Macht der Sünde zu befreien. Mittels verschiedener Traditionszeugen versuchte Karlstadt seine These zu untermauern, dass allein Gottes Gnade zu einem guten Werk wirke. Eck hielt andere Zeugnisse entgegen; strittig blieb vor allem, ob Gott das gute Werk ganz und gänzlich (totum et totaliter) – so Karlstadt – oder ganz, aber nicht gänzlich (totum sed non totaliter) – so Eck – wirke. In der Schlussdiskussion zwischen Karlstadt und Eck insistierte der Wittenberger darauf, dass die maßgeblichen kirchlichen Autoritäten seiner Lehre, dass alles Sünde sei, was immer der Mensch aus eigenen Kräften zu tun unternehme, zustimmten. Für Karlstadt war der Gegensatz zwischen der menschlichen Natur nach dem Fall und der erlösenden Gnade ein unvermittelbarer und totaler. In der Disputation trat die Breite seiner patristischen Argumentationsgrundlagen, die die umstrittene Nutzung schriftlicher Materialien erforderlich gemacht hatte, vor Augen. Dass Karlstadt derjenige unter den Disputatoren gewesen ist, der sich durch intensive Lektüre besonders gewissenhaft auf das große Ereignis vorbereitet hatte, dürfte unabweisbar sein.
Unmittelbar nach der Leipziger Disputation setzte eine kontroverse publizistische Auseinandersetzung um ihre Bewertung ein. Für wachsende Verstimmung der Wittenberger sorgte auch, dass sich Eck in durchaus denunziatorischer Absicht an ihren Landesherrn Friedrich III. von Sachsen gewandt hatte (KGK II, Nr. 132, Beilage 1), worauf dieser antwortete (KGK II, Nr. 132, Beilage 2) und das Schreiben Ecks nach Wittenberg weiterleitete. Karlstadt reagierte, auch im Namen Luthers, zunächst knapp in einem eigenen Schreiben an seinen Landesherrn (KGK II, Nr. 132), in dem er die Schmähung Ecks, er sei als Disputator ungeeignet, zurückwies und den Ingolstädter Kollegen mangelhafter patristischer Kenntnisse wegen bloßstellte. Schließlich antworteten Karlstadt und Luther dem Kurfürsten gemeinsam mit einem Brief (KGK II, 135) und einer Verantwortungsschrift (KGK II, Nr. 134), wobei der Augustinereremit als eigentlicher Verfasser zu gelten hat; sie ist parallel zu seinen Resolutiones der Leipziger Thesen abgefasst. In den gemeinsam von Karlstadt und Luther verantworteten Passagen ging es vor allem darum, Ecks den Ruf der kursächsischen Landesuniversität Wittenberg schädigende Intention offenzulegen. Karlstadt selbst hob hervor, dass die Verteidigung der Ehre Wittenbergs das entscheidende Motiv seiner eigenen Auseinandersetzung mit Eck und der im Sommer 1518 begonnenen öffentlichen Verteidigung Luthers gewesen sei. Auch die Behauptung, er habe Eck im Currus/Wagen direkt attackiert, wies Karlstadt zurück. Luther beurteilte die gesamte Leipziger Disputation als einziges Ärgernis, für das er außer Eck vor allem die dortige Universität verantwortlich machte. Wie sehr sich Karlstadt über Ecks Angriffe geärgert haben muss, scheint in einem scharfen Brief an Spalatin thematisiert worden zu sein, von dem wir allerdings nur durch Luther wissen (KGK II, Nr. 136).
In einem Sendbrief (Epistola, KGK II, Nr. 140) an kurbrandenburgische Amtsträger, der ersten längeren Schrift nach der Leipziger Disputation, behandelte Karlstadt einige seines Erachtens dort nur unzureichend disputierte Themen. Zudem wies er in dieser Schrift die ihm bis dahin bekannt gewordenen Kritiken Ecks und seiner Leipziger Unterstützer zurück. Ins Zentrum der von scharfer Polemik durchzogenen Erörterung rückte erneut Ecks Formel, ein gutes Werk sei ganz (totum), aber nicht gänzlich (totaliter) von Gott. In den öffentlichen Äusserungen des Ingolstädters im Nachgang zur Leipziger Disputation sah Karlstadt einen Verstoss gegen das vereinbarte Publikationsverbot der Leipziger Verhandlungen (vgl. KGK II, Nr. 130). Außerdem stellte er Eck, der ihn wegen seiner Benutzung von Büchern und Aufzeichnungen während der Disputation vorgeführt hatte, bloß, indem er darauf hinwies, dass ihm Dominikaner während der Disputation Spickzettel mit Väter– und Bibelstellen zugesteckt hätten. Neben den methodischen Schwächen seines Gegners rügte Karlstadt dessen schlampigen Umgang mit den patristischen Texten. Erasmus stellte er in der Epistola auf eine Stufe mit dem bedeutendsten Kirchenvater des Westens, Augustin, und bekannte sich zu den editorisch-philologischen Standards des Niederländers. Eck sollte definitiv als Repräsentant des theologischen Ancien Régime der Scholastik dastehen; wie Luther warb auch Karlstadt um die Gunst der Humanisten.
Auch 1519 bestanden Karlstadts Kontakte zu seinem fränkischen Netzwerk (KGK II, Nr. 107; 111; 112, 116; 121; 122; 123; 133) fort. Er hoffte auf diesem Wege weitere Pfründen zu erlangen. In die entsprechenden Bemühungen bezog er den kursächsischen Hof (insbesondere Spalatin und Pfeffinger) ein. Auch die alten Bindungen an das Geschlecht derer von Thüngen spielten dabei weiterhin eine Rolle (KGK II, Nr. 122).
Durch einen an Karlstadt und Lupinus adressierten Widmungsbrief zu seinem Galaterkommentar (KGK II, Nr. 138) bezog Luther seine Fakultätskollegen in geradezu fordernder Manier in seinen sich zuspitzenden Kampf gegen das zusehends apokalyptisch gedeutete Papsttum ein. Für den Weltpriester Karlstadt spielten apokalyptische Deutungsmuster allerdings eine ungleich geringere Rolle als für den Bettelmönch. Die Widmung lässt erkennen, dass Luther – ungeachtet der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Differenzen zwischen seiner und der Kollegen Haltung gegenüber Rom – ein besonderes Interesse daran hatte, die Einigkeit der Wittenberger im Verständnis der paulinischen Rechtfertigungslehre zu demonstrieren. Karlstadt war auch an einer Eingabe beteiligt, die auf die Abschaffung vor allem der thomistischen Lehrveranstaltungen abzielte (KGK II, Nr. 106). Da in dieser Frage allerdings Uneinigkeit innerhalb der Professorenschaft bestand, übertrug man dem Landesherrn die Entscheidung. In demselben Schreiben wird auch das Bemühen um die Bestallung eines Universitätsdruckers greifbar, der auch griechische Texte drucken konnte. Dies war ein wegweisender Impuls, der zu der Einrichtung einer Filiale des Leipziger Großdruckers Melchior Lotter an der Jahreswende 1519/20 und damit zum Aufbau jener leistungsfähigen typographischen Infrastruktur in Wittenberg führte, die die Reformation ermöglichen sollte.
Aus dem Kontext von Karlstadts Wittenberger Predigt- und Lehrtätigkeit des Jahres 1519 hat sich vergleichsweise wenig Material erhalten. Die ihm zuzuschreibende Disputation über die Gesetze der Taten und das Gesetz des Glaubens (KGK II, Nr. 113) weist inhaltliche Parallelen zu den 151 Thesen vom April 1517, zum Augustinkommentar und zum Currus/Wagen auf. Karlstadt insistiert auf einer Fortgeltung bestimmter Teile des Gesetzes und ihrer Erfüllung kraft des Heiligen Geistes bzw. des Glaubens. Diese Thesen zeigen, dass er in enger Verbindung zu den Wittenberger Diskussionen stand, zu denen auch Luther beitrug. In einer aufgrund des handschriftlichen Befundes mit großer Wahrscheinlichkeit Karlstadt zuzuschreibenden Thesenreihe über die Inkarnation Christi und deren Heilsbedeutung für die Wiederherstellung des Menschengeschlechts (KGK II, Nr. 137) werden Fragen der Rechtfertigung, der Willenstätigkeit des Menschen bei der Erfüllung des Gesetzes, der Prädestination und der Taufe behandelt. Im Herbst 1519 traten Vertreter der Wittenberger Fakultät Repräsentanten des Franziskanerordens in einer Disputation (KGK II, Nr. 139) profiliert entgegen. Karlstadt opponierte gegen zwei der insgesamt elf (bzw. acht) Thesen. Während die durchaus tendenziöse, pro-reformatorische Quellenüberlieferung die »«altgläubige’ Position nur rudimentär dokumentiert, stellt sie dar, wie Karlstadt den franziskanischen Ordensbrüdern in den Fragen der Erneuerung der Gnade durch Franziskus und seiner Christomorphie deutlich entgegentrat. Hinsichtlich der Bewertung des Bettels zeichnet sich in seiner Haltung bereits eine Entwicklung ab, die ansonsten erst 1522 quellenmäßig greifbar wird.
Zwischen Karlstadts Disputations-, seiner Predigttätigkeit (KGK II, Nr. 114; 115) und der Diskurskultur in Wittenberg dürfte ein engerer Zusammenhang bestanden haben, als die heutige Überlieferungslage zu dokumentieren erlaubt. Spalatin gegenüber wirkte Karlstadt an Planungen zur Studienreform mit (KGK II, Nr. 116). Zu seinen Aufgaben als akademischer Lehrer gehörte es auch, eigene Schüler auf Pfründen zu vermitteln (KGK II, Nr. 126; 141; 143). Karlstadt beabsichtigte, seine Augustinvorlesung (KGK I.2, Nr. 64) fortzusetzen; dies dürfte vor allem an der mangelnden finanziellen Unterstützung einer Drucklegung durch den Kurfürsten gescheitert sein (KGK II, Nr. 125). Einem verschollenen Widmungsbrief an Kurfürst Friedrich III. (KGK II, Nr. 142; 143) bzw. dem vorsichtigen Agieren Karlstadts in diesem Zusammenhang, lässt sich entnehmen, dass er durchaus unsicher war und seine Position bei Hofe nicht sonderlich gefestigt schien. Vielleicht ist es der mangelnden Resonanz seines Landesherrn geschuldet, dass Karlstadts wohl ambitioniertestes literarisches Projekt, der Augustinkommentar, ein Torso geblieben ist. Die für Karlstadts weitere theologische Entwicklung wichtigste Konsequenz des vor allem durch die Leipziger Disputation geprägten Jahres 1519 bestand darin, dass er sich vertieften Reflex ionen zum »Schriftprinzip« hingab (KGK II, Nr. 143), deren entscheidende literarische Ergebnisse dann im Jahre 1520 greifbar werden.
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